Meine gesammelten Werke: Wie ich die Lage gesehen habe.

Gespräch mit Eon-Chef Leonhard Birnbaum und Kulturintendantin Katrin Zagrosek über Festivals, Sponsoring und Wirtschaft

Handelsblatt, 26.04.2024

„Unternehmergeist ist Pflicht“

Gespräch mit Eon-Chef Leonhard Birnbaum und Kulturintendantin Katrin Zagrosek über Festivals, Sponsoring und Wirtschaft

Handelsblatt, 26.04.2024

HB: Frau Zagrosek, Herr Birnbaum, Sie kommen aus ganz unterschiedlichen Welten. Einmal die der Hochkultur und dann die der Ökonomie, wo die richtige Gewinnzahl den richtigen Ton setzt. Was denken Sie über die jeweilige Sphäre des anderen?

Katrin Zagrosek: Wenn man ein privat finanziertes Festival verantwortet, ist Unternehmergeist Pflicht. Für die Kosten, die Auslastung von Konzerten und die Herkunft der nötigen Finanzmittel habe ich mich schon früh interessiert. Ich studierte zwar Musik- und Kulturwissenschaften, den Wirtschaftsteil in Zeitungen habe ich gleichwohl nicht überschlagen.

Leonhard Birnbaum: Ich war auch nicht immer in der Sphäre der Ökonomie unterwegs; zu den Finanzahlen bin ich erst spät gekommen. Ich wollte einmal Archäologe werden, dann wurde es aber ein Ingenieurstudium. In meinen jungen Jahren hatte ich eine Freundin, die Schostakowitsch liebte – damals war ich öfter in Schostakowitsch-Konzerten als in der Diskothek. Wenn ich heute auf Roadshow in New York bin, versuche ich immer, ins Metropolitan Museum zu gehen – und wähle mir dort bewusst einen einzigen Saal aus. Egal, ob Architektur, Skulptur, Malerei oder Musik: Wenn es richtig gut ist, kann man da immer etwas mitnehmen.

HB: Konzerne wie Eon richten sich zuerst nach dem Shareholder-Value. Einer Kulturinstitution geht es zuvörderst um ästhetische Belange.

Zagrosek: Aber beide Unternehmungen liefern Energie. Der erste Raum im Leben ist der private, der zweite der berufliche und der dritte Raum ist die Freizeit, in der wir uns regenerieren. Dort inspiriert Musik, regt auf, beruhigt – die emotionalen Reaktionen hängen jeweils sehr von individuellen Vorprägungen ab. Auf jeden Fall holen sich die Menschen im Konzert die Kraft, um den Alltag zu schaffen und sich zu sortieren, gerade in solchen krisenbehafteten Zeiten.

Birnbaum: Ich glaube, der in der Frage aufgeworfene Gegensatz stimmt so nicht. Natürlich müssen wir als größter europäischer Betreiber von Energienetzen für unsere Shareholder einen Return erwirtschaften. Sonst vertrauen Sie uns nicht ihr Kapital an. Aber wir brauchen mehr als Shareholder Value. Keiner unserer 70.000 Mitarbeiter wird dauerhaft dadurch motiviert, dass wir eine bestimmte Finanzkennziffer erreichen.

HB: Beim diesjährigen Klavier-Festival Ruhr, der größten Veranstaltung ihrer Art, ist Eon Hauptsponsor. Ist solche Kulturförderung auch ein Teil dieser Geschichte, die Sie erzählen wollen?

Birnbaum: Ja. Großunternehmen sollten versuchen, in ihrem Umfeld Dinge zu ermöglichen. Dinge, die sonst nicht funktionieren würden. Außerdem sollte es für Mitarbeiter attraktiv sein, in Essen zu arbeiten. Es tut einer Region gut, wenn wir Sachen auf Weltklasseniveau haben. Das strahlt ab. Als Vorstand von E.ON bin ich glücklich, hier ein Ausrufezeichen zu setzen.

Zagrosek: Die zwischenmenschliche Beziehung zu Sponsoren und Förderern ist intensiver als die zu einer Behörde, die Kultur unterstützt. Es bedeutet einerseits mehr Risiko, nicht am Tropf öffentlicher Förderung zu hängen, erlaubt andererseits aber auch mehr Agilität und Flexibilität.

