Meine gesammelten Werke: Wie ich die Lage gesehen habe.

Sechs Fragen zur grünen Desillusionierung in der Ökonomie

Internationale Politik, 29.08.2024

Wirtschaft und Weltklima

Sechs Fragen zur grünen Desillusionierung in der Ökonomie

Internationale Politik, 29.08.2024

 

 

„Die neue Zukunftsformel lautet: ESG“

 

Das stimmt nicht mehr. Eine Zeitlang beteten viele Wirtschaftsvertreter diesen Dreiklang aus Environmental, Social und Governance nach, wofür „ESG“ steht – sie befürworteten also eine ökonomische und politische Strategie, die sich um die Umwelt, soziale Fragen und eine gerechte, gut ausbalancierte Unternehmensführung kümmert. Noch immer finden viele Kongresse zu diesem Thema statt. ESG-Kriterien werden lebhaft diskutiert. Manchmal scheint es sich jedoch eher um Beschwichtigungsrituale zu handeln als um lösungsgerechte Veränderungen.

Die Wirklichkeit sieht so aus, dass immer mehr CEOs und die dahinterstehenden Kontrollgremien die ehrgeizigsten Klimaziele längst in der ursprünglichen Form abgeräumt haben. Sie kommen zu teuer. Sie gefährden nicht minder ambitionierte Renditevorgaben. So verschiebt man das Erreichen von ESG-Ziele einfach nach hinten.

Der grüne Umbau der Wirtschaft zählt nicht mehr zu den fünf größten Prioritäten deutscher Topmanager. Das ermittelte jüngst die Unternehmensberatung Horvath bei einer Umfrage unter mehr als 750 Firmen. Wichtiger als die Öko-Bilanz sind demnach nunmehr die Themen Kostensenkung, Cybersicherheit, Fachkräftemangel, digitaler Wandel und Liquiditätssicherung. 2020 hatte die „Ergrünung“ der Wirtschaft noch auf dem dritten Platz rangiert. Heute redet man lieber über Künstliche Intelligenz als über Dekarbonisierung.

Die Trendwende basiert auf veränderten Bedingungen im Energiemarkt. So sind die Öl- und Gaspreise längst nicht mehr so hoch wie beim Ausbruch des Ukraine-Kriegs. Und die Aussicht auf steigende CO2-Preise schreckt nicht mehr wie einst. Der Handlungsdruck fehlt. Für viele geht es jetzt hauptsächlich darum, mit Konjunkturrisiken zurecht zu kommen als mit dem Klimadesaster. Energiepolitik muss inzwischen nicht nur nachhaltig sein, sondern auch Versorgungssicherheit und Wirtschaftlichkeit gewährleisten.

Wie immer in Deutschland ist die wichtige Autoindustrie ein wichtiger Indikator. So galt einst Mercedes-Benz-Chef Ola Källenius als großer ökologischer Vorreiter – schon 2030 wollte er fast nur noch Elektroautos anbieten. Nach zuletzt schwachen Verkäufen in diesem Segment korrigierte der gebürtige Schwede seine Pläne rabiat. Jetzt soll der Absatzanteil elektrifizierter Fahrzeuge zu Ende dieses Jahrzehnts bei nur noch 50 Prozent liegen. „Electric only“? Das war einmal.

Ein weiteres Indiz für den Bewusstseinswandel: Neue fossile Projekte – das Erschließen von Ölfeldern – sind für Ölkonzerne wie Exxon, BP und Shell wieder sehr attraktiv geworden. Weil neue Verbrenner-Autos erkennbar auch in den 2030er-Jahren gebaut und frühere Ausstiegszenarien obsolet werden, sind in den Berechnungen von „Big Oil“ größere Ölkapazitäten notwendig. Eigene innovative grüne Geschäftsmodelle haben an Bedeutung verloren. Im März bekannte Shell, das eigene Erdgasgeschäft auszuweiten und die eigenen Klimaziele abzusenken – mit der bizarren Begründung, es sei so wahrscheinlicher, sie zu erreichen. BP wiederum nahm vom Ziel Abstand, CO2-Emissionen bis 2030 um 35 Prozent zu senken – nun sollen es, recht vage, nur noch 20 bis 30 Prozent sein. Und Exxon stoppte kurzerhand ein Prestigeprojekt zur Herstellung von kohlenstoffarmen Treibstoffen aus Algen. Stattdessen wird die Förderung von Schieferöl in den USA bis 2028 verdoppelt.

