Guter Journalismus trägt oft Momente der Entzauberung anderer in sich. Der Radsportheld, der ein hundsgemeiner Doper war; der christlich-konservative Politiker, der mit der Dauergeliebten eine Tochter hat; der CEO, der die Umsätze seines Megakonzerns künstlich aufgebläht hat. Branche und Publikum mögen solche Geschichten.
Auch die Medien selbst, das Terrain der entzaubernden Journalisten, sind nicht frei von solchen Mechanismen. Wie auch? Und so kommt es, dass der im Jahr 2024 bisher am stärksten beachtete journalistische Text auf einmal im Verdacht steht, gar nicht so herausragend zu sein.
Es geht um das vermeintliche Lehrstück „Geheimplan gegen Deutschland“ über ein konspiratives Treffen rechtsgewirkter Netzwerker in einem Landhotel bei Potsdam: reiche Geldgeber, beinharte Aktivisten und extreme Politiker hatten an einem Novembertag 2023 erörtert, wie sich die Republik über eine andere Ausländerpolitik, besser: Anti-Ausländerpolitik, verändern lasse. Stargast war der gut-völkische Autor Martin Sellner, der in seinem Heimatland Österreich die „Identitäre Bewegung“ anführte. Sein Thema: „Remigration“ – also Abwanderung statt Einwanderung.
Der Potsdam-Report über dieses Gekungel erschien auf der Internetplattform des spendenfinanzierten Investigativ-Medienhauses Correctiv. Von dort nahm die Kunde über die Echokammern von Social Media rasch den Weg in die alte Welt der Presse und in die Gesellschaft. Es folgten Großdemonstrationen gegen rechts, jede Menge Distanzierungen und ein Journalistenpreis.
Alles fauler Zauber? So könnte man die jüngste Brachialkritik der medienpublizistischen Plattform Übermedien deuten. Gleich drei Autoren monieren handwerkliche Fehler: „Der Correctiv-Bericht verdient nicht Preise, sondern Kritik – und endlich eine echte Debatte.“ Das Verdikt ist mindestens so starker Tobak wie die frei drehende Assoziation im kritisierten Correctiv-Text, wonach es „womöglich auch Zufall“ sei, dass gerade diese Potsdamer Villa für das konspirative Treffen ausgewählt worden sei – knapp acht Kilometer entfernt vom Haus der Wannsee-Konferenz, wo 1942 Nazis die Massenermordung von Juden zum Verwaltungsakt machten.
Man merkt, es dominiert auf allen Seiten das Stilmittel der Übertreibung. Wie wäre es, einmal in aller Ruhe drei Ebenen zu betrachten: jene der Fakten, des Handwerks und der Wirkung.
I. „Remigration“: Der politische Kontext
Niemand im Land wusste, bis zum Correctiv-Bericht, besonders viel von einem „Düsseldorfer Forum“. Niemand hatte von einer an „Patrioten“ gerichteten Einladung nach Potsdam gehört, zum Wohl eines exklusiven Netzwerks, 5000 Euro Mindestspende empfohlen.
Die Correctiv-Recherchen ergaben weiter: Eingeladen hatten Ex-Zahnarzt Gernot Mörig, Traditionalist der rechtsextremen Szene, sowie der Investor Christian Limmer („Hans im Glück“). Limmer blieb der Konferenz fern und distanzierte sich später von dem Treiben. Die Sache mit den Ausländern nahm auch so ihren Gang. Gastredner Sellner beschrieb drei Zielgruppen der Migration, deren Ansiedlung rückabzuwickeln sei: Asylbewerber, Ausländer mit Bleiberecht und „nicht assimilierte Staatsbürger“. Letztere seien „das große Problem“. Aber wie soll das gehen? Irgendwann präzisierte er, so gab es Correctiv wieder, man müsse „hohen Anpassungsdruck“ ausüben, etwa über „maßgeschneiderte Gesetze“. Es handele sich um ein „Jahrzehnteprojekt“.
