Meine gesammelten Werke: Wie ich die Lage gesehen habe.

Deutschlands Bühnen in der ökonomischen Krise - was auf die Kulturpolitik zukommt

Handelsblatt, 23.08.2024

Ziemlich viel Theater ums Theater

Deutschlands Bühnen in der ökonomischen Krise - was auf die Kulturpolitik zukommt

Handelsblatt, 23.08.2024

Es gibt seit einigen Monaten ziemlich viel Theater ums Theater. Beispiel Erfurt: Defizite in Millionenhöhe, Haushaltssperre, der Intendant soll außerordentlich gekündigt werden. Zuvor hatte die Gleichstellungsbeauftragte der Stadt Fälle von Machtmissbrauch und sexualisierter Gewalt im Musenhaus öffentlich gemacht, war aber entlassen worden.

Beispiel Staatstheater Wiesbaden: fast eine Million Euro minus im Jahr 2023, Abtritt des lang[1]jährigen Intendanten nach Skandalen, viel Zoff mit dem Personal. Ein Bericht der Wirtschaftsprüfer von KPMG offenbarte „widersprüchliche Zahlen[1]werke“ – es gäbe eine „dysfunktionale Gesamtsteuerung in der Leitung und dem Gesamtbudget“.

Und schließlich das Schauspiel Dortmund: eine Auslastung von nur 60,5 Prozent, Streit um angeblichen Rassismus und den Führungsstil der ersten schwarzen Theaterintendantin Deutschlands. Mehrere wichtige Führungskräfte gingen. Was ist los an deutschen Bühnen?

Einerseits wollen sie – wie einst bei Friedrich Schiller – „moralische Anstalten“ sein, andererseits aber sind sie oft kleine oder mittelgroße Unternehmen, die zusehends ökonomisch ins Schlingern geraten.

Es türmen sich Defizite in der Buchhaltung auf und belasten öffentliche Haushalte – und es sind ja gerade staatliche Zuschüsse, die die 142 Stadt-, Staats- und Landestheater der Republik am Leben erhalten. Ist das für die Vermittlung von Kultur in einer strapazierten, polarisierten Gesellschaft so wichtige „System Theater“ überhaupt noch in der aktuellen Form zu halten?

Jüngst erschien im Wissenschaftsverlag Springer Nature ein Buch voller Statistiken, das es in sich hat. Der Theaterwissenschaftler Rainer Glaap hat in „Publikumsschwund?“ über sieben Jahrzehnte hinweg statistisch Dramatisches festgehalten. Danach habe sich – gesamtdeutsch berechnet – die Zahl der Theaterbesuche seit 1956 auf nunmehr 18,6 Millionen fast halbiert, während die Bevölkerung in der gleichen Zeit von 71,4 Millionen auf 83,2 Millionen gestiegen war. Gestiegen war nur die Zahl der Besucher klassischer Konzerte oder von Opern. Brisant auch eine Kennzahl: Der Autor teilt die Zahl der Theaterbesucher durch die Bevölkerungszahl – und kommt so im Boomjahr 1956 auf einen Wert von 0,5, für das letzte Berichtsjahr 2019 jedoch nur noch auf eine mickrige Zahl von 0,22.

Weist dies alles auf eine Legitimationskrise hin? Oder lediglich auf eine Akzeptanzkrise? Dieter Haselbach, 70, überlegt kurz. Er ist Soziologe, aber auch Theaterökonom, und hat 2012 mit drei anderen Autoren in einer viel beachteten Publikation vor einem „Kulturinfarkt“ gewarnt. Ihr gemeinsames Buch – Untertitel: „Von allem zu viel und überall das Gleiche“ – lieferte damals Stichworte zur Krise der Kultur.

Glaaps Fleißarbeit weise „zumindest auf eine Krise, in der die Theater ihr Publikum nicht mehr erreichen“, findet Haselbach nun. Die Kulturhäuser hätten sich daran gewöhnt, ihre öffentliche Förderung „als selbstverständlich zu betrachten und ihre künstlerischen Leistungen untereinander zu verhandeln – ohne genügend auf die Wünsche des Publikums einzugehen“. Die Theater seien „immer am Rande der Überforderung“. Nur rund zehn Prozent der Bevölkerung würden häufiger ein Theater besuchen, ermittelte Anfang 2020 die Universität Hildesheim in einer Umfrage. Seit 1989 sei das Stammpublikum nicht gewachsen, die Zahl der Abonnenten aber weiter gesunken. Es gebe einen kontinuierlichen Publikumsschwund für die öffentlich geförderten Theater, sagt die verantwortliche Professorin Birgit Mandel, das sei eine „schleichende Publikumskrise“. Zwar würden 86 Prozent der Bevölkerung die hohen öffentlichen Zuschüsse derzeit noch befürworten, allerdings seien junge Befragte in diesem Punkt bereits viel skeptischer. Mittelfristig könne es sehr wohl zur Akzeptanzkrise kommen. Was in all den Jahren wuchs, ist der Anteil der Schülerkarten (auf 17,5 Prozent) sowie der „Dienst-, Steuer-, Ehrenkarten etc.“ (ebenfalls auf erstaunliche 17,5 Prozent). Mehr als jede dritte Karte wird demnach nicht zum normalen Preis verkauft, sondern oft verschenkt.

