Meine gesammelten Werke: Wie ich die Lage gesehen habe.

Schriftsteller Navid Kermani über die neue Weltlage, den moralischen Abstieg des Westens, Migrationsprobleme und über deutsche Qualitäten

Handelsblatt, 08.11.2024

„Trump ist vor allem anderen ein Narzisst“

Schriftsteller Navid Kermani über die neue Weltlage, den moralischen Abstieg des Westens, Migrationsprobleme und über deutsche Qualitäten

Handelsblatt, 08.11.2024

Navid Kermani gehört zu den wichtigsten Intellektuellen im Land. Der vierte Sohn iranischer Eltern, die 1959 nach Deutschland eingewandert waren, hat mit etlichen Romanen und Sachbüchern deutsche Debatten geprägt. Intensiv hat sich der habilitierte Orientalist etwa mit Religion und Gott auseinandergesetzt. Zahlreiche Preise waren die Folge, unter anderem der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels oder jüngst der Thomas-Mann-Preis. Zuletzt legte Kermani „In die andere Richtung jetzt“ vor, ein Reportage-Buch über Ostafrika. Ein Gespräch in seinem Kölner Arbeitszimmer, zwischen Buchregale-Wänden, über Interessenspolitik, Migration, Antisemitismus und Donald Trump.

HB: Herr Kermani, die Bundesregierung will das Budget für Entwicklungshilfe kürzen, die FDP sogar das ganze Ministerium abschaffen. Was würden solche Maßnahmen in afrikanischen Ländern bewirken, die sie für Ihr aktuelles Reportagebuch bereist haben?

Navid Kermani: Die Entwicklungshilfe, so wie sie jetzt weithin praktiziert wird, ist durchaus kritisch zu sehen. Insbesondere das Nationbuilding ist zuletzt mehrfach dramatisch gescheitert, nicht nur in Afghanistan, zuvor auch in Haiti. In vielen Fällen wird ein System erschaffen, das sich selbst nährt und Menschen in Abhängigkeit bringt. Aber deswegen die Entwicklungshilfe abzuschaffen, wäre katastrophal.

HB: Also – was soll passieren?

Es geht darum, Entwicklungspolitik neu zu denken und die Ressourcen klüger einzusetzen, auf nationaler Ebene, aber auch auf der Ebene der internationalen Organisationen. Im Augenblick geht wahnsinnig viel Geld allein verloren durch die Bürokratie und das System von Großkonzernen, die beauftragt werden, sowie ihren vielen Sub- und Subsubunternehmen, bevor überhaupt ein Cent vor Ort ankommt. Aber natürlich auch durch Korruption.

HB: Soll Entwicklungshilfe stärker mit dem Wirtschaftsministerium oder dem Auswärtigen Amt verzahnt werden?

Eine wichtige, interessante Diskussion. In Ostafrika zum Beispiel ist China sehr präsent. Jedem dort ist bewusst, dass die Volksrepublik eine knallharte Interessenspolitik verfolgt. Aber dieser Ansatz, der zu großen Investitionen in die Infrastruktur führt, dient den Menschen in ihrer Eigenwahrnehmung an vielen Stellen mehr als die letztlich koloniale Haltung, die der westlichen Entwicklungshilfe immer noch zugrundeliegt: „Wir geben ein bisschen Brot und lehren euch Demokratie!“

HB: Entwicklungspolitik ist letztlich Interessenspolitik?

Außenpolitik insgesamt ist immer Interessenpolitik, egal mit welchen Floskeln das verbrämt wird, auch bei uns. Und es wäre für unser Ansehen schon einmal viel gewonnen, wenn man zu seinen Interessen auch steht, statt sich ständig – und nicht immer überzeugend – als Wohltäter aufzuspielen. Die Frage ist nur: Was heißt „Interesse“ konkret?

HB: An was denken Sie?

