Meine gesammelten Werke: Wie ich die Lage gesehen habe.

Gespräch mit dem Verleger Manuel Herder über die Angriffe von Amazon, sein Comeback im Buchhandel und den Nutzen von Künstlicher Intelligenz

Handelsblatt, 04. 12. 2023

„Wir waren die ersten, die in den Schwitzkasten genommen wurden“

Gespräch mit dem Verleger Manuel Herder über die Angriffe von Amazon, sein Comeback im Buchhandel und den Nutzen von Künstlicher Intelligenz

Handelsblatt, 04. 12. 2023

Interview in Freiburg in der Zentrale des Verlags Herder, geführt mit Handelsblatt-Redakteurin Claudia Panster.

 

Herr Herder, Ihr Verlag wird in diesem Jahr 225 Jahre alt. Hat das Buch noch eine Zukunft?

Das Buch hat seine Rolle als Informationsleitmedium verloren und ist jetzt im Grunde ein Medium mit hohem Sympathiewert. Es ist nicht mehr das, womit man – mit wenigen Ausnahmen wie Anfang diesen Jahres bei unserem Autor Georg Gänswein – große Wellen erzeugt. Aber die meisten Leute mögen Bücher, das ist entscheidend.

 

Wo sehen Sie die Rolle des Buches in dieser pluralen, zum Teil sehr atomisierten Gesellschaft?

Mittendrin. In Buchhandlungen gehe ich gerne in die Nähe der Kasse und schaue, wer da so in der Schlange steht. Da sind junge Leute, die Mangas und Fantasy-Literatur kaufen. Die Anzahl der Buchkäufer in der Altersspanne von 17 bis 25 hat sprunghaft zugenommen. Das Buch ist eben auch Lebensgefühl und Freizeitgestaltung.

 

Als Sie in den 1990er Jahren als Verleger begannen, gab es zwar das Internet, aber noch nicht das Smartphone. Welchen Einfluss hatte rückblickend die Technologie auf Ihr Geschäft?

Ich habe Ende der 1990er Jahre tatsächlich erklärt, Amazon werde beim nächsten Börsenkrach verschwinden. Megapeinlich, ich weiß. Wenige Jahre später mussten wir eingestehen, dass viele Verlage kurz vor dem Aus standen. Wir mussten uns komplett neu erfinden.

 

Damit verbunden war der massive Angriff eines US-Internetkonzerns auf eine ganze Branche.

Wir waren die erste Branche, die in den Schwitzkasten genommen wurden. Amazon hat ja mit Büchern angefangen. Erst haben sie den Vertriebsweg digitalisiert, dann das Produkt und uns schließlich auch die Kunden weggenommen – es sah zunächst bedrohlich aus.

 

Welche Fehler haben Sie gemacht?

Es dauerte lange, bis ich verstanden habe, dass es nicht reicht, eine Beratung reinzuholen oder Stabsstellen für Digitalisierung zu schaffen. Wir haben angefangen, uns an Start-ups zu beteiligen, damit das Team neue Kollegen bekommt. Von denen nimmt man eher Rat an als vom Chef.

 

Eine Ihrer wichtigsten Beteiligungen ist die an der Verlagssoftware Pondus…

Ja. Pondus hat das Verlagsgeschäft frühzeitig in die Cloud gepackt. Heute geht es dort sehr stark um die die Nutzung von KI in der Verlagsarbeit.

 

Wie arbeiten Sie konkret an Projekten rund um Künstliche Intelligenz (KI)?

Bei Manuskripten wäre es beispielsweise denkbar, sie einmal in die KI zu speisen und dann im geschützten Raum Meta-Texte für spezifische Onlinewerbung zu schaffen: für die Zielgruppe Akademiker zum Beispiel, oder für Senioren, oder für Erzieherinnen unter 35. Bislang machen wir für jedes Buch nur einen Werbetext. Warum eigentlich? Wir könnten auch zehn machen.

 

Können Sie sich ein Buch vorstellen, das komplett von der KI geschrieben wird?