Schock auch beim Badischen Staatstheater Karlsruhe. Es wollte mehr zum Leere-Sitzreihen-Syndrom wissen und ließ das Publikum befragen. Ernüchtert sprach man danach von einer „Zeitenwende“: Die Leute kämen „insgesamt seltener, ausgesuchter, präferenzbasierter“. Drei Viertel des Publikums seien älter als 50 Jahre.

Das alles kann nicht im Sinn der Länder und Kommunen sein, die jährlich insgesamt 4,6 Milliarden Euro für die staatliche Theaterförderung ausgeben. Alarmierend, dass der öffentliche Betriebszuschuss pro Theaterbesuch rechnerisch von 15 Euro in der Saison 1956/57 mittlerweile auf stolze 157 Euro in 2018/19 gestiegen ist – mehr als das Zehnfache. Aktuellere Zahlen gibt es nicht. Im Klartext: Mit immer mehr Steuergeld wird ein Angebot aufrechterhalten, das viele in dieser Form gar nicht mehr goutieren. Die Folge sind wirtschaftliche Schäden. Hier wirkt das Gesetz des US-Ökonomen William J. Baumol (1922 bis 2017), wonach sich persönliche Dienstleistungen – wie Theater – nur begrenzt rationalisieren lassen. Zudem wollen auch freie Bühnen öffentlich gefördert werden oder zumindest mit den Staatshäusern kooperieren.

All diese Herausforderungen lassen eine kulturpolitische Neuorientierung notwendig erscheinen. Künstlerisch top, ökonomisch ein Flop – das ließe sich selbst über das renommierte Deutsche Theater in Berlin sagen. Es wurde 2023 zum „Theater des Jahres“ gewählt. Später stellte sich heraus, dass es just jenes Jahr mit drei Millionen Euro Verlust abschloss. Der Geschäftsführer, der die Defizite nicht korrekt gemeldet hatte, wurde fristlos entlassen und erhielt vor Gericht am Ende nach einer Einigung 165.000 Euro Abfindung zugesprochen.

Ökonomische Fehlentwicklungen hatte schon Johann Wolfgang von Goethe kritisiert. Nichts wäre für das Wohl eines Theaters gefährlicher, als dass die Direktion von größeren oder geringeren Einnahmen der Kasse gar nicht berührt werde und sie in der sorglosen Gewissheit hinleben könnte, das Defizit an Einnahmen „aus irgendeiner anderen Quelle ersetzt zu bekommen“, wetterte der Dichterfürst einst.

„Wenn der Theatermann nicht rechnen kann, ist das Theater in der Krise“, formuliert Experte Haselbach. Er hat schon früher vorgeschlagen, auf dem Theaterticket neben dem offiziellen Preis auch den Betrag der jeweiligen öffentlichen Förderung auszuweisen: „Damit würde klar: Dreimal im Theater ist ein Monat Bürgergeld. Es handelt sich um Umverteilung von unten nach oben.“

Wie aber soll es weitergehen? Was wird aus den vielen kostspieligen neuen Projekten? Oder aus notwendigen Sanierungen? Allein für Kultur wendet der Freistaat Bayern bei Baumaßnahmen beispielsweise mehr als 1,41 Milliarden Euro auf. Sparzwang breitet sich aus. Markus Blume, Minister für Kultur und Wissenschaft, verkündete jüngst, ein geplantes Münchener Konzerthaus solle nicht mehr 1,3 Milliarden Euro, sondern rund 500 Millionen weniger kosten. Bayern sei qua Verfassung Kulturstaat, erklärt der CSU-Politiker, dazu gehöre eine blühende und lebendige Theaterlandschaft. „Mit staatlicher Finanzierung und Zuschüssen garantieren wir die Kunstfreiheit. Und wir ermöglichen damit auch künstlerisches Risiko und künstlerischen Mut jenseits des rein kommerziellen Erfolgs.“ Theaterbesuche dürften kein Luxus sein, sondern seien „ein möglichst niederschwelliges Kulturgut für jeden Geldbeutel“, so der Minister. Allerdings gebe es hohe Tarifabschlüsse und zuletzt stark gestiegene Material- und Energiekosten. Würde der Staat seine Zuschüsse nicht anpassen, würde „unsere Kulturlandschaft nicht mehr blühen, sondern verdorren“.