HB: Ist das ein Deal, bei dem der eine Geld gibt und der andere Ideen, die für Aufmerksamkeit sorgen?

Birnbaum: Ich habe schon lange privat das Klavier-Festival gefördert, bevor ich überhaupt Vorstand bei Eon wurde. Wirkliches Engagement heißt, eigene Ressourcen einzubringen – Zeit und Geld, wenn man es sich leisten kann. Zivilgesellschaft heißt nicht, sich alles vom Staat bezahlen zu lassen. Aber natürlich liegt jedem Sponsoring ein Vertrag zugrunde, der Leistung und Gegenleistung definiert.

HB: Also ein Deal.

Birnbaum: Aber es ist keine strikt kommerzielle Abwägung nach dem Motto: Wie kann ich so meine Produkte besser vermarkten? Das wäre angesichts von insgesamt 40.000 Konzertbesuchern vermessen. So viele Leute gehen in ein einziges Fußballspiel. Ich bekomme für mein Geld etwas zurück, weiß aber nicht genau, was.

HB: Frau Zagrosek, können Sie ihm sagen, was er bekommt?

Zagrosek: Einen tollen Imagetransfer. Am Abend eines Konzerts wie beispielsweise mit Igor Levit, das Eon exklusiv sponsort, schaffen wir mit unserer Dramaturgie und unseren Künstlern einen Rahmen, den es kein anderes Mal gibt. Da kann der Sponsor – je nach Prioritäten – mit seinen Mitarbeitenden, Führungskräften oder Kunden auf lockere Weise fernab des Schreibtischs zusammenkommen. In diesem Setting kann man entspannter über Themen ins Gespräch kommen, die letztlich wieder fürs Geschäft relevant werden. Das bestätigen mir viele Sponsoren.

HB: Nichts ist beim Fußball schlimmer, als Gäste des Sponsors, die in der Business Lounge nach der Halbzeit lieber weiter übers Geschäft reden, als sich das Spiel anzuschauen.

Zagrosek: Keine Angst, die meisten der Gäste bringen die Mindestvoraussetzung mit, sich für Musik zu interessieren. Musik erreicht jeden. Es gibt keine hohen Schwellen oder Hürden. Man muss sich nicht auskennen, um ein Konzert zu genießen. Man muss sich nur die Zeit nehmen und eventuell für einige Zeit bereit sein, mal nicht aufs Smartphone zu schauen.

Birnbaum: Kann ich bestätigen. Ich habe einmal unsere 400 Top-Führungskräfte auf einer Veranstaltung mit einem Klassikkonzert überrascht. Ich habe noch nie so viele positive Rückmeldungen bekommen.

HB: Frau Zagrosek, ihr Vorgänger Franz Xaver Ohnesorg war 28 Jahre lang Intendant. Wie tritt man in solche Fußstapfen?

Birnbaum: Falsches Bild! Es müssen jetzt andere Spuren gelegt werden.

Zagrosek: Richtig: Meine Schuhe passen auch so gar nicht in die Fußstapfen von Ohnesorg! In der Ruhe liegt die Kraft. Je größer die Herausforderung wird, je näher der Termin kommt, desto ruhiger werde ich. Und mir steht ein erfahrenes Team zur Seite. Ich setze meine persönlichen Akzente, die von meiner Biografie abgeleitet sind. Zum einen bespielen wir Säle, die schon immer bespielt wurden mit arrivierten Namen, die gute Kartenverkäufe garantieren. Das andere ist, Neues auszuprobieren, in Risiko zu gehen. So spielen wir 2024 neu in Gelsenkirchen und starten eine neue Reihe „Klavier und Elektronik“: Tolle Künstler wie Francesco Tristano oder Michael Wollny werden hier auftreten.

HB: Sie werben dafür sogar mit YouTube-Videos. Erreichen Sie so die jüngere Tiktok-Generation? Oder vergrätzen Sie nicht vielmehr das Mozart-Stammpublikum, das das alles für „neumodischen Kram“ hält?

Zagrosek: Derzeit holen wir eher noch die „alten Hasen“ ab. Mein Ziel ist es, mehr Menschen aus der Altersgruppe 30 bis 50 zu erreichen. Das Klassikpublikum aus dieser Altersgruppe soll nachwachsen. Und die Über-60-Jährigen sind mir wirklich sehr lieb und teuer. Das ist in unserer Gesellschaft eine starke Gruppe.