Immer klarer zeichnet sich ab, dass die Klimaziele des Pariser Abkommens 2015 verfehlt werden. Vor einigen Monaten hat Armin Nasser, Chef des an der Börse überaus wertvollen Ölkonzerns Saudi-Aramco, die Energiewende bereits als „gescheitert“ erklärt. Die Welt solle „die Fantasie des Ausstiegs aus Öl und Gas aufgeben und stattdessen angemessen in sie investieren, um realistische Nachfrageannahmen zu berücksichtigen“.

Oder nehmen wir Lufthansa. Die Airline hat ihr ursprüngliches Ziel, „Net-Zero“ für 2050, wieder einkassiert. Man wisse ja nicht, mit welchen Technologien und Lösungen das überhaupt zu erreichen sei. So lässt sich der Carrier auch nicht mehr von der Science Based Target Initiative (SBTi) bewerten, einer unter anderem vom World Wide Fund for Nature (WWF) und dem Global Compact der UN gegründeten Organisation, die Gütesiegel für klimabewusste Unternehmen vergibt. 160 Unternehmen sind, wie die Lufthansa, wieder aus der Datenbank rausgeflogen, mehr als 5000 sind noch drin.

In anderen Sektoren der Wirtschaft, etwa Stahl oder Chemie, fehlen wichtige Voraussetzungen, um die geplanten grünen Werke zu errichten. So gibt es kaum grünen Wasserstoff – und wenn, dann zu extrem hohen Preisen. Weil alternative Kraftstoffe fehlen, wollen nun die Betreiber der Kreuzfahrtschiffe Aida und Tui Cruises erst bis 2050 klimaneutral fahren und nicht mehr schon bis 2040.

 

 

„Der Finanzmarkt sorgt für den grünen Umbau“

 

Das bleibt eine Illusion. Mitte der 2010er-Jahre waren es Staatsfonds wie Norges Bank Investment Management aus Oslo oder Pensionskassen wie ABP aus den Niederlanden, die auf „responsible investment“ drängten und ihre Gelder nicht mehr in Umweltverschmutzer, Waffenhersteller, Unternehmen mit Kinderarbeit oder Tabakproduzenten steckten. Firmen oder Staaten, die gegen UN-Normen verstießen, gingen leer aus.

An die Spitze der Bewegung setzte sich dann der weltgrößte Vermögensverwalter Blackrock aus New York, der aktuell ein Vermögen von rund zehn Billionen Dollar verwaltet. Der mit Regierungen und Zentralbanken gut vernetzte CEO Larry Fink postulierte von 2020 an Nachhaltigkeitsziele so lautstark, dass man glauben konnte, er wolle im Alleingang das Weltklima retten. Investitionen sollten stärker an ESG-Kriterien ausgerichtet werden.

Im vorigen Jahr aber ließ sich Fink plötzlich anders vernehmen. Nun warf er den extremen politischen Lagern, links wie rechts, wütend vor, das Kürzel „ESG“ als Waffe zu missbrauchen. Er selbst werde den Begriff nicht mehr verwenden. Die Debatte, so Fink, werde zunehmend persönlich geführt, es gebe Versuche, das „Thema zu verteufeln“. Fink war in die Bredouille geraten. Auf der einen Seite kritisierten Klima-Aktivisten, die Ziele und Aktionen von Blackrock gingen nicht weit genug. Auch stecke der Investor weiter viel Geld in Ölkonzerne. Der eigene Ex-Nachhaltigkeitschef bezweifelte, ob es klug sei, „New Yorker Bankern das Schicksal des Planeten anzuvertrauen“. Weil Blackrock den größten Teil seiner Gelder gar nicht aktiv verwaltet, sondern in passive Indexfonds (ETF) steckt, die Kursbarometer wie den Deutschen Aktienindex nachbilden, handele es sich im Grunde um Etikettenschwindel, kritisierte der bekannte deutsche Vermögensverwalter Bert Flossbach.