Vorstellen schon, aber ich will es nicht lesen. Wenn der Text von der KI geschrieben ist, kann ihn sich jeder selbst schreiben lassen, dann braucht es kein Buch. Aber dass es die geben wird, ist völlig klar.

 

Und wie nutzen Sie KI für die Verlagsführung?

Noch nicht, aber ich erwarte eine Entwicklung bis hin zum Excel-freien Controlling. Mit Pondus entwickeln wir eine KI, die hilft, genauere Absatzprognosen zu ermitteln. Es gibt jetzt schon Start-ups, die für Kunden Social Media großräumig durch KI scannen lassen. So ermitteln sie Stichworte und sehen, was Zielgruppen gerade beschäftigt. Die Entwicklung ist rasant. Da liegen aber auch Gefahren. Die KI kann ja nicht nur mehr lesen als ein Mensch, sondern auch mehr schreiben und posten.

 

Ein Verlag lebt von Urheberrechten. Und Sie haben es da mit einer Technik zu tun, die keine Urheberrechte beachtet …

Das ist ein Spannungsfeld, ja. Es kann theoretisch jeder kommen und sagen, er habe ein gutes Manuskript. Ich gebe ihm einen Autorenvertrag, und dann kommt raus, dass der Text gar nicht von ihm selbst geschrieben ist. Wer wird dann belangt?

 

Das bedeutet künftig mehr Aufwand in der Prüfung der Autorentexte …

Ja. Das ist wohl so. Wollen Sie einmal herzlich über mich lachen? Vor genau einem Jahr habe ich gesagt, in unserer Branche seien die wichtigsten technischen Errungenschaften mehr oder weniger da, mit Lesegeräten, Hörbüchern und so weiter. Jetzt käme eine Phase von mindestens fünf Jahren ohne große Neuerungen für uns. Wenige Wochen später kam die erste kostenlose Version von ChatGPT auf den Markt.

 

Haben Sie die KI schon mal gefragt, welches Buch Sie verlegen sollen?

Nein, aber das kann ich ja gleich mal machen…

 

… er blickt auf seinen Bildschirm und tippt. Es dauert nur einen kurzen Moment …

 

…einer der Vorschläge lautet „Unsere Welt verstehen – ein kindgerechter Leitfaden durch das 21. Jahrhundert“. Na ja. Am Ende steht und fällt ein Buch mit der Autorin oder dem Autor. Das zeichnet uns aus, wir waren schon immer ein Autorenverlag.

 

Nicht nur die Zahl der Leser, auch die der Kirchengänger sinkt rapide. Wird das theologische Buch in Ihrem Sortiment – Standard von Anfang an – immer weniger bedeutend?

Ende der 1990er-Jahre hieß es: Keine Feier ohne eine Rede von Kardinal Lehmann. Das hat sich geändert. Das zeigt sich auch in den Gemeinden, die wir mit Kursen für Kommunion, Firmung oder Konfirmation bedienen. Die Nachfrage sinkt.

 

Ihre Folgerung?

Nur, weil sich jemand nicht mehr von einer bestimmten Institution angesprochen fühlt, heißt das ja nicht, dass ihn grundlegende Fragen des Lebens und der Spiritualität nicht mehr interessieren. Für solche Menschen wollen wir da sein. Anselm Grün beispielsweise geht genau auf die neue Zeit ein, seine Sprache ist nicht klerikal, sie ist normal.

 

Eines Ihrer erfolgreichsten Bücher 2023 ist allerdings das eines Fußballers.

Ich müsste nachschauen, ob Nils Petersen tatsächlich mehr verkaufen konnte als Georg Gänswein. Georg Gänswein war auf Platz 1 der Hardcover-Bestsellerliste, Nils Petersen auf Platz 2 der Paperback-Bestsellerliste. Da „Bank-Geheimnis“ von Nils Petersen als Paperback einen niedrigeren Verkaufspreis hat, dürfte umsatztechnisch die Sache klar sein.

 

Wie wichtig ist das Weihnachtsgeschäft noch?