Geht es nur um kurzfristige ökonomische Ziele, etwa Rohstoffe zu gewinnen? Das schnelle Lithium oder das schnelle Gas? Oder denken wir daran, langfristig in Afrika Länder als Partner zu gewinnen, die dann weniger Ursachen für Fluchtbewegungen geben, wo der Drogenstrom aus Afghanistan nicht mehr fließt, von wo vielleicht auch mal die dringend benötigten Fachkräfte einwandern und mit denen wir gut handeln können? Das funktioniert nur mit stabilen Märkten, mit guter Infrastruktur und Zivilgesellschaften, die uns wohlgesonnen sind und mit unseren Werten, unserem Lebensmodell sympathisieren. Dafür bräuchte es einen langen Atem, der weit über einzelne Legislaturperioden hinausreicht.

HB: Offiziell geht es in der deutschen Entwicklungspolitik darum, Armut bekämpfen, Demokratie und Menschenrechte stärken.

Wir brauchen eine ehrlichere Entwicklungspolitik, so wie sie die USA partnerschaftlich nach 1945 gegenüber dem zerstörten Deutschland praktiziert hat. Dem Westen nimmt man derzeit seine Versprechen für Demokratie und Menschenrechte nicht ab. Die Glaubwürdigkeit ist zuletzt noch einmal dramatisch gesunken durch die als einseitig wahrgenommene Unterstützung Israels. Auch das westliche Bündnis mit Saudi-Arabien, mit den Golfstaaten überhaupt, schadet massiv unserer Glaubwürdigkeit. Denn wir verurteilen den Islamismus, haben aber seit Jahrzehnten eine enge Allianz mit eben jenen Staaten, die gerade auch in Ostafrika den radikalen Wahhabismus exportieren und die traditionelle Religiosität zerstören. Glaubwürdigkeit ist im Austausch mit anderen Ländern, anderen Kulturen, anderen Märkten keine romantische Idee, sondern harte Währung.

HB: China sorgt – gegen Kredit – für Häfen, Flugplätze, Straßen, Schienen, Bahnhöfe. Dafür sichert man sich den Zugriff auf Rohstoffe. Ist dieser Vorsprung einholbar? Die EU setzt gegen die „Neue Seidensraße“ auf das eigene Projekt „Global Gateway“.

Davon ist wenig zu spüren. Was mich ratlos macht: Selbst Intellektuelle in Nairobi oder Daressalam, die unsere Werte teilen und mit westlicher Kultur sozialisiert worden sind, sehen das chinesischen Engagement jedenfalls nicht nur kritisch, während sie dem Westen fast durchgehend Heuchelei vorwerfen – etwa wenn die Europäische Union vielfach auf Diktatoren und Generäle setzt und ebenso, wenn sie Entwicklung propagiert, aber mit ihren subventionierten Agrarprodukten die lokalen Märkte zugrunderichtet.

HB: Für das deutsche Publikum ist Afrika kein attraktives Thema. Worin ist das Desinteresse begründet?

Die Statistik beweist, dass 85 Prozent der Weltbevölkerung nur 15 Prozent der Berichterstattung in Deutschland ausmachen. Es hat mich erschüttert, dass ich große Probleme hatte, über den Bürgerkrieg im Sudan im Radio und Fernsehen zu berichten, obwohl ich, soweit ich es mitbekommen habe, als einziger oder als einer von ganz wenigen Reportern während des Kriegs dort war. Wenn ich mich dagegen zum Gendern äußere, sind sofort Medienkanäle frei. Je mehr sich global die Lebensentwürfe angleichen, je mehr wir verflochten sind mit der Welt, desto größer wird unsere Nabelschau, desto mehr besinnen wir uns aufs sogenannte „Eigene“. Deshalb haben überall in Europa nationalistische Parteien Konjunktur, von rechts und von links.

HB: Gegen die Verworrenheit da draußen soll offenbar Heimatliches helfen.