Birnbaum: Auch der im November 2023 verstorbene Vorgänger Ohnesorg wollte den Übergang schaffen. Als wir vor zwei Jahren den Wechsel besprachen, sagte er, es sei Zeit, dass inhaltlich etwas Neues komme. Es ist wichtig, dass man nicht erstarrt.

HB: Das Klavierfestival will auch neue Milieus ansprechen. Wie soll das gelingen?

Zagrosek: Zum Beispiel über den Ausbau unseres „Education“-Programms in Schulen. Mit Musik können wir viele Kinder in sozial herausfordernden Lagen wie in Duisburg-Marxloh oder im Bochumer Norden fördern. Ihre Biografie ist häufig von Fluchterfahrungen geprägt, sie sind erst im Begriff, die deutsche Sprache zu lernen, ihr gesamter Entwicklungsstand ist häufig nicht altersgemäß. Die emotionale Berührung durch Musik kann da viel bewirken. Diese Arbeit, die wir täglich in den Schulen leisten, möchte ich auch gerne im Festival selbst sichtbarer machen. So werden beim diesjährigen Eröffnungskonzert Schülerinnen und Schüler aus Marxloh zur Musik des US-Jazzpianisten Emmet Cohen tanzen.

HB: Mit welchen Argumenten treten Sie eigentlich an Sponsoren heran? Wie verkauft man Kunst?

Zagrosek: Oft werde ich gefragt, wie wir uns um Gesellschaft kümmern, um Bildung oder um die Schule, in der der Musikunterricht häufig brachliegt. Denn einen „closed circle“, eine elitär exkludierende Veranstaltung, will kein Geldgeber unterstützen. Da verweise ich auf unser „Education“-Programm. Insgesamt habe ich bei etwa 50 Sponsoren, fördernden Stiftungen und unseren Festival-Donatoren mehr als 3,2 Millionen Euro eingeworben. Der Gesamtetat liegt bei über 5,5 Millionen Euro.

Birnbaum: Bei subventionierten Theatern oder Opernhäusern würden wir sicherlich über ganz andere Summen reden. Als Hauptsponsor zahlen wir eine halbe Million und finanzieren zudem ein Konzert. Der Initiativkreis Ruhrgebiet, bei dem Eon Mitglied ist, zahlt als jährlicher Generalsponsor noch einmal mehrere hunderttausend Euro.

HB: Andere Ruhr-Konzerne investieren groß in Fußball wie Vonovia beim VfL Bochum.

Birnbaum: Das Sponsoring von Top-Fußballvereinen passt nicht zu unserem Geschäft. Wie sind als Verteilnetzbetreiber und Anbieter von Kundenlösungen in der Fläche aktiv, daher passt es bei Sport viel besser, zum Beispiel die E-Jugend in der Fläche zu fördern und allen Vereinen Trikots zu schenken, als einen Bundesligaklub zu sponsern. Im Kultursektor fördern wir das Klavierfestival oder das Museum Folkwang in Essen.

HB: Welchen Einfluss hat ein Hauptsponsor überhaupt? 2011 zum Beispiel hatten RWE, Eon und Evonik ihr Sponsoring rigide gekürzt, weil ihnen das Festival zu groß wurde.

Birnbaum: Das war vor meiner Zeit. Und zum Thema Einfluss: Ich bin zwar ein selbstbewusster Mensch, kenne aber auch meine Grenzen. Deshalb will und kann ich als Hauptsponsor nicht sagen: „Ich möchte Beethoven!“ Oder, wie in diesem Jahr, Busoni. Das Programm ist einzig und allein Sache der Intendantin. Sie hat uneingeschränkte künstlerische Freiheit. Wir reden dann über die Umsetzung des Sponsor-Konzepts, also etwa welcher Ort für einen Empfang geeignet wäre und wie der Kontakt zum Künstler aussieht. Und für das von uns gesponsorte Konzert macht uns Frau Zagrosek Vorschläge. In diesem Jahr entschied ich mich für Igor Levit.

HB: Der einst in Gorki geborene deutsche Pianist mischt sich oft in politische Debatten ein und bekennt, sich wegen des Antisemitismus in Deutschland noch nie so allein gefühlt zu haben wie seit dem 7. Oktober 2023. Zusehends polarisiert sich die Gesellschaft über solche Themen in einem „Kulturkampf“. Wie verhalten sich da Kultur-Akteure?