Eine „Legitimationskrise“ könne sie nicht erkennen, sagt Claudia Schmitz, Geschäftsführende Direktorin Deutscher Bühnenverein. „Die reine Beobachtung und Dokumentation, wie sich Besuchszahlen im Laufe der Jahrzehnte entwickelt haben, trägt wenig zu einem kulturpolitischen Diskurs über die Bedeutung der Theater heute bei. Unsere Gesellschaft hat sich in den vergangenen 70 Jahren grundlegend transformiert.“ Theater und Orchester hätten starke Konkurrenz bekommen.

Der Deutsche Bühnenverein weist darauf hin, dass sich der Betriebszuschuss zwar verzehnfacht habe – das Bruttoinlandsprodukt im gleichen Zeitraum aber vervierzigfacht. Öffentliche Zuwendungen würden primär die Personalkosten decken und Arbeitsplätze sichern. Wegen der Preis- und Tarifsteigerungen sei aktuell sogar die Existenz von Theatern und Orchestern gefährdet. „Gerade in unserer zerrissenen Gesellschaft, in der Menschen den Glauben an die Gestaltbarkeit ihres Lebens verlieren, in der gesellschaftliche Teilhabe erodiert, benötigen wir starke, präsente Bühnen, und das ist nur mit einer angemessenen öffentlichen Förderung möglich“, sagt Schmitz.

Wie aber sieht ein Kritiker wie Haselbach die Lage? Ziel müsse es sein, das Theater im deutschsprachigen Raum internationalen Gepflogenheiten anzupassen. Überall gibt es Compagnien von Schauspielern, die durch die Lande reisen und Gastspiele in öffentlichen Theaterhäusern geben. Diese kaufen die jeweiligen Stücke an. „In einer Modellrechnung ergibt sich, dass die Theater auf diese Weise rund 30 bis 50 Prozent einsparen würden“, sagt Haselbach. Ob er keine Angst vor einer Verflachung der Programme habe, wenn Wirtschaftlichkeit stärker in den Fokus rücke? „Andere Länder zeigen, dass ei[1]ne Programmierung mit hochkulturellen Standards möglich ist. Es gibt aber auch die Möglichkeit, mit drei, vier Stücken den Hochkulturbedarf zu erfüllen und den Raum freizugeben für Populäres, für Innovatives.“

Der erhoffte wirtschaftliche Effekt einer solchen Zäsur: niedrigere Preise. Einige traditionelle, künstlerisch stilbildende Ensembletheater könnten gleichwohl erhalten werden. Ein solches Modell würde Ressourcen einsparen und es erlauben, flexibler auf aktuelle Themen und Bedarfe zu reagieren, glaubt auch Professorin Mandel von der Universität Hildesheim. Es wäre sinnvoll, sich stärker vom Repertoire zu lösen und erfolgreiche Produktionen länger und öfter zu spielen. Bislang würden Theater und Musikeinrichtungen allerdings vorwiegend eine formal hochgebildetes, in der Regel bessergestellte Klientel bedienen.

Hohe öffentliche Fördergelder seien mittelfristig jedoch nur zu rechtfertigen, wenn es den Theatern gelänge, für mehr unterschiedliche soziale Gruppen zu spielen. Schon seit einigen Jahren würden viele Häuser versuchen, sich zu öffnen und etwa Bürgerbühnen auszuweiten – doch solche Transformationen würden ihnen schwerfallen. Man hat festgefügte Strukturen und Abteilungen. Möglich seien auch Theaterbeiräte, besetzt mit den Gruppen, die man neu erreichen möchte, etwa Jugendliche. Mandels Fazit: „Es muss nicht in jeder größeren Kommune das gleiche Stadttheater-Modell mit den gleichen Strukturen geben.“

Doch radikale Vorstöße berühren Interessen und provozieren Widerstand, in diesem Fall bei künstlerisch Verantwortlichen und Gewerkschaften. Aufgrund unkündbarer Verträge würde der Übergang sehr lange dauern und temporär zu hohen Kosten führen. Eine Systemabkehr habe fundamentale Auswirkungen auf die soziale Situation, die oft als „prekär“ bezeichnet werden müsse, warnt der Deutsche Bühnenverein. Versuche, Vorstellungen wie in anderen Ländern im Blocksystem zu spielen („en suite“ oder „Stagione“) hätten sich in Deutschland mit Blick auf die Besuchszahlen als nicht profitabel erwiesen. Auch Kultusminister Blume kann sich einen radikalen Wandel nicht vorstellen. Er lobt „das reiche Erbe unserer Kulturgeschichte – ein Erbe, um das man uns in der Welt übrigens beneidet“.

