Chat GPT ist nur ein „Zirkuspferdchen“: Buchautor Andrian Kreye über das Boom-Thema von Wirtschaft und Gesellschaft, den Kampf der Digital-Giganten, das Erbe von Marvin Minsky sowie moderne Kriegsführung mit Palantir. Eine Begegnung im Museum.
Das Bayerische Nationalmuseum in München mit seinen Kruzifixen, Ritterrüstungen und Porzellanfiguren ist ein Ort, den nachmittags gerne Kinder mit ihren kulturbeflissenen Müttern und Großmüttern besuchen. Analoge Welt vom Feinsten. Im Café des Museums redet Andrian Kreye, langjähriger Feuilleton-Chef der „Süddeutschen Zeitung“, über eine ganz andere Welt. Eine, die ihn seit 35 Jahren fasziniert – die des Digitalen. Damals hatte er bei der legendär verblichenen Zeitschrift „Tempo“ als USA-Korrespondent viel mit Popkultur und Kriegen (Mittel- und Südamerika) zu tun, kam aber früh mit Protagonisten von Künstlicher Intelligenz (KI) in Berührung.
Das Thema hat den Journalisten, Buchautor und Hobby-Jazzer nicht losgelassen. Es ist ein bisschen sein „One Trick Pony“. In seinem neuen Buch „Der Geist aus der Maschine“ führt er im schwungvollen, alten „Tempo“-Stil durch die Historie von KI, gegliedert analog zur Menschheitsgeschichte, weshalb die Kapitel etwa „Jäger und Sammler“, „die digitale Antike“ oder „Die Renaissance“ heißen. Der 61-jährige Verfasser schreibt selbst über sein Staunen, wie sich sein Leben in einen „Science-Fiction-Roman“ verwandeln konnte. Aber er bleibt dabei cool, hinreichend kritisch, dem Neuen zugewandt. Eine gute Gelegenheit also, mit ihm zehn wichtige Bergriffe rund um KI und sein Buch abzuklären.
Was soll schon anderes am Anfangs stehen als „Urknall“? Ja, KI sei ein neuer Urknall, findet Kreye, zugleich würden wir den Nachhall vergangener Knallmomente spüren. Auf der einen Seite gebe es eine kontinuierliche Geschichte, die mit Computer-Erfinder Konrad Zuse begann, auf der anderen Seite aber PC, Webbrowser und iPhone als große Zäsuren. Kreye: „Mensch und Maschine sind sich dabei immer nähergekommen. Jetzt ist Chat GPT nur das Zirkuspferdchen für eine große KI-Entwicklung, hinter der sehr viel mehr steht, über das wir nicht reden – weil es immer zu kompliziert oder zu langweilig ist. KI ist kein Werkzeug mehr. Vielmehr verhält und benimmt sich die Technologie selbst, ganz wie ein kundiger Lebensbegleiter.“ Damit könnten wir noch nicht umgehen. Wir würden KI in der Langzeitwirkung unterschätzen und in der Kurzzeitwirkung überschätzen.
Zweites Schlüsselwort: „Vordenker“. Kreye erzählt, wie ihm der US-Forscher Marvin Minsky sagte, dass in Zukunft nicht zähle, wie schnell der einzelne Computer arbeitet, sondern mit wie viel anderen Computern er verbunden sei. Minsky, der 1956 mit anderen den Begriff „Künstliche Intelligenz“ prägte, redete über das World Wide Web, als es das noch gar nicht gab. Für den Pop- und Kriegsreporter Kreye waren das sehr fremde Welten. Er verstand das ebenso wenig wie das Motto „Atoms to Bits“ von Nicholas Negroponte, dem Professor am Massachusetts Institute of Technology (MIT). Prägend sei auch der kalifornische Aktivist Stewart Brand gewesen, der 1972 in einer Reportage über die ersten Videospiele-Schlachten den Lernsatz schrieb: ,Die grundlegende Tatsache der Computernutzung bleibt aber: Müll rein, Müll raus.‘
Zum Thema „Reporterglück“ (und das hatte Kreye) fällt ihm eine Begegnung mit Amazon-Gründer Jeff Bezos ein. Der tiefstapelte bei Tisch, er habe in seiner Karriere alles Mögliche gehabt, also Ideen, Pläne, Visionen, Durchhaltekraft, Geld – aber was er wirklich hatte, sei „Glück“ gewesen: „Das sehen die Leute nie.“ Kreye war 1989 in den USA zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort, alles andere ergab sich. Er benennt das Glück, die alten Notizbücher und Materialien aufgehoben zu haben und erwähnt drei ,Super-Konnektoren‘, die ihm Türen öffneten: den bekannten Literaturagenten John Brockman, die DLD-Gründerin Steffi Czerny und Bruno Giussiani, den Kurator der TED-Konferenzen.
Was die „Symbole“ (nächstes Stichwort) angeht, tut sich eine Schwachstelle auf. Kreye: „Die theokratische Zeit hatte ihre Kathedralen, die Industrialisierung den Eiffelturm, die Weltwirtschaft die „Twin Towers“ in New York. Die digitale Welt jedoch hat kein Symbol, auch keine eigene Ästhetik. Sie ist die erste nicht-räumliche Welt.“ Das Ringgebäude von Apple in Cupertino sei ebenso wenig zum Symbol geworden wie das iPhone. Nur in der Literatur würden die Menschen auf ihrer Symbolsuche fündig. Dort taucht in den Büchern von William Gibson „Cyberspace“ auf oder ist es vom „Surfen“ im Internet die Rede, ein Begriff, den sich eine Bibliothekarin namens Jean Armour Polly ausdachte.
