Als im Kapitalismus der 1960er-Jahre der Konsum heiliggesprochen wurde, waren Werber so etwas wie die Hohepriester des Systems. Die besten von ihnen saßen in Agenturbetrieben auf der Madison Avenue in New York, Männer in schnittigen Anzügen, umringt von dienenden schönen Frauen in kurvenbetonenden Kleidern. Man paffte, trank, kopulierte und palaverte sich so durchs Leben, alles ziemlich „mad“, was dann im US-amerikanischen Fernsehen von Juli 2007 bis Mai 2015 eine Serie kultivierte, die längst Kultstatus erreicht hat: „Mad Men“.
Wahrheit ist hier Definitionssache, und der Wahrheitssuche dienen am besten ein Glas Whisky und eine Packung Lucky Strike. Unentwegt wird darüber geredet, wie man Medien am besten manipulieren könne.
Wenn Arte das grenzgeniale Reklameding nun von Freitag an in allen 92 Folgen streamt (bei Netflix fliegt die Serie raus), rückt die alte Madison-Avenue-Welt der Hauptfigur Don Draper (Jon Hamm) wieder in den Mittelpunkt. Der virilste aller Schwerenöter leidet in der Serie ständig unter dem Wahn, keinen Einfall mehr zu haben für seine auf Abverkauf lechzende Kundschaft, ein promisker Hochstapler unter der Anspannung, womöglich bald enttarnt zu werden. Die Liebe der amerikanischen Frauen zu Nylons sei nur eine Erfindung von ihm, doziert der Creative Director einmal, und natürlich geht es im Agenturalltagsleben oft darum, dank Werbung ein richtiger Mann zu sein, weil man zur richtigen Zigarette greift, so tödlich die Ware auch sein mag.
Die „Mad Men“ sind heute nun mal „Math Men“
Überlegt man kurz, wer im Werbe-Deutschland wohl die „Mad Men“ waren, kommt man für die 1960er- und 1970er-Jahre auf Namen wie Charles Wilp („Sexy-mini-super-flower-pop-op-cola – alles ist in Afri-Cola“) und Michael Schirner aus Düsseldorf, oder später auf Konstantin Jacoby aus Hamburg und eben auf jenen Jean-Remy von Matt, der gerade seine Biografie mit dem vielsagenden Titel „Am Ende“ vorgelegt hat. Der 72-Jährige kompostiert darin seine alten Heldengeschichten, etwa, wie er in der Sparkassenwerbung Männer prahlen ließ („Mein Haus, mein Auto, mein Boot“), in die Welt der Saturn-Märkte „Geiz ist geil“ hinausposaunte oder mit Ende 50 für einen Wäschefabrikanten nur mit Slip bekleidet in der Werbeanzeige posierte.
Einmal schreibt er von seinem „Durchschittspenis“, weil Durchschnittliches in der vorherrschenden Alltagskultur (mit viel „zu groß“ und „zu klein“) nun mal den Unterschied mache. Am Ende: ziemlich viel Don-Draper-Dröhnung.
Mit dem „Spiegel“ hat Jean-Remy von Matt aktuell lange, aus gegebenem verkäuferischem Anlass, über sein Buch und sein Leben und die Werbung überhaupt geredet, die „im Moment tatsächlich einen Hänger“ habe. Die „Mad Men“ sind heute nun mal „Math Men“, die über die richtigen Algorithmen in Social Media Käuferverhalten steuern. Irgendwann preist sich Jean-Remy von Matt in dem Tell-it-All-Interview dafür, Anfang 2023 jenen Claas Relotius als Werbetexter eingestellt zu haben, der just für denselben „Spiegel“ zuvor seine so originellen und deshalb preiswürdigen Reportagen mit verdammt viel Baron-Münchhausen-Fantasie ausgeschmückt hatte, was 2018 zum Rausschmiss führte.
Nun also eine neue Karriere des Kreativen, vom Writer zum Copywriter: Der Erfinder von Geschichten ist somit wieder Erfinder von Geschichten, schöner könnte sich das ein TV-Serienschreiber nicht ausdenken.
