Hunderttausende Deutsche sahen jüngst auf dem Cover des Magazins „Stern“ ein kleines Foto der Frau der Stunde, Sahra Wagenknecht – und daneben, ganz groß, einen Mann, dessen Konterfei den meisten völlig unbekannt ist: Yuval Noah Harari. Der Bestsellerautor aus Israel hat sein neues Werk „Nexus“ geschrieben, das just wie der „Stern“ im weiten Reich des Gütersloher Imperiums Bertelsmann erscheint. Deshalb gab es zum weltweiten Buchstart ein Vorhab-„Exklusiv-Gespräch“. So wurde der Hochschullehrer zum „Stern“-Titelhelden.
In der modernen Gesellschaft hat der so gehuldigte Harari eine Funktion, die einst an Königshöfen Astrologen innehatten: Er ist zum großen Deuter geworden, zum Propheten des Kommenden, zum Seher. In einer Zeit größter Konfusion scheint er eine maximale Infusion wichtigen Wissens über Zukunft zu verabreichen. Seine bisher größten Verkaufshits „Sapiens – Eine kurze Geschichte der Menschheit“ sowie „Homo Deus – eine Geschichte von Morgen“ begründeten den Ruf, hier verstehe einer die Menschheit wie kein anderer.
„Geschichte ist nicht die Beschäftigung mit Vergangenheit, sondern die Beschäftigung mit Veränderung“, referiert Harari in „Nexus“. Geschichte sei nicht vorherbestimmt, die Zukunft werde von Entscheidungen geprägt sein. So erkläre sich auch sein persönliches Ziel: „Mit informierten Entscheidungen das Schlimmste verhindern.“ Hier will einer nicht nur „Seher“ und „Merker“ sein, sondern auch „Täter“, im Sinne von Einfluss ausüben. Wie sollen wir mit Künstlicher Intelligenz (KI) umgehen?
Wer die 550 Seiten des neuen Harari-Epos liest, merkt schnell, dass der Autor seine bisherigen Thesen teils noch einmal erklärt, teils weiterführt, teils extrem überhöht. Man folgt schnellen Gedankensprüngen, wagemutigen Assoziationen und immer wieder inspirierenden historischen Vergleichen des Mannes, der in seiner akademischen Laufbahn zunächst übers Militär im Mittelalter geforscht hatte.
Diese Tour d‘horizon ist faszinierend, kann aber auch ermüden. Man muss sich immer die große Linie bewusst machen, die der Autor zieht. Standen bislang Mythen und Narrative im Zentrum seiner Menschheitsgeschichte, so sind es diesmal Informationsnetzwerke, also im Prinzip Konstrukte wie der Bertelsmann-Medienverbund oder der globale Yuval-Noah-Harari-Fanclub. Weil solche Netzwerke auch aus Mythen und Narrativen bestehen, stellt sich Déjà-vu ein. Aber das kann auch der Wahrheits- und Meinungsbildung dienen.
Hararis zentrale These ist, dass die Menschheit gewaltige Macht gewinnt, indem sie kooperative Netzwerke aufbaut – deren Konstruktionsweise jedoch dem unklugen Gebrauch dieser Macht Vorschub leistet. Es handele sich um ein Informationsproblem, denn Information sei der Klebstoff, der alles zusammenhält: „Tiere, Staaten und Märkte sind nichts anderes als Informationsnetzwerke, die Daten aufnehmen, entscheiden und Daten zurückgeben.“
Für sich genommen wollten die Menschen stets die Wahrheit wissen, große Netzwerke aber arbeiteten mit Fiktionen und Illusionen, um ihre Mitglieder zu binden und für Ordnung zu sorgen. Das könne statt zur Massendemokratie auch zum Massentotalitarismus führen. „Im 21. Jahrhundert könnte ein totalitäres Regime dort erfolgreich sein, wo Hitler und Stalin scheiterten“, postuliert Harari voller Schrecken.
Einerseits wendet sich der Autor gegen ein „naives Informationsverständnis“, wonach mehr Information automatisch zu mehr Wahrheit, Weisheit und Macht führe. Auf jedem Handy befinde sich „heute mehr Information als in der antiken Bibliothek von Alexandria“ und doch sei die Menschheit der Selbstauslöschung näher denn je. Der Buchdruck habe zur Verbreitung der Bibel geführt, aber auch des Verschwörungswerks „Der Hexenhammer“ des Dominikaners Heinrich Kramer, woraufhin es zu Hexenverbrennungen kam.