Von der politischen Rechten der USA wiederum wurde Blackrock-Maestro Fink als zu „grün“ und zu „woke“ charakterisiert. Mehrere von der Republikanischen Partei regierten US-Bundesstaaten wie Florida, Missouri, Louisiana oder Texas zogen Investmentgelder von der Finanzfirma ab, da dort angeblich Nachhaltigkeit wichtiger als Rendite sei. Blackrock schade US-Konzernen, etwa der Ölindustrie. Angesichts dieser Polarisierung sei ESG zum „schmutzigen Wort“ geworden, Firmen würden es in ihrer Kommunikation vermeiden, so das „Wall Street Journal“. Blackrock selbst spricht mittlerweile lieber von Infrastruktur, in die man investieren wolle.

Mit diesem Kulturkampf endete auch der zeitweilige Boom der ESG-Fonds. Vor allem in den USA gibt es reichlich Desillusionierung. ESG ist in einer existenziellen Krise, glauben einige Finanzexperten. Die Börsenkurse einschlägiger ESG-ETFs stürzten ab.

Zwischen 2016 und Ende 2020 hatte das Volumen der weltweiten Vermögenswerte in nachhaltige Investments von knapp 23 Billionen auf immerhin 35 Billionen Dollar zugelegt – doch 2023 wurden mehr ESG-Fonds geschlossen als neue eröffnet. Das nachhaltige Anlagevolumen liegt jetzt bei rund 30 Billionen. Gestiegene Rohstoffpreise und höhere Zinsen haben die einst so bejubelte Anlage-Art in ihrer Bedeutung relativiert.

Aber auch „Greenwashing“ – falsche Angaben zu „grünen“ Effekten von Produkten – spielt eine große Rolle. So hatte eine Whistleblowerin enthüllt, dass die DWS, die Fondstochter der Deutschen Bank, ihre nachhaltigen Finanzprodukte viel „grüner“ darstellte, als sie wirklich waren. Man nahm es mit den ESG-Kriterien nicht so genau. DWS musste 25 Millionen Dollar an die US-Börsenaufsicht zahlen, die Staatsanwaltschaft führte mehrere Razzien durch.

 

 

 

 

„Wir bekommen ein grünes Wirtschaftswunder“

 

Davon ist wenig zu sehen. Insgesamt war die deutsche Wirtschaft im Jahr 2023 sogar um 0,2 Prozent geschrumpft, aktuell wird für 2024 allenfalls eine leichte Steigerung von 0,3 Prozent prognostiziert. Grüner Wachstumsschub? Fehlanzeige.

Das hatte Olaf Scholz ganz anders angekündigt. Der Bundeskanzler sprach im März 2023 davon, Deutschland werde aufgrund der hohen Investitionen in den Klimaschutz „für einige Zeit Wachstumsraten erzielen können wie zuletzt in den 1950er- und 1960er-Jahren geschehen“. Hier wirkte offenbar der Versuch von „self-fulfilling prophecy“, die Vorhersage soll sich selbst erfüllen. Solcher Zweckoptimismus berücksichtigt allerdings nicht die hohen Anpassungskosten und die erhöhten Energiepreise einer grünen Transformation. Temporär kann es zu Wohlstandverlusten kommen.

Es dürfte sich im Erfolgsfall nicht um ein quantitativ bedeutendes Wachstum wie bei Ludwig Erhard handeln, sondern um ein quantitatives Wachstum, das besondere Schwerpunkte in der Ökologie, der Sicherheit oder der Digitalisierung setzt.

Ein mögliches Boom-Produkt wie die Wärmepumpe wurde rund um ein stümperhaft formuliertes Gesetz sogar so lange heruntergeredet, bis es im Markt ein schlechtes Image bekam. Der Absatzrekord von 2023 (plus 50 Prozent) lässt sich nicht wiederholen. Auch weil ein EU-Aktionsplan für Wärmepumpen verschoben wurde, war der Verkauf der Geräte in 14 europäischen Ländern 2023 erstmals rückläufig, um rund fünf Prozent.