Ich bin auf der linken Seite des Spektrums politisch sozialisiert worden, mit Wörtern wie „Weltinnenpolitik“, „Nord-Süd-Dialog“, „World Aid“, Befreiungstheologie und so weiter. Heute konzentrieren sich selbst „Fridays for Future“ oder „Letzte Generation“ wesentlich auf nationale Klimaziele und die Folgen des Klimawandels für uns selbst.

HB: Was sollte eher thematisiert werden?

Von der Hungerkatastrophe auf Madagaskar vor zwei Jahren, der ersten, die kausal durch den Klimawandel bewirkt worden ist, war auf den Demonstrationen praktisch nie die Rede, auch nicht von den endzeitlichen Folgen des Anstiegs des Meerespegels für Länder wie Bangladesch oder die Malediven. Dabei ist es fürs Klima völlig egal, ob Deutschland seine Ziele 2033 oder 2035 erreicht. Jeder Euro, den wir in Klimaprojekte im sogenannten globalen Süden zu stecken, würde sich auch für unser eigenes Klima vielfach auszahlen. Dort könnten wir große Schrauben drehen. Stattdessen beissen wir uns fest am Heizungsgesetz fest.

HB: Es fehlt an Politikern wie früher Willy Brandt oder Erhard Eppler, die solche Themen voranbringen.

Es gibt Politiker, die über den Tellerrand schauen. Im politischen Tagesgeschäft spielen langfristige Konzepte aber keine Rolle. Sie müssen nur einmal in die Gesichter der Politiker schauen. Keiner hat Zeit, alle haben Druck. Willy Brandt konnte sich einen Tag Zeit nehmen, um mit Günter Grass oder wem auch immer spazierenzugehen. Da kommt man auch auf neue Gedanken.

HB: Öfter mal einen Spaziergang wagen als Empfehlung?

Oder zu reisen und wirklich mal für ein paar Tage in einem Land zu bleiben, anstatt nur für 90 Minuten im Konferenzraum.

HB: Die enge Taktung wird auch durch einen enorm verstärkten Informationsfluss im Internet hervorgerufen.

Das ist das Gefährliche am Internet, ohne dass ich es generell verteufeln will: Es gibt die Illusion, wir wüssten Bescheid. Aber das stimmt nicht. Ohne Kontext, ohne Gespräche, Gerüche, Bilder, eigenes Erleben, wissen Sie nichts über Afghanistan oder Afrika. Emotionen oder historische Entwicklungen spielen eine große Rolle.

HB: Über Smartphones verbreitet kommt die westliche Lebensart mit ihrem Konsumluxus bei Menschen in Afrika als Traumwelt an, in der sie auch gerne leben möchten.

Jäh landen diese Gesellschaften im digitalen Zeitalter, dabei haben sie oft nicht einmal Schulen. Gleichzeitig nimmt die Kluft zwischen Arm und Reich in vielen Ländern zu. Armut ist immer auch der Blick auf den Reichtum anderer. Wenn alle nur wenig haben, fühlt man sich selbst weniger arm. Das habe ich auf der kleinsten und abgelegensten Insel der Komoren begriffen: Wo es kein Geld gibt, gibt es auch keine Bedürfnisse.

HB: Nette Beschreibung dafür, dass im Internet Begehrlichkeiten geweckt werden, deren Befriedigung versagt bleibt.

Sie haben recht, vielfach sind Konflikte eine Folge. Es kommt zu Abwehr, zu Ressentiments: „Warum haben die das und nicht wir?“ Und auch Migrationswünsche folgen daraus.

HB: Migration sei die „Mutter aller Probleme“, erklärte der einstige Innenminister Horst Seehofer. Dieser Satz ist für viele Politiker der Mitte heute wahrer denn je.

Ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendein Wirtschaftsvertreter dieser These zustimmen würde. Deutschland als Exportnation Nummer eins lebt davon, dass man im Austausch ist. Es ist illusionär und falsch, Migration nur als Problem zu behandeln. „Remigration“ würde unsere Ökonomie zu Grunde richten. Im Übrigen war die Aussage von Herrn Seehofer einfach auch zutiefst beleidigend.