Das Dumme ist nur, dass Journalisten – bei aller Fehlbarkeit – der Wahrheit möglichst nahekommen wollen, während Werber ein Produkt zur höheren „Wahrheit“ machen, folglich von „Doping für die Haare“ reden und solchen Sachen. Die einen hinterfragen Realität, die anderen loben sie aus. Beide texten, aber in ganz anderem Auftrag. Fakten sind nun mal keine Fiktion. Werbung kann sagen: Hässlich ist schön, Journalismus jedoch muss sagen: Hässlich ist hässlich. In einem langen Interview erklärte Relotius 2021, er habe durch sein manisches Schreiben versucht, Phasen von Realitätsverlust und psychotische Zustände zu kontrollieren. Das sei verantwortungslos gewesen.
Und doch fühlt sich sein neuer Arbeitgeber, der Protagonist von der Agentur Jung von Matt, höchst verantwortungsvoll verpflichtet, im Wahrheitssuchorgan Spiegel seinen 39-jährigen Mitarbeiter Relotius („großes Talent, ein wirklicher Kreativer“) gegen die Medienbranche zu verteidigen. Er fände es scheinheilig, so der Autobiograf, wie der Ex-Reporter an den Pranger gestellt, wie alle Sünden des Journalismus der letzten Jahrzehnte auf ihm abgeladen worden seien: „Für mich ist er kein Betrüger. Er ist halt übers Ziel hinausgeschossen.“ Ein „Berufsverbot“ sei da hart. Und: Wäre Relotius nicht aufgeflogen, könnte sich das Publikum des Spiegel immer noch „über die tollen Geschichten von diesem Starjournalisten freuen“.
Ja, klar, wären Kujau und der Stern 1983 nicht aufgeflogen, würden sie sich in der rechtsextremen Szene heute vermutlich abends die Hitler-Tagebücher gegenseitig vorlesen und „Schtonk!“ wäre nie ins Kino gekommen.
Das Ganze, eine kalkulierte Provokation, ist tatsächlich so marketingtechnisch tolldreist, dass sich die Balken biegen, die Nasen ganz lang werden und sich der alte Hausslogan „Spiegel-Leser wissen mehr“ posthum in „Spiegel-Leser träumen mehr“ verwandeln müsste.
Auch Journalisten können provokativ, ja manisch sein. Entscheidend ist, wie sie ihr Handwerk verstehen.
Wir wissen nicht, was der begabte Herr Relotius in den letzten Jahren im Auftrag von wem auch immer aufgetextet hat (selbst Robert Habeck und die Grünen waren Agenturkunden); doch wir wissen, dass beispielsweise seine Bürgerwehr im Süden der USA nahe der mexikanischen Grenze auf Migrantenjagd nicht so schießwütig war, wie er insinuierte und dass er die „Jäger“ persönlich nie getroffen hatte; auch mit dem Mann, der angeblich tot war, aber lebte, hat er – anders als angegeben – nie gesprochen; und in den südpazifischen Inselstaat Kiribati, über den er etwas für eine Klima-Titelstory fabrizierte, war er erst gar nicht angereist. Das alles fand später eine vom Spiegel eingesetzte Kommission heraus.
Klarer Fall: Die bezahlende Leserschaft wurde getäuscht. Über das Ziel Aufklärung schießt so einer wie Relotius nicht hinaus, er erschießt es kurzerhand. Der Mann bediente Klischees und ein ausgedachtes Drehbuch.
Am Rande sei erwähnt, dass vor elf Jahren der Drehbuchautor der ARD-Dokumentation zur „Spiegel-Affäre“ die damals 1962 in Hamburg waltende Anzugsgesellschaft des Nachrichtenmagazins auch flott als „Deutschlands ,Mad Men‘“ bezeichnet hat. Rudolf Augstein und seine Redakteure seien in vieler Hinsicht „Verrückte“ gewesen, die sich im formierten Wirtschaftswunderland mit der Obrigkeit anlegten – und die seinerzeit die Mission einte, den CSU-Allgewaltigen Franz Josef Strauß als Bundeskanzler zu verhindern. Auch Journalistinnen und Journalisten können provokativ, störrisch, ja manisch sein. Entscheidend ist, wie sie ihr Handwerk verstehen und verrichten.
Jean-Remy von Matt, der ein ganz anderes Handwerk betreibt, referiert dann noch im Spiegel über die „Schöne Unwahrheit“ in der Werbung, die Menschen träumen lasse wie Hollywood, während auf der anderen Seite die „hässliche Unwahrheit“ Information mit Manipulation vermenge. So was aber auch. Mehr dazu bei Don Draper und seinen qualmenden „Mad Men“. Wo so viel Rauch ist, ist auch Feuer.