Der von der Bundesregierung bestellte Expertenrat für Klimafragen erklärte, die Ziele gedrosselter Emissionen für Energie, Gebäude, Verkehr und Industrie würden bis 2030 nicht erreicht. Auch für die Zeit von 2031 bis 2040 sei eine „deutliche Zielüberschreitung des Treibhausgasbudgets“ absehbar. Klimaneutralität 2050? Forget it.

 

 

 

 

„Marktwirtschaft hilft gegen Klimaprobleme“

 

Im Prinzip ja, in der Praxis jein. Grundsätzlich können höhere Umweltkosten über spezielle Abgaben und Steuern in die Preiskalkulation von Gütern und Dienstleistungen eingehen. Eine ganz andere Frage ist, wie die Verbraucher und Bürger die damit verbundenen Preiserhöhungen annehmen.

Ein Menetekel ist die 2018 die von der französischen Regierung aus Umweltgründen geplante Erhöhung der Ökosteuern auf Gas und Benzin. Das bewirkte wütende Proteste. Demonstranten zogen sich gelbe Westen an, es kam zu Gewaltexzessen und Szenen wie im Bürgerkrieg. Seitdem gilt die „Gelbwesten“-Gefahr als großes Risiko bei jeder Maßnahme pro Umwelt- und Klimaschutz.

Der französische Ökosteuer-Plan wurde am Ende ganz ausgesetzt. Dabei hatte die Regierung in Paris genau das verwirklicht, wozu Wissenschaftler raten: den Verbrauch von Kohlendioxid stärker zu besteuern. 2018 betrug der CO2-Preisaufschlag in Frankreich bereits rund 45 Euro je Tonne CO2 und sollte bis 2030 das Niveau von 100 Euro erreichen. Deutschland liegt mit einem Satz von 45 Euro im europäischen Mittelfeld. An der Spitze liegen Schweiz (120 Euro), Schweden (115 Euro), Norwegen (84 Euro) und Finnland (77 Euro).

Der bereits Anfang der 1990er-Jahre in nordischen Ländern eingeführte CO2-Steuersatz hat den Vorteil, die Umweltkosten fossiler Energien adäquat abzubilden, Verbraucher zu Verhaltensänderungen zu stimulieren (sie müssten aber davon überzeugt sein) sowie auf diesem Weg hohe Summen an Öko-Gelder für praktische Maßnahmen zu gewinnen.

Firmen haben die Möglichkeit, ihre tatsächlichen (vielleicht schwer zu reduzierenden) Emissionen durch CO2-Zertifikate auszugleichen, also zu kompensieren. Der Anwendungsbereich (bisher Energiesektor und Industriezweige wie Stahl, Chemie oder Zement)) soll ausgeweitet werden, zum Beispiel auf die Luftfahrt, wo Zertifikate bisher kostenlos sind, sowie von 2027 an für Gebäude und Verkehr gelten.

In vielen Fällen haben die Modelle einen rein kommerziellen Ansatz. Oft werden solche CO2-Zertifikate von Zwischenhändlern verkauft. Im Markt zirkulieren viele sehr alte Zertifikate. Sie stammen aus einer Zeit, als die Anforderungen an eine solche Zertifizierungsanforderung weniger streng waren.

Immer wieder gibt es rund um Zertifikate Skandale, zuletzt beispielsweise in der deutschen Mineralölwirtschaft. Sie nutzte sogenannte UER-Zertifikate, um die Klimaschutz-Vorgaben zu erfüllen. Deren Kosten werden auf den Spritpreis aufgeschlagen. Recherchen des ZDF-Magazins „Frontal“ zeigen auf, dass mindestens zehn chinesische Projekte dieser UER-Zertifikate im Wert von mehr als 350 Millionen Euro nicht genehmigungsfähig waren. Die angeblich sauberen Werke in der Provinz Xinjiang gab es entweder nicht oder es handelte sich um alte Anlagen. Von der Konstruktion profitierten Konzerne wie Shell, Rosneft oder OMV.