HB: Weshalb?

Schauen Sie, meine Eltern sind Ende der 1950er-Jahre nach Deutschland eingewandert, weil sie erwünscht waren, weil sie hier arbeiten sollten, weil das Land Mediziner brauchte wie meinen Vater. Sie haben hier etwas aufgebaut, sie haben Steuer bezahlt, sie haben sich ehrenamtlich engagiert, sie haben mit nichts angefangen, ohne ein Wort Deutsch, ohne Sprachkurse, ohne Geld, und haben Kinder großgezogen, aus denen sämtlich etwas geworden ist, ebenso aus den vielen Enkeln und inzwischen Großenkeln. Die Quote von Doktortiteln und Arbeitgebern in unserer Familie ist mit Sicherheit nicht geringer als bei den Seehofers. Und jetzt erklärt dieser Mensch meinen Eltern und Millionen weiteren Einwanderern, die von Deutschland geholt worden sind, dass Migration die Mutter aller Probleme ist – wie können meine Eltern das anders verstehen, als dass sie die Mutter aller Probleme sind, die für dieses Land und uns Kinder geschuftet haben wie blöde?

HB: Kriminalitätsfälle haben die Einstellung in weiten Teilen der Bevölkerung verändert. „Willkommenskultur“ war einmal.

Natürlich ist nicht zu übersehen, dass die jetzige Migration Probleme schafft. Hundert Meter von meiner Wohnung entfernt hier in Köln entfernt liegt der Ebertplatz, wo der Drogenhandel floriert, und die Händler sind zumindest dem Augenschein nach zu hundert Prozent …ja, was? … jedenfalls nicht von hier. Fünfhundert Meter von hier ereignete sich die Kölner Silvesternacht, und uns waren viele Täter überhaupt nicht unbekannt. Sie haben davor schon die Menschen im Viertel belästigt, bestohlen, angepöpelt. Klar, da muss man gegensteuern, sonst ziehen die alteingesessenen Anwohner frustriert weg, insbesondere wenn sie Kinder haben. Grundsätzlich halte ich es auch für richtig, Asylanträge an den europäischen Außengrenzen zu überprüfen. Aber die jetzt angebotenen Lösungen stellen unser europäisches Projekt radikal infrage.

HB: Wie soll eine bessere Migrationspolitik aussehen?

Es gibt nicht die eine große Lösung, und der Migrationsdruck wird bleiben oder eher noch zunehmen, allein schon wegen der vielen Kriege in Nahost oder dem Klimawandel. Aber eines ist doch klar: Man muss endlich Asyl und Migration stärker auseinanderhalten. Stellen Sie sich vor, dass jüngst in Teheran verhaftete Mädchen, das in Unterwäsche gegen die Kleiderordnung im Iran protestierte, würde bei uns das Grundrecht auf politisches Asyl in Anspruch nehmen. Dazu müsste sie es in ein Flugzeug schaffen und über Deutschland mit dem Fallschirm abspringen. Das Grundrecht auf politisches Asyl ist seit der Reform von 1992 mit der Drittstaatenregelung eine Farce. Allerdings handelt es sich bei den dezidiert politischen Verfolgten um eine vergleichsweise geringe Zahl.  Viel mehr Menschen fliehen vor Bürgerkriegen oder weil der Boden sie aufgrund des Klimawandels nicht mehr nährt.

HB: Was also ist notwendig?

Hier bräuchte es Kontingente, um die Flüchtlinge zu verteilen oder auch vor Ort zu versorgen. Das schafft kein Staat allein. Das könnte nur Europa als Ganzes schultern, ein solidarisches, funktionierendes Europa mit einer gemeinsamen konsistenten Asylpolitik. Und dann gibt es viele Menschen, die aus wirtschaftlichen Motiven emigrieren wollen. Sie sollten nicht gezwungen sein, politisches Asyl zu beantragen, sondern die Möglichkeit haben, sich zu qualifizieren und all das Geld, das für Schlepper fließt, in Sprachkurse und ihre Ausbildung zu investieren. Davon würden sie profitieren, davon würden wir profitieren.