Zagrosek: Wichtig ist, sensibel und gut reflektiert zu sein. Der Krieg in Gaza oder die Klimakatastrophe können jederzeit auch im Konzertsaal zum Thema werden. Wir bereiten uns darauf vor, wie wir möglichen Störungen im Konzert begegnen wollen. Ein Weg, den ich ungern gehen möchte, ist, mehr Security im Saal zu positionieren.

Birnbaum: Demokratien leben davon, dass man unterschiedliche Positionen einnehmen darf und sich respektvoll darüber austauscht. Daher bin ich besorgt, wenn es ausgerechnet in der Kulturszene, die immer den Anspruch hatte, eine offene Gesellschaft zu befürworten, Tendenzen der Intoleranz gibt.

HB: Wie positionieren Sie sich angesichts eines expandierenden Rechtsextremismus und einer AfD, die in Teilen bei Verfassungsschützern als extremistisch gilt?

Zagrosek: Wir laden niemanden ein, der sich rassistisch und antisemitisch verhält. Auch wir vom Klavier-Festival würden vielleicht zu einer Demonstration gegen Rechtsextremismus gehen und der Öffentlichkeit damit mitteilen, wo wir stehen.

HB: Die Zeiten sind hart geworden, die deutsche Wirtschaft wächst kaum mehr. Fehlt da bald Geld für Kultur?

Zagrosek: Ich weiß auch, wo wir insgesamt ökonomisch stehen. Vor 20 Jahren finanzierte die Wirtschaft Konzerte für die Kulturbürger und fand das wichtig. So einfach ist es nicht mehr. Es gibt sehr unterschiedliche Interessen und Ansätze, etwas zu finanzieren.

HB: Große Mittelständler wie Würth in Schwäbisch-Hall oder Knauf in Iphofen stellen an ihren Standorten große Museen hin. Ein Vorbild?

Birnbaum: Da stehen Unternehmenseigentümer dahinter, es steht das Mäzenatische im Vordergrund. Wenn wir solche Fälle einmal beiseitenehmen, wird es tendenziell schwieriger. Unternehmen agieren heute meiner Beobachtung nach zurückhaltender.

HB: Eon muss viel Geld in Netze investieren. Ist es beim Sponsoring von Kultur in der Außenwirkung ein kritischer Punkt, dass man alternativ ja auch Strompreise senken könnte? Kunden und Verbraucherverbände kritisieren immer wieder, Eon habe zu teure Tarife.

Birnbaum: Das muss man trennen. Natürlich hat der Kunde in einer anderen Region nichts davon, wenn wir an der Ruhr Klavierkonzerte fördern. Aber auch er sieht, dass es wichtig ist, wenn sich Unternehmen in ihrem Umfeld engagieren.

HB: Frau Zagrosek, in Unternehmen wie Eon werden Leistungen gerne nach Key Perfomance Indicators (KPI) beurteilt. Welche persönlichen KPIs wollen Sie für 2024 erreichen?

Zagrosek: Für mich zählen großartige künstlerische Leistungen, die sich aufs Publikum übertragen. Der Funke muss überspringen. Die Menschen sollen gestärkt nach Hause gehen und sich gerne an den Abend erinnern.

HB: Und nach 30 Jahren, falls Sie so lange wie Ihr Vorgänger dabei sein sollten?

Zagrosek: Als Festivalleiterin wünscht man sich immer Nachhaltigkeit – etwas aufgebaut, etwas hinterlassen zu haben. Andere in ähnlicher Verantwortung gründen Orchester oder Akademien. Ich verstehe den Antrieb dabei. Man möchte nicht so „flüchtig“ sein mit seinen Konzerten. Vielleicht ist das auch eine Illusion. Das Leben ist endlich und so gesehen per se flüchtig.

Birnbaum: Mein Traum ist es, dass die Institution des Klavier-Festival Ruhr dann noch stärker geworden ist. Aber was wird 2054 sein? Die planbaren Zeiträume sind doch immer kürzer geworden. Vor 30 Jahren hießen wir noch Veba. Eine Institution ist im Idealfall aus sich selbst heraus stark. Individuen hingegen sind ersetzbar. Sich selbst sollte man nicht so wichtig nehmen.