Sehr, Bücher sind das schönste und individuellste Geschenk, das man machen kann. Und spirituelle Bücher – auch da ist unser Verlag stark – werden weiter intensiv nachgefragt. Da gibt es interessante Entwicklungen. Von Anselm Grüns Bücher über Engel haben wir weit über eine Millionen Exemplare verkauft.

 

Zur Konstante gehört auch das Herausgeben von Politikerbüchern. Prominenz der Autoren spielt offenbar eine immer stärkere Rolle.

Ja, wir haben das Programm verdichtet, um uns mehr auf die einzelnen Titel konzentrieren zu können. Prominente Autoren führen wir seit Jahren. Wir hatten vor vielen Jahren schon Gerhard Schröder, Norbert Blüm oder Friedrich Merz. Franz Müntefering landete als früherer Ministrant fast zwangsläufig bei uns. Derzeit führen wir Carsten Linnemann oder Thomas Sattelberger im Programm. Generell glaube ich aber, dass die nächsten Politiktitel weniger von Prominenz geprägt sein werden als vielmehr von dem Sachverhalt, dass wir in diesem Land Gedankengebäude aus Annahmen aufgebaut haben, die so nicht mehr stimmen.

 

Also kein „Hoffnungsland“, wie der Buchautor Olaf Scholz vor Jahren formulierte? Eher „Sanierungsland“?

Ja. Es spricht doch Bände, dass die Schweiz darüber diskutiert, weniger deutsche ICE-Züge ins Land zu lassen, weil sie so unpünktlich sind. Und das ist doch nur ein Beispiel. In diesem Land ist dringend einiges in Ordnung zu bringen.

 

In 225 Jahren Verlagsgeschichte gab es bei Herder erst sechs Generationen. Man blieb lange im Amt. Sie haben vor zwei Jahren – schon mit Mitte Fünfzig – die Entscheidung getroffen, sich aus dem operativen Geschäft in die über allem schwebende Holding zurückzuziehen?

Ich bin mit 26 in die Geschäftsführung gekommen. Irgendwann war ich nicht mehr der Jüngste und sagte mir: Der Verlag war immer jung, er soll es wieder werden. Deshalb der frühe Generationenwechsel. Ich fühle mich damit wohl, auch wenn es gelegentlich in mir kribbelt.

 

Jetzt sind Sie als Holding-Geschäftsführer eine Art „Chairman“.

Ich bin froh über unsere Struktur, denn ich kann zu strategischen Fragen wie KI arbeiten, ohne das Geschäft zu vernachlässigen. So wie es jetzt ist, ist es gut. Was kommt, das wissen wir nicht.

 

Ihre vier Kinder und ein Neffe haben im Verlag als Trainee gearbeitet. Hätten Sie mit dem Rückzug noch etwas gewartet, wäre der Nachwuchs in der Lage gewesen, in jungen Jahren zu übernehmen?

Unsere jetzige Lösung ist entspannt. Die wirtschaftliche Unabhängigkeit ist gesetzt. Niemand schaut mich an und fragt: Wie lange machst Du das noch? Unsere Verlagschefs Simon Biallowons und Philipp Lindinger sind Ende Dreißig und Anfang Vierzig, das hat Stabilität. Die siebte Herder-Generation kann in aller Ruhe überlegen, wann sie wo einsteigen will. Nach dem Studium werden sie sicherlich nach dem nächsten Schritt fragen.

 

Wenn man sich Ihren Kampf gegen Amazon anschaut – sind Sie nicht zum wirklichen Gegenspieler erst durch den Buchhandel geworden, durch den Kauf des Marktführers Thalia im Jahr 2016?

Das war für uns als Familie eine Riesenchance, unternehmerisch auf ein anderes Niveau zu kommen. Ich habe davor aber nicht gegen ein bestimmtes Unternehmen gekämpft, sondern dafür, aus der Bedrohung durch den digitalen Wandel ein Chance zu machen.

 

Der Thalia-Marktanteil liegt inzwischen nach einer Fusion und einer Kooperation bei rund 24 Prozent. Sie sind Mehrheitseigentümer. Und der Gewinn von Thalia ist so groß wie der Umsatz des Verlags. Korrekt müsste man vom Herder-Thalia-Konzern sprechen.