HB: Es ist nicht nötig, die Verfassung zu verändern, wie es vielfach gefordert wird?

Nein. Unsere Eltern und Großeltern, haben das gemeinsame, einige Europa geschaffen, sie haben uns im Grundgesetz sogar die Vereinten Nationen von Europa als Auftrag mitgegeben, als Vision – und das wollen wir jetzt wieder abschaffen, nur weil wir Angst haben, dass die AfD zwei Prozentpunkte mehr bekommen könnte?  Auf diesem Kontinent, der so viel Blutfeindschaft und Kriege erlebt hat, kann man heute vom Nordkap bis Gibraltar reisen, ohne auch nur an einer Grenze den Pass zeigen zu müssen. Das ist eine gewaltige zivilisatorische Leistung. Europa muss das Migrationsproblem gemeinsam annehmen.  Deutschland kann es nicht einfach auf andere Länder zurückverlagern.

HB: Haben Sie große Hoffnung, dass es so kommt?

Nein. Wie gesagt, es fehlt weiterhin an einer gemeinsamen europäischen Linie. Das deutsch-französische Verhältnis wurde sträflich vernachlässigt. Die mutige Rede von Emmanuel Macron an der Sorbonne 2017 blieb – unhöflicherweise – ohne deutsche Antwort. Und auch die Ankündigung europäischer Reformen im Koalitionsvertrag der Ampelkoalition, die mich hoffen ließ, lief ins Leere. Frau Baerbock, die als Grüne doch enthusiastische Europäerin sein müßte, wie es die Grünen immer waren, hat beinahe als erste Amtshandlung eben dieses Ziel der Koalition widerrufen, Europa institutionell reformieren zu wollen. Die europäische Schwäche wird uns – gerade uns Deutsche – ökonomisch und strategisch nachhaltig schaden und schadet uns schon jetzt, politisch wie ökonomisch.

HB: Sie meinen, Europa wird zwischen den Blöcken USA und China marginalisiert?

Wenn es so weitergeht, haben wir die Wahl, von einem nationalistischen Amerika abzuhängen, das knallhart seine Interessen vertritt, oder doch lieber von einem China, das ebenso bestimmt seine Macht einsetzt. Wir brauchen eine eigenständige europäische Position, und politisch wie ökonomisch hätte Europa dafür absolut das Potential. Wenn es sich endlich nicht mehr selbst lähmen würde durch seine Uneinigkeit und seine undemokratischen Strukturen, die seine Glaubwürdigkeit vor den Bürgen untergraben. Ein demokratisches, einiges, subsidäres und gerechtes Europa hätte eine Mehrheit, jedenfalls in den europäischen Kernländern und ganz bestimmt in Deutschland.

HB: Sie erklären, Postkolonialismus sei nicht nur eine Theorie, die man richtig oder falsch finden könne – es sei auch eine Wirklichkeit, die unter allen Gesellschaften vielleicht Deutschland am wenigsten verstehe. Was meinen Sie damit?

Nehmen Sie nur die Antisemitismus-Resolution, auf die sich die Ampelfraktionen und die Union geeinigt haben…

HB: …sie will die Vielfalt jüdischen Lebens schützen, formuliert ein unverrückbares Schutzversprechen für den Staat Israel, betont aber auch eine „Zwei-Staaten-Lösung“ für Palästina. In Kunst, Kultur und Medien dürfe es keinen Antisemitismus geben.