Vorbei war es mit dem angeblichen Einsparungseffekt von rund 1,5 Millionen Tonnen CO2-Emissionen. Ein solches UER-Projekt war 20 Millionen Euro und mehr wert, denn für jede in China vorgeblich eingesparte Tonne CO2 konnten die Mineralölunternehmen anfangs mehr als 400 Euro in Deutschland kassieren. Das Umweltbundesamt hatte die Fata-Morgana-Projekte in China genehmigt. Die Kontrollen sollen nun verschärft werden. Phantom-Öko-Gutschriften hatte die ARD auch in Peru aufgespürt. Ein angeblicher vor Abholzung zu schützender Wald war gar nicht zu retten, sondern schon an Paranussbauern vergeben. Dennoch konnte ein deutsches Mineralwasserunternehmen durch den Kauf entsprechender Zertifikate mit dem Zusatz „klimaneutral“ werben.

Auffällig auch das Unternehmen South Pole aus Zürich: Die Beratungsfirma hat mehr als 700 Klimaschutzprojekte entwickelt, aus denen sie Konzernen wie Nestlé, SAP und Holcim ihre CO₂-Zertifikate verkauft. Doch nach Recherchen internationaler Medien stellte sich heraus, dass eines der größten Kompensationsprojekte wohl auf brüchigen Prognosen basiert: Ein Großteil von Waldschutz-Zertifikaten rund um das Projekt „Kariba“ in Zimbabwe soll wertlos sein. Bewohnerinnen und Bewohner wurden überzeugt, weniger zu roden. Doch die dadurch bewirkte CO₂-Kompensation sei um ein Vielfaches erhöht – weil die laxen Regeln des Zertifizierers Verra es zuließen. 90 Prozent aller so zertifizierten Waldschutzprojekte seien überschätzt und die Zertifikate damit wertlos, recherchierten die „Zeit“, der britische „Guardian“ und der Reporterpool Source Material. Auch South Pole stellte daraufhin signifikante Abweichungen fest.

Greenpeace kritisiert, der Ausstoß von Treibhausgasen werde durch Zertifikate und Kompensationen bestenfalls neutralisiert. Es gehe aber darum, CO₂-Emissionen drastisch einzusparen. Zudem sei es immens schwierig, Effekte von irgendwelchen Annahmen über Rodungen und Emissionen zu beweisen. Schon vor einigen Jahren kam der US-Forscher Forrest Fleischman zum Schluss, das beliebte Waldaufforsten bringe häufig keinen Erfolg bringe.

Auf Zertifikate setzen vor allem Datenkonzerne wie Google oder Microsoft, die bis 2030 CO2-neutral werden wollen. So gelang es Google, sich von 2007 bis 2022 als sauberer Konzern zu positionieren. Doch weil man sich inzwischen voll auf energiefressende KI konzentriert, war Googles Betrieb 2023 erstmals nicht mehr CO2-neutral. Deshalb setzt die Konzernmutter Alphabet auf ein Startup, das die Abwärme eines Rechenzentrums nutzt, um CO2 aus der Atmosphäre zu holen und einzuspeichern. Das Verfahren heißt Direct Air Capture (DAC). Alphabet bezahlt zusammen mit anderen Firmen bis 2030 insgesamt 925 Millionen Dollar für DAC-Zertifikate.

Als weltweit größter Investor bei CO2-Zertifikaten gilt Microsoft. Laut Bloomberg wurden so mehr als acht Millionen Tonnen CO2 ausgeglichen. Der Softwarekonzern schloss jüngst mit Occidental Petroleum einen Rekordvertrag über CO2-Zertifikate im Wert von Hunderten von Millionen Dollar. Demnach verkauft der Ölkonzern in den kommenden sechs Jahren insgesamt 500.000 CO2-Zertifikate an Microsoft. Möglich macht dies ein geplantes riesiges DAC-Projekt in Texas – an einem Ort namens „Notrees“ (keine Bäume).