Als Beleg für Lebensqualität und Identität gilt, dass die deutsche Theater- und Orchesterlandschaft 2014 ins bundesweite Verzeichnis des „im[1]materiellen Kulturerbes“ aufgenommen wurde. Deutschland hat quantitativ die reichste Theaterlandschaft auf der Welt: Jedes zweite Opernhaus ist hier zu Hause, ähnlich sieht es bei den Schauspielhäusern aus. Ja, dieser Status sei „gigantisch“, sagt auch Theaterökonom Haselbach: „Womöglich aber ist es ein zu groß geschnittenes Kleid für den heutigen Bedarf. Indem wir fünf, zehn, vielleicht auch zwanzig Ensemblehäuser umwandeln und feststellen, das Modell funktioniert, könnte daraus eine Bewegung entstehen. Dann lernen Städte voneinander.“

Öffentlich will sich kaum jemand für eine solche Systemrevolution starkmachen. Nach wie vor wird die Qualität von Intendanten und Intendantinnen vielmehr auch danach beurteilt, inwieweit sie öffentliche Fördergelder akquirieren können – gerade in der spielfreien Zeit der Pandemie 2020/21 hat sich manches Theater so ein finanzielles Polster gesichert. Generalreform nötig Viele Theater setzen auf Costcutting und Marketing. So schrumpfte die Zahl fest angestellter Schauspieler zugunsten von Gastakteuren. Und Events und Spektakel sollen andererseits neue Besucher anziehen. Es stellt sich aber immer stärker die Frage, ob die Theater mit ihren Spielplänen die gesellschaftlich relevanten Themen überhaupt rechtzeitig einfangen – und ob sie sich als sozialen Ort fest verankern.

„Ich habe da meine Befürchtungen. Jedes Mal, wenn ich ins Theater gehe, merke ich: Da sitzt ein enger Publikumsaus[1]schnitt von Interessenten, die sich meistens einig sind. Die Artikulationsräume sind inzwischen woanders – schauen Sie, wie Verschwörungstheorien im Netz kursieren. An diese Räume kommt die Institution zur moralischen Erziehung des Menschengeschlechts nicht mehr ran“, sagt Haselbach. Wenn aber Kultur Zusammenhalt leisten solle, müsse man sofort fragen: Wo erreichen wir Leute, die sich für das, was auf der Bühne passiert, interessieren? „In den Konzerten wird nicht gesprochen, und in den Theatern haben wir immer weniger Interessenten“, sagt Haselbach. „Es wäre ein großer Gewinn, wenn wieder mehr Leute ins Theater gingen und miteinander reden würden. Aber es fehlt an der inhaltlichen und organisatorischen Vorbereitung hierauf. Es führt kein Weg an einer Generalreform bei.“

Überaus optimistisch, nach außen hin, sehen viele der politisch Kulturverantwortlichen die Lage. „Netflix macht Nathan natürlich Konkurrenz, aber die belebt ja bekanntlich auch“, sagt Bayerns Minister Blume. In München läge die Auslastung bei den staatlichen Häusern deutlich über 90 Prozent. Und die Theater seien sehr kreativ, auch allerjüngste Besucher zu gewinnen: „Da wird mir nicht bange, wenn ich an die Zukunft denke.“

„Insgesamt befinden sich die Bühnen in einer fortwährenden Transformation, programmatisch wie kommunikativ“, resümiert der Deutsche Bühnenverein, das alles brauche Zeit. Die Zahl der Uraufführungen habe sich in den vergangenen 30 Jahren versechsfacht, die Zahl der Inszenierungen von Klassikern sei kontinuierlich rückläufig. Unter den 25 meistinszenierten Schauspielen fänden sich nur noch 14 Klassiker. Und die Besuchszahlen der Saison 2022/2023 näherten sich deutlich dem Niveau vor der Pandemie an.

Und doch: In der Praxis ist eine Großstrategie des Durchwurstelns zu beobachten. In Erfurt bleibt ein Gutachten zur Aufklärung der Theateraffäre unter Verschluss, die neue Spielzeit steht unter dem Motto „Gemeinsam!“. In Wiesbaden beginnt aus Kostengründen die Spielzeit des Staatstheaters erst Ende September. Zwei neue Intendantinnen wollen Neugier wecken und brin[1]gen den Kinohit „Fack ju Göhte“ als Musical. Und in Dortmund schließlich hält man sich an künstlerische Erfolge: So wurde ein eigenes Jugendstück jüngst mit einem Preis bedacht. Der Titel steht für die Sehnsüchte der kriselnden Theaterwelt: „I wanna be loved by you.“