Ich habe mich in meiner Arbeit intensiv mit Auschwitz beschäftigt, ein Großteil meines Denkens bezieht sich auf die jüdische Tradition, ich habe mehr jüdisch-israelische als arabische Freunde und ich verstehe auch Deutschlands Sonderrolle und versuche sie auf Podien und in Gesprächen im Ausland immer wieder neu zu erklären. Aber wir müssen anerkennen, dass anderswo auf der Welt unsere Debatten anders gesehen werden. Mit dieser Resolution schließen wir diesen für uns unangenehmen Teil einfach aus. Wenn man sie befolgt, kann man kaum noch einen arabischen, kaum noch einen afrikanischen Künstler mehr nach Deutschland einladen, weil sie sich nicht an unsere Tabus halten, etwa weil sie Israel für ein koloniales Projekt halten oder einen Boykott fordern. Der Westen hat in solchen Fragen keine kulturelle Dominanz mehr.

HB: Was meinen Sie konkret?

In Südafrika zum Beispiel wird Israels Politik im Gaza und im Westjordanland weithin und quer durch alle politischen Lager als „Apartheid“ oder „Genozid“ wahrgenommen. In Johannesburg habe ich mit alten Widerstandskämpfern und jungen idealistischen Menschen diskutiert. Plötzlich stand eine ältere Dame auf und sagte: „Wer sind Sie denn, dass Sie uns erklären, was Apartheid ist?“ Eine solche belehrende Haltung, die bestimmt, was man sagen darf oder eine bestimmte, dabei auch noch unter Wissenschaftlern umstrittene Definition des Antisemitismus zum Standard erklärt, das wird außerhalb Deutschlands einfach nicht mehr akzeptiert. Damit isoliert sich Deutschland.

HB: Innenpolitisch dürften solche Warnungen schnell verpuffen.

Ein anderes Beispiel für das, was als westliche Arroganz wahrgenommen wird: Es war nicht nur peinlich, es war vor allem auch wenig zielführend, wie westliche Diplomatie nach Ausbruch des Ukraine-Kriegs per Dekret die Solidarität des Globalen Südens eingefordert hat. Autokratien nutzen einen solchen imperialen Gestus aus und inszenieren sich als antiimperiale Kräfte. Absurd! Ändern kann man das nur durch kommunikativen Austausch mit denen, die die Welt anders sehen als wir – und den Kulturaustausch werden wir jetzt mit der Resolution deutlich erschweren, weil man aus Sorge, sie könnten etwas Falsches sagen, viele Künstler und sogar Nobelpreisträger nicht mehr einladen wird. Oder diese auch gar nicht mehr kommen wollen.

HB: Müsste der Terror-Angriff der Hamas vom 7. Oktober 2023 nicht selbsterklärend genug sein, Position zu beziehen? Seitdem sei der Antisemitismus „auf einem seit Jahrzehnten nicht dagewesenen Niveau“, heißt es in der Bundestag-Resolution, er basiere auf Zuwanderung aus den Ländern Nordafrikas und des Nahen und Mittleren Ostens“.

Man kann mit niemanden Austausch pflegen, der den 7. Oktober bejubelt. Das ist ein Fall für die Sicherheitsorgane oder die Konsularabteilungen, die dann eben kein Visum erteilt. Wenn aber sogar solche Kritik an der israelischen Politik antisemitisch sein soll, die in israelischen Zeitungen oder auf Demonstrationen in Tel Aviv oder Haifa selbst jeden Tag geübt wird, dann entleeren wir den Begriff des Antisemitismus. Der ehemalige Außenminister Sigmar Gabriel hat in seiner Amtszeit nach einem Besuch der besetzten Gebiete von „Apartheid“ gesprochen – das konnte man für falsch oder richtig halten, es wurde diskutiert. Aber niemand hat ihn deswegen als Antisemiten bezeichnet, soweit ich mich erinnere.

HB: Wie weit hat das koloniale Erbe einen Aufschwung afrikanischer Länder behindert? Oder sind ökonomische Probleme hausgemacht?