Laut der Internationalen Energieagentur werde die DAC-Technologie zwar eine „wichtige und wachsende Rolle“ spielen, allerdings sei sie noch nicht in großem Maßstab einsetzbar. Bei CO2-Zertifikaten sei oft nicht klar, wie viel CO2 wirklich entfernt werde.

 

 

„Die EU sichert den grünen Umbau ab“

 

Das ist alles andere als sicher. 2019 war EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen mit dem Versprechen eines umfassenden „European Green Deals“ angetreten, um das Klima zu retten und bis 2050 in Europa CO2-Neutralität zu erreichen. Mit dem Europäischen Klimagesetz haben sich die EU und ihre Mitgliedsstaaten verpflichtet, die Treibhausgasemissionen bis 2030 um mindestens 55 Prozent gegenüber 1990 zu senken. Das war der Plan.

Inzwischen aber ist die anfängliche Euphorie verflogen. Die Europäische Volkspartei (EVP), zu der von der Leyen gehört, zweifelt am vorgesehenen „Verbrennerverbot“ ab 2035. Nach heftigen Bauernprotesten entfielen die wichtigsten Umweltvorschriften für milliardenschwere EU-Agrarsubventionen oder wurden stark abgemildert. Zwar sinken die CO2-Emissionen insgesamt, aber in keinem EU-Land in ausreichendem Maße.

Illusionär, dass die für Klimaschutz nötigen Investitionen von zusätzlich 620 Milliarden Euro bis 2030 fließen. Es gibt  noch kein Programm für Deiche, Dämme oder Klimaanlagen. Der EU-Klimasozialfonds ist zusammengestrichen worden. Und Strafzölle auf günstige Elektroautos aus China erschweren die Verkehrswende.

Nachhaltigkeit heißt bei der EU-Kommission: Richtlinien. Unternehmen müssen hierzu immer mehr Berichte verfassen, seit Mitte 2024 etwa zwecks einer neuen EU-Richtlinie zur Nachhaltigkeitsberichterstattung (Corporate Sustainability Reporting Directive, CSRD). Sie dient sowohl dem Investorenschutz als auch zur Abwehr von „ESG-Fraud“.  Mit dieser erweiterten Berichtspflicht steigt die Zahl der erfassten Firmen von rund 11.600 auf knapp 50.000. Betroffen sind Großunternehmen, kleine und mittlere Unternehmen (KMU) mit Kapitalmarktorientierung sowie größere Unternehmen aus Drittstaaten.

Die Richtlinie CSRD gehört zum „Sustainable Finance Frameworks“ der EU-Kommission, genauso wie die SFDR (Sustainable Finance Disclosure Regulation) und die EU-Taxonomie-Verordnung. Die SFDR verpflichtet Anbieter von Finanzprodukten, über negative ESG-Auswirkungen ihrer Anlagestrategien zu berichten. Und via Taxonomie werden Kriterien zur Beurteilung der ökologischen Nachhaltigkeit definiert.

Das Murren über den höheren Aufwand ist groß. Die Berichterstattung zur Nachhaltigkeit wird künftig ebenso wie die Finanzberichterstattung extern geprüft, nach von der EU-Kommission festgelegten Prüfstandards und einer eigenen Taxonomie. Die EU plant zudem noch eine Green Claims Directive (GCD). Sie soll Greenwashing bekämpfen und definiert Anforderungen an Umweltaussagen in der Unternehmenskommunikation.

Oft verhindert eine überbordende Brüsseler Bürokratie auch, dass wichtige Vorhaben als „Important Project of Common European Interest“ (Ipcei) anerkannt wird. Die EU-Mitgliedstaaten dürfen nur Projekte mit einem Ipcei-Stempel großzügig fördern.

 

 

 

 

„Ein grünes Europa hängt China und die USA ab“

 

Das ist nicht mehr als ein schöner Traum. International wird Europa zwar nach wie vor als Vorreiter gesehen. Aber die Stimmung auf dem Kontinent dreht sich, das bewies bei der Europawahl der Erfolg der rechtspopulistischen Klimapolitik-Skeptiker. Man müsse und werde umsteuern, verkündet der einstige Grünen-Politiker Matthias Berninger, heute Cheflobbyist der Bayer AG. Er fordert „mehr marktwirtschaftliche Instrumente, weniger bürokratische Auflagen“.