Die beiden Unternehmen werden gesellschaftsrechtlich komplett getrennt voneinander geführt, man kann also nicht von einem Konzern sprechen. Als wir bei Thalia eingestiegen sind, hatte die Firma mehr Buchhandlungen als Herder Mitarbeiter. Das Risiko hat sich gelohnt, alle Schulden sind zurückbezahlt.

 

Angesichts von zehn Prozent Umsatzrendite bei Herder und zuletzt 1,8 Milliarden Euro Umsatz bei Thalia kann man bei Ihnen von Buchkrise kaum sprechen.

Gut, wenn Sie mir das sagen. Zahlen kommentiere ich im Einzelnen nicht.

 

Und Sie bauen Thalia weiter aus, haben im November eine große Filiale in Nürnberg eröffnet …

Ja, der Umbau des Buchhauses in Nürnberg hat sich gelohnt. Zu Thalia gehören mehr als 500 Buchhandlungen und das Unternehmen versteht sich als ein Buchhändler, der alle Kanäle bedient. Wenn Thalia eine Buchhandlung eröffnet oder übernimmt, steigt im Umkreis von 20 bis 25 Kilometern der Onlineumsatz an. Der CEO von Thalia, Ingo Kretzschmar, will möglichst viele Nichtleser zu Lesern machen. Das finde ich klasse. Dafür muss das Sortiment so gestaltet sein, dass jeder gern in die Buchhandlung kommt. Deshalb hat Thalia zu rund einem Viertel auch buchnahe Sortimente im Programm, wie Spiele, Papeterie oder Lesebrillen.

 

Warum sollten die Leser ein Buch bei Thalia und nicht bei Amazon kaufen?

Ich sage niemandem, wo er kaufen soll. Die meisten Menschen kaufen lieber bei der Buchhandlung um die Ecke oder bei einem der großen Anbieter vor Ort. Beides ist mir recht. Leser mögen Vielfalt, die muss man bieten. Die Zahl der Buchkäufer wird weiter zurückgehen, hier macht sich der demographische Wandel bemerkbar, aber im Durchschnitt wird mehr gekauft.

 

Benjamin Herder, der Sohn des Gründers, hat 1847 verkündet, ihm ginge es nicht um Gelderwerb, sondern um „Förderung der Wissenschaft und guten Sache“. Was ist Ihr verlegerisches Ethos?

Wenn für einen Verlag der kurzfristige Gewinn wichtiger wird als die Inhalte, dann wird er langweilig. Wir haben in unseren Fachgebieten unterschiedliche Pole gegeneinanderstehen: Joseph Ratzinger und Hans Küng, Montessori und reguläre Pädagogik. Das macht unsere Leidenschaft aus. Aber natürlich muss man auch darauf achten, dass zwei und zwei im Einkauf drei und im Verkauf fünf bedeutet. (Lacht)

 

 

Vita:

 

Der Unternehmer

 

Manuel Herder ist 1966 als jüngstes von vier Kindern geboren. Von 1999 bis 2021 war er geschäftsführender Gesellschafter des Herder Verlags und leitete diesen in sechster Generation. Seit März 2021 zog er sich aus dem operativen Geschäft zurück, fungiert aber weiter als Verleger. Der Verlag ist an rund zehn Start-ups beteiligt. 2016 kaufte Herder gemeinsam mit einem Eigentümerkonsortium die Buchhandelskette Thalia.

 

Der Verlag

 

Der Verlag Herder feiert in diesem Jahr seinen 225. Geburtstag und ist damit einer der ältesten Verlag Deutschlands. Am Stammsitz in Freiburg arbeiten knapp 160 Mitarbeiter, dazu gibt es kleinere Standorte in München und Berlin. Der Verlag ist Spezialist für theologische Bücher, dazu veröffentlicht er Bücher in den Bereichen Spiritualität, Erziehung, Politik und Gesellschaft.  Der Verlagsumsatz von liegt bei etwa 30 Millionen Euro im Jahr.