Das kann man nicht auseinanderhalten. Wenn Sie über Madagaskar fliegen, fällt sofort auf, dass 95 Prozent der Wälder abgeholzt sind. Das haben größtenteils die Einheimischen nach der Unabhängigkeit gemacht. Dafür kann man schlecht die alten Kolonialherren beschuldigen. Das ist ein Problem einheimischer Eliten, die oft in autoritären Strukturen herrschen. Aber das Denken, Natur als Ware zu betrachten und bedenkenlos abzuholzen, ist mit dem Kolonialismus eingezogen.

HB: Ist das ein Alltagshema?

Die meisten, denen ich begegnet bin, beschäftigen sich mit der Gestaltung der Zukunft. Auf meinen Reisen durch Osteuropa bin ich oft auf die deutsche Vergangenheit angesprochen worden. In Afrika dagegen ist Kolonialismus seltener ein Thema. In weniger gebildeten Kreisen gibt es sogar eine Art Verklärung: Bei den Deutschen habe alles funktioniert, die haben Eisenbahnen gebaut  – das ist einem als Deutscher fast unangenehm.

HB: Sind wir eigentlich noch rassistisch?

Auch nach 400 Jahren bleiben wir in rassistischen Strukturen, In der Ukraine sind innerhalb von zweieinhalb Jahren 12.000 Zivilisten gestorben – 12.000 zu viel. Im Tigray-Krieg im nördlichen Äthopien aber sind in einem ähnlichen Zeitraum mindestens 500.000 Menschen umgekommen, fast alle Zivilisten. Davon hat keiner gesprochen. Schwarzes Menschenleben zählt in unserer Wahrnehmung weniger als weisses Menschenleben.

HB: Also müssen wir an unserem geerbten Rassismus noch hart arbeiten?

Man kann sich dessen bewusst werden und Kategorien des Rassismus überwinden. Wenn jetzt zum Beispiel auf einmal das Opfer gut sein soll, ist das ebenfalls rassistisch: Ein Flüchtling ist in einer schwierigen Rolle, aber er ist nicht per se gut und ein besserer Mensch. Die linke Identitätspolitik, die auf diese Art Rassismus bekämpfen will, verfestigt dessen Muster.

HB: Im 21. Jahrhundert sei der Gleichheitsgedanke der Aufklärung pervertiert worden durch eine „Vergötterung der Individualität“, durch die der Kapitalismus seinen Sieg über den Kommunismus zelebriert habe, finden Sie. Eine steile These.

Es gab und gibt immer Pendelbewegungen. Jeder Mensch ist zugleich Individuum und Gemeinschaftswesen. Die Aufgabe ist es, beides in Einklang zu bringen. Heute lösen sich tradierte Gemeinschaften wie Kirchen und Vereine auf, und es gibt auch keine gemeinsame Öffentlichkeit mehr, an der alle partizipieren. Jeder kann im Blog seine eigene Öffentlicheit sein. Nach der Kollektivierungsmaschine der großen Ideologien sind wir inzwischen zu sehr in Richtung Vereinzelung gegangen, so nehme ich es jedenfalls wahr, und das löst dann wieder eine Gegenbewegung aus – in Gestalt des Nationalismus, des Rechtspopulismus, des religiösen Fundamentalismus.

HB: Ein Phänomen, das von Populisten wie Donald Trump genutzt wird.

Über ihn würden wahrscheinlich sogar Anhänger sagen, dass er vor allem anderen ein Narzisst ist. Aber in diesem seinen Narziss ist er der Spiegel der gesamten Gesellschaft. Und in den USA sah man im Wahlkampf sehr klar, dass unsere Politik immer stärker von extranationalen Akteuren beeinflusst wird. Etwa von der Handvoll Billionen-Konzerne der Internet-Welt. In dem Moment, als sich abzeichnete, dass sich nicht nur der Großinvestor Peter Thiel, sondern auch andere Großkapitalisten Richtung Trump wandten oder zumindest stillhielten, wurde klar: Er hat eine reale Chance. Seine reichen Unterstützer sind viel radikaler und mächtiger geworden.