Die globale Konkurrenz ist heftig. Längst ist das Argument obsolet, die EU betreibe als Solist wirtschaftsschädlichen Klimaschutz. Tatsächlich investieren die USA und China inzwischen Milliarden in grüne Technologien, unterlegt mit massiven Subventionen.  Es sieht ganz danach aus, als verliere Europa bei „Green Tech“ den Anschluss. Sonnenkollektoren und Windräder werden mittlerweile in China produziert, energieintensive Unternehmen wandern in die USA ab. Europas Politik basiert auf CO2-Steuern und Regulierung, China und die USA setzen dagegen stärker auf Subventionen und Protektionismus.

China emittiert zwar nach wie vor so viel Treibhausgase wie kein anderes Land. Doch es gibt ernsthafte Hinweise darauf, dass der Staat den Höhepunkt beim Ausstoß von Kohlendioxid erreicht hat. China ist andererseits auch das Land, das erneuerbare Energien so schnell ausbaut wie sonst kein anderer Staat. Allein 2023 brachte das staatskapitalistische System 217 Gigawatt an Solaranlagen ans Netz – das ist mehr, als in den Vereinigten Staaten insgesamt installiert sind. Weil der Anteil der Kohleverstromung in China fällt, könnten in diesem Jahr global die CO2-Emissionen um bis zu 2,5 Prozent sinken, glaubt der Datenanbieter Bloomberg NEF.  Bis 2030 möchte die Regierung in Peking Solar- und Windanlagen mit 1200 Gigawatt Gesamtkapazität installiert haben.

Die Subventionierung von Solaranlagen in China führt zu einem Preissturz (minus 40 Prozent bei fertigen Panels im vorigen Jahr), unter dem die Firmen auf dem Weltmarkt leiden. Deshalb hat die US-Regierung angekündigt, die Einfuhrzölle auf chinesische Solaranlagen auf 50 Prozent zu verdoppeln.

Auch die USA haben in Sachen Klimaschutz aufgeholt. Vorbei schien die Zeit, als Donald Trump 2017 aus dem Pariser Klimaabkommen austrat. Sein Nachfolger Joe Biden machte das Land auf diesem Gebiet zum Pionier – mit dem im Sommer 2022 verabschiedeten Inflation Reduction Act (IRA), einem Gesetz als Subventionsmaschine für Klimaschutz, unterlegt mit fast 400 Milliarden Dollar Staatsgeld. Interessierte Unternehmen erhalten unbürokratische Steuergutschriften. Folge: „Clean Tech“ boomt. Die Investitionen für Elektromobilität, erneuerbare Energien, Batteriezellenproduktion und andere Technologien stiegen 2023 in den USA um knapp 40 Prozent auf 240 Milliarden Dollar. Unterstützt werden auch die Speicherung von CO2 im Boden, die Kernfusion oder Mini-Atomkraftwerke. In Europa dagegen war – bei rund 360 Milliarden Euro an Investitionen – Stagnation zu beklagen.

Falls Donald Trump wieder als Präsident ins Weiße Haus einziehen würde, dürfte er die ohnehin florierenden Geschäfte der „braunen“ Branchen Öl und Gas ankurbeln. ESG wäre unter dem bekennenden Klimawandelskeptiker „out“, auch wenn sich am stürmischen Ausbau erneuerbarer Energien wohl nichts ändern dürfte. Schließlich hat ein republikanischer Staat wie Texas bei der Solarproduktion sogar Kalifornien überholt.

Und Europa? War in puncto Nachhaltigkeit technologisch und wirtschaftlich immer führend, und „jetzt lassen uns andere links liegen, gerade wenn es richtig los geht“, wetterte Lutz Weitscher von der NGO Germanwatch öffentlich. Immerhin aber seien so viele Weichen in Richtung Klimaneutralität gestellt und so viele Investitionsentscheidungen in der Wirtschaft schon getroffen worden: „Da habe ich nicht das Gefühl, der Green Deal kippt jetzt.“ Mag sein. Aber was ist er noch wert?