Andererseits sei der Populismus eine radikale Herausforderung, weil er „Information als Waffe“ betrachte. Für Leute wie Donald Trump gibt es demnach viele Wahrheiten, am besten ist immer die eigene. „Wenn jeder seine eigene Wahrheit hat, ist Macht und der Kampf um Macht die einzige Realität.“ Harari selbst will die Mitte zwischen Naiven und Populisten erkunden: „Information ist zwar nicht der Rohstoff der Wahrheit, doch sie ist auch keine bloße Waffe.“
Der Schlüsselsatz kommt spät, genau auf Seite 491: „Die Macht konzentriert sich im Nexus dort, wo die Informationskanäle zusammenlaufen.“ Gemeint ist das Gefüge der Moderne, eine techno-kapitalistische Struktur, die Harari nicht so nennt, weil ihm die finanziellen Verwertungszwänge des Systems eher fremd sind. Man landet rasch bei der KI, der „Artificial Intelligence“, dessen Kürzel „AI“ Harari mit „Aliens Intelligence“ übersetzt, erster Hinweis auf Außerirdisches.
„Nexus“ ist im Wesentlichen ein Buch über die aktuelle technologische Revolution, über ihre Macher, ihre Nutznießer, ihre Opfer, ohne dass dies so kategorisiert ist. „Wir sind gleichzeitig die klügsten und die dümmsten Tiere der Welt“, so Harari: Menschen produzierten einfach weiter Atomraketen und Algorithmen, „obwohl wir unsicher sind, ob wir sie beherrschen“. Er wolle die KI-Eruptionen „historisch korrekter einzuordnen“.
Der israelische Populär-Philosoph, der geschichtlichen Determinismus ablehnt, sieht gleichwohl neue Informationstechnologien als bestimmenden Katalysator für Umwälzungen: Beginnend bei den Tontäfelchen im alten Mesopotamien, die Steuereinnahmen festhielten und zur Gründung erster Stadtstaaten beitrugen. Revolutionen seien immer auch Revolutionen des Informationsflusses, doch KI sei „potenziell bedeutsamer als die Erfindung des Telegrafen, des Buchdrucks oder sogar der Schrift, denn die KI ist das erste Werkzeug, das in der Lage ist, selbständig Entscheidungen zu treffen und Ideen zu entwickeln.“
Hier gruselt‘s, hier kommt „Homo Deus“ ins Spiel und damit Sciene-Fiction: Je düsterer, desto eindrucksvoller, desto wirkmächtiger der Autor. Zu befürchten sei, so Harari, dass das Computernetzwerke „neue menschliche und nicht-menschliche Identitäten hervorbringen“ werde. Computernetzwerke des 21. Jahrhunderts könnten neue Menschentypen schaffen.
Der Cyborg als neuer Citoyen? Der Roboter?
Für den Weltenerklärer ist klar, dass der Mensch via KI viele Gefährten bekommt. Vor den 2020er-Jahren habe der menschliche Geist Texte produziert, heute könne es auch KI sein. Und KI-Algorithmen könnten von sich aus Dinge lernen, die kein menschlicher Ingenieur programmiert habe. Computer, Internet, Handys, Soziale Medien und KI verleihen immer mehr marginalisierten Gruppen eine Stimme – und allen Menschen mit Internetanschluss und sogar nicht-menschlichen Akteuren, konstatiert Harari. Wenn viele Computer miteinander kommunizieren, könnten sie „eine Intercomputer-Wirklichkeit erzeugen, die den intersubjektiven Wirklichkeiten menschlicher Netzwerke entsprechen.“ Sie könnten so gefährlich werden wie menschengemachte Mythen. Schon heute manipulieren Bots die Algorithmen von Google, Facebook, X oder YouTube.