HB: Dazu gehört an vorderster Front Elon Musk. Er hat mit seinem Geld und dem Medium X massiv Einfluss auf die US-Wahlen genommen. Kapitalismus verwandelt sich in Plutokratie.

Die Kollektivierungsmaschinen des 20. Jahrhunderts waren immer von Individualisten wie Adolf Hitler, Mao oder Khomeni in Gang gesetzt worden. Dank Technologie, Kapital und Charisma kann hier auch ein Elon Musk reüssieren. Wenn man alle über ein Smartphone erreichen kann, verfügt man über einen gigantischen Hebel.

HB: Eine große Gefahr für die Demokratie?

Ja, ein Elon Musk könnte gefährlich werden oder ist es bereits. Es könnte sich wiederholen, was wir bei Ruhollah Khomeni gesehen haben. Die iranische Revolution war ursprünglich kein islamistisches Projekt, sondern von liberalen, linken Bürgern getragen, die gegen den Folterapparat des Schahs protestiert haben. Ayatollah Khomeni hat sich durchgesetzt, weil er sich mit der Basar-Wirtschaft verbündet hat. So konnte er ein Jahr lang zum Generalstreik ausrufen. Durch den Basar konnten die Leute versorgt werden. Das zwang den Schah in die Knie. Ein solches Bündnis aus Kapital und kollektiver Ideologie kann viel bewegen.

HB: Vor zehn Jahren, in Ihrer Rede im Bundestag zum 65. Jubiläum des Grundgesetzes, haben Sie erklärt, die Bundesrepublik habe ihre Würde erhalten durch den Kniefall Willy Brandts 1972 in Warschau. Wie schauen Sie heute auf das Land?

Es fühlt sich erschöpfter an, genervter, reizbarer. Überall ist Überforderung zu spüren. Die Infrastruktur ist nicht mehr wie gewohnt da. Zugleich gibt es aber immer noch stabile, wenig beachtete Faktoren. Wir haben ein viel geringeres Stadt-Land-Gefälle als etwa Frankreich, Großbritannien oder die osteuropäischen Nationen. Das liegt auch am Föderalismus und der mittelständischen, regionalen Struktur der Wirtschaft.

HB: Diese Regionen werden, zum Teil seit vielen Generationen, durch Familienunternehmen geprägt.

Ja, diese sich verantwortlich fühlenden Unternehmer betreiben noch reale Wirtschaft. Es wird handfest produziert. Man braucht Fabriken und Fläche. Das findet auf dem Land statt.

HB: Aber auch dieser Mittelstand stöhnt über Bürokratie und hohe Energiekosten.

Aber es sind keine Elon Musks. Der rheinische Kapitalismus, der sich nach 1945 herausgebildet hat, ist oft immer noch prägend. Der ungarische Schriftsteller Péter Nádas hat mir einmal erklärt, warum Deutschland vergleichsweise stabil dasteht: Es gäbe kein Land, in dem das Bürgertum zweimal mit eigenen Händen die Trümmer aus den Städten habe tragen müssen. Das will niemand noch mal erleben. Und Deutschland hat seine Schuld ausgesprochen.

HB: Und diese Republik bleibt weiterhin stabil, über aktuelle Regierungsprobleme hinweg?

Wenn ringsherum das westliche Demokratiemodell scheitert, dann wird es auch in Deutschland eng. Auch darin sind wir verbunden mit der Außenwelt. Aber ob liberale oder autoritäre Tendenzen langfristig die Oberhand gewinnen, das ist noch lange nicht ausgemacht, gleich wie die Präsidentschaftswahlen in Amerika ausgegangen sind. Wer die liberale Demokratie bewahren will, wird sich sehr viel stärker für sie engagieren und sich fragen müssen, warum das Modell so viele Menschen nicht mehr überzeugt. Die liberale Demokratie versteht sich im Westen nicht mehr von selbst.

Herr Kermani, vielen Dank für das Gespräch.