Was fällt dem Buchautor zum Stichwort „Verblüffung“ ein? Das Thema KI verblüffe ihn immer wieder, antwortet Kreye, und das sei ist erst mal positiv: „Ich selbst bin lieber erst begeistert und lasse mich dann vom Gegenteil überzeugen als umgekehrt.“ Die Geschichte der Maschinen – mit dem Prinzip „Immer kleiner, immer schneller, immer billiger“ – komme gerade an ihre Grenzen, fährt er fort. Gleichzeitig steige der Stromverbrauch ins Unermessliche. Daher machten sich Forscher und Firmen nun daran, die neuronalen Netze der KI mit menschlichen Stammzellen nachzubauen. Und gleichzeitig entwickele der Münchener Professor Reinhard Heckel ein Verfahren, um Daten auf DNA für tausende Jahre abzuspeichern. Das bedeute: „Weil wir mit der Technologie an Grenzen stoßen, jetzt gehen wir zurück zur Natur.“ Wirklich verblüffend.
Die Frage nach „Monopol und Maoismus“ mobilisiert Kreye. Er referiert, wie die Politik die Internetfirmen hat einfach machen lassen. „Die Monopolmacht von Google, Facebook und Amazon war nicht geplant, gebremst hat die Entwicklung aber auch keiner.“ Und dann waren so mächtig wie einst die Monopol-Handelsgesellschaft East India Company, die irgendwann mehr Soldaten als die britische Krone hatte. Deshalb habe Joe Biden die Wettbewerbspolitik wiederentdeckt. Kreye geht davon aus, dass KI die bestehenden Monopole beschleunigen werde. Der KI-Prototyp der Deutsche Telekom zeige, wie man künftig per Sprachbefehl die richtige Museums-Ausstellung findet, das Ticket dafür kauft und ein Taxi organisiert. Das alles werde über ein KI-Nadelöhr laufen, das von einem der Internet-Giganten kontrolliert werde. Unterhalb der Monopolmacht spiele sich „digitaler Maoismus“ ab, wie Jaron Lanier das nannte – eine Welt der Anarchie und des Faustrechts. Siehe Social Media.
Was aus den „Hippieträumen“ (siebtes Thema) wurde? Kreye schildert, wie es anfangs in San Francisco viel Begeisterung für digitale Kultur gab. Wie zum Beispiel LSD-Guru Timothy Leary glaubte, so könne eine freundliche, gewaltfreie und die Menschheit verbessernde Gesellschaft entstehen. „Das war auch möglich – bis die Monopole kamen, die von traditionellen Finanzströmen beherrscht werden “, so der Autor: „Auch Facebook wurde erst so richtig fies an dem Moment, als sie an die Börse gingen und Herr Zuckerberg merkte, dass Aktionäre vielleicht wichtiger sind als Nutzer.“ Für die alten Träume stehen Wikipedia, GitHub und Linux.
Zur „Singularität“ (dem Zeitpunkt, an dem Maschinen schlauer sind als Menschen) fällt Kreye nur ein: „Aberglaube!“. Bitte mit Ausrufezeichen.
Bei der Frage nach „Regulierung“ wird`s ausführlicher. Sie können helfen, flankieren, Dinge ordnen. Angst helfe nicht gegen KI, aber ein bisschen der Gesetzgeber. Der „AI Act“ der EU sei ein extrem wichtiger erster Schritt. Wenn aber Sam Altman eine Art Weltatomenergiebehörde für KI fordere, sei das sehr durchsichtig: „Da soll auf einem Level reguliert werden, dass keiner mehr mithalten kann“. Helfen könne am Ende nur ein TÜV für KI: unglamourös, langweilig, bürokratisch. Letztlich müsse eine aufgeklärte Öffentlichkeit KI gestalten. Derzeit sei KI, vor allem in Amerika, Serviceangebot und Bequemlichkeitsmotor. Man könne sie aber auch wie Alexander Kluge mit seinen 92 Jahren sehr intensiv als Wissenskanal nutzen – nicht als Werkzeug, sondern als Herausforderung. „KI fordert heraus, bloß nicht mittelmäßig zu sein. Das ist sie selbst.“
Unser letztes Thema „Krieg und Frieden“ sei sehr heikel, erklärt Kreye. Hier würden gerade allerorten rote Linien überschritten. Die Ukraine sei im Moment ein großes KI-Labor für die Rüstungsindustrie, weshalb sie Russland trotzen könne. Dabei setzte der US-Sicherheits-Konzern Palantir Maßstäbe, der das gesamte Satellitennetz anzapfe und in der Regierung in Kiew „embedded“ sei. Auch seien die Zerstörungen in Gaza so stark, weil die Israelis seit einigen Jahren auf KI gesetzt habe. Für die Politik stelle sich die Frage, ob sie zuerst auf die Ethik schauen solle oder auf die Verpflichtung, das Zeug weiterzuentwickeln, um die Bürger zu schützen. „Das Wettrüsten, das alle immer vermeiden wollten, ist bei KI längst voll im Gange.“
Anderthalb Stunden haben wir geredet. Science-Fiction im Nationalmuseum. Kreye merkt noch an, dass sein KI-Werk kein „Beifang“ sei wie einige seiner früheren Bücher, sondern Herzblutangelegenheit. Und man erfährt, dass der formel- und formulierungsstarke Autor auch im KI-Lenkungsausschuss seines Verlags sitzt, wo es etwa darum geht, die Auffindbarkeit von Texten bei Google via KI zu verbessern.
Die KI, die das aufgezeichnete Gespräch später wiedergab, hatte die Antworten übrigens erkennbar besser verstanden als die Fragen. Der Geist ist aus der Maschine, aber noch gibt es für den Journalismus genug zu tun.