Im 21. Jahrhundert seien Kriege um Intercomputer-Objekte genauso möglich wie eine Spaltung der Welt durch einen „Silicon Curtain“, der womöglich nicht zwischen Demokratien und Autokratien teile, sondern zwischen Menschen und nicht-menschlichen Akteuren. Informationsnetzwerke würden in den kommenden Jahren Millionen neuer KI-Mitglieder gewinnen, die ganz anders mit Daten umgehen als wir Menschen – das werde zwangsläufig die Form von Armee, Religionen, Märkten und Nationen verändern. „Ganze politische, wirtschaftliche und soziale Systeme könnten zusammenbrechen, und neue werden an ihre Stelle treten.“ Zum Netz würden „vielleicht sogar Hunderte von Milliarden von superintelligenten andersartigen Akteuren gehören“ – was hier aufscheint, ist die neue Weisheit der vielen, eine Weisheit der Aliens.
Nur einige Ingenieure und Top-Kräfte von Hightechunternehmen wüssten was da passiert, nutzten ihre Kenntnisse aber nicht, „um zu regulieren, sondern um Milliarden Dollar zu verdienen und Petabytes an Informationen anzuhäufen.“
Ja, Harari schreibt zurecht von der „Verschmutzung der Informationssphäre“. Seine politischen Empfehlungen sind allerdings wenig konsistent, etwa wenn es um die Über-Macht weniger Tech-Konzerne geht, die „uns in eine neue perverse Ordnung eingezwungen haben“. Google-Mitgründer Larry Page habe schon 2002 offenbart, dass es gar nicht nur um Internet-Suche gehe: „In Wirklichkeit entwickeln wir eine KI.“
Mal referiert Harari, Aktivitäten von Firmen wie Google oder Tiktok könnten dort besteuert werden, wo sie aktiv sind (auch in Ländern wie Uruguay), dann wieder geht es ihm darum, die in Algorithmen enthaltenen Vorurteile offenzulegen, einen „Wahrheitspfleger“ einzufordern oder Menschenfälschungen im Netz genauso zu verbieten wie „Blüten“ im Zahlungsverkehr. Und er fordert den Erhalt von „Privacy“, eine nötige Dezentralisierung und schließlich „Gegenseitigkeit“ – der russische Geheimdienst FSB und Amazon sammeln alles, selbst weiß man nichts über sie. Europäische Ansätze wie der „AI Act“ interessieren ihn nicht besonders.
Harari ist aber auch optimistisch: KI, Roboter und 3D-Drucker könnten etwa Textilproduktion wieder nach Europa bringen: „Mit Messer können wir einen Menschen ermorden, sein Leben bei einer Operation retten oder Gemüse schnippeln, so ist es auch mit Computern.“ Der Mensch habe Einfluss auf Tempo, Form und Richtung der KI-Revolution: „Um weisere Netzwerke zu schaffen, müssen wir sowohl das naive als auch das populistische Informationsverständnis aufgeben, unsere Unfehlbarkeitsfantasien ablegen und uns der harten und eher profanen Arbeit des Aufbaus von Institutionen mit starken Selbstkorrekturmechanismen widmen.“ Der Sokrates-Satz: „Ich weiß nichts, dass ich nichts weiß“, müsse auch für Algorithmen und Computer gelten.
Das sind schöne Glaubenssätze. Aber wie genau soll das mit der Selbstkorrektur laufen? Und: kommt es auch so? Harari bleibt im Abstrakten. Und orakelt selbst: „KI könnte nicht nur die menschliche Herrschaft auf der Erde auslöschen, sondern auch das Licht des Bewusstseins selbst, und damit das Universum in ein Reich völliger Dunkelheit verwandeln.“ Hier stehe möglicherweise das Ende der Menschheitsgeschichte auf dem Spiel – „nicht das Ende der Geschichte, sondern das Ende des vom Menschen dominierten Teils“. Spiel mir das Lied vom Tod.
Hararis Verdienst ist, den großen Bogen aufzuzeigen. Seine Warnungen vor KI sind allerdings eindrucksvoller als seine Rettungsideen. Er zitiert Goethes „Zauberlehrling“ und folgert: „Rufe nie Mächte herbei, die du nicht beherrschst!“ Aber diese Mächte sind längst da. Der Alarmist Yuval Harari wird all die Manager und Politiker, die ihn so gerne regelmäßig zwecks Informationsaustausches treffen, zu mehr Aktion treiben müssen. „Wir haben weniger Spielraum für Fehler.“ Bisher habe die Menschheit bestenfalls die Note 4 verdient: „Diesmal müssen wir es besser machen.“