Über solche Thesen diskutierten – das dokumentierte Correctiv mit Vor-Ort-Aufnahmen – unter anderem vier Kräfte der AfD, drei Aktivisten, drei Sympathisanten (darunter zwei leitende Mitglieder der Werteunion) sowie ein halbes Dutzend anderer Zuhörer, wie Correctiv schildert. Ulrich Siegmund, AfD-Fraktionschef in Sachsen-Anhalt, erwähnte eine nötige Änderung des Straßenbilds (ausländische Restaurants!) und warb für Parteispenden. AfD-Anwalt Ulrich Vosgerau schließlich zeigte sich skeptisch, ob sich junge Wählerinnen türkischer Herkunft wohl eine unabhängige Meinung bilden könnten. Die Runde redete auch über eine mögliche Agentur für rechte Influencer. Roland Hertwig, damals rechte Hand von AfD-Chefin Alice Weidel, signalisierte Offenheit: „Wir sind also bereit, Geld in die Hand zu nehmen und Themen zu betreiben, die nicht unmittelbar nur der Partei zugutekommen.“
So schrieb es Correctiv auf. Juristisch wurden Details des Berichts angefochten, die geschilderte Dramaturgie wurde von den Betroffenen nicht in Frage gestellt. Weder der geschilderte Ablauf der Konferenz noch die weitaus größte Zahl der direkten Zitate stehen in Abrede. So sieht der Kontext aus zu einer ominösen Konferenz und einer bei Wahlen auffallend siegreichen Partei, die fortwährend Ideen und Geld von ganz rechts anzieht – und die in die bürgerliche Mitte diffundiert.
II. „Alarmiertheit“: Das Handwerk
Correctiv verwendete einige Mühe darauf, Stellungnahmen der Beteiligten einzuholen. Man hat Greenpeace als Partner und mit Jean Peters einen eigenen Rechercheur als Hotelgast am Ort des Geschehens platziert. Der Ex-Aktionskünstler („Peng!-Kollektiv“), der schon mal AfD-Frau Beatrix von Storch eine Torte ins Gesicht geworfen hat, redet im Mai auf der Konferenz re:publica offen über seine Uhr mit eingebauter Kamera und den Potsdam-Scoop. Der veröffentlichte Text kommt wie ein Theaterstück daher: drei Akte, neun Szenen, Prolog, Epilog. Das Werk hat es als szenische Lesung auf die Bühne geschafft. Es gab einen Dramatiker-Preis und eine Buchveröffentlichung: „AfD-Komplex“.
Das ist die eine Seite. Auf der Mikro-Ebene nun begegnet man Übermedien: dem Gründer und versierten Medienjournalisten Stefan Niggemeier (der, bevor er Anfang der Nullerjahre zur FAZ ging, auch für die SZ gearbeitet hat), dem Chefredakteur von Legal Tribune Online, Felix W. Zimmermann, sowie dem Ex-Geo-Vormann Christoph Kucklick, der als Leiter der Henri-Nannen-Journalistenschule heute die Rolle eines Gralshüters der Journalistenausbildung hat. Die Drei greifen ein, und zwar mit Florett und Säbel: Der Text sei so schwach, „er unterstellt, statt zu belegen, er raunt, statt zu erklären, er interpretiert, statt zu dokumentieren.“
Es sei anzuerkennen, dass Correctiv über Strukturen in der rechten Szene aufkläre, sagt Nannen-Schulleiter Kucklick der SZ. Aber es gelte dennoch: Ein unpräziser Artikel mit guter Wirkung bleibe ein unpräziser Artikel. Das Anliegen der Übermedien-Kritik sei, sagt Kucklick: „Arbeitet gewissenhafter! Belegt, was ihr behauptet“ – Und: „Bestimmte Mätzchen sollten man einfach lassen.“ Es geht aber nicht nur ums pure Handwerk. Bei Übermedien heißt es: Der Text habe eine „systematische Unsicherheit“ erzeugt über das, was eigentlich die Aussage des Artikels sei und worin der Skandal von Potsdam besteht.
Es ging in Potsdam tatsächlich nicht direkt um die Ausweisung von deutschen Staatsbürgern aus rassistischen Motiven. Sellner redete nebulöser über Remigration. Unter dem Begriff kann man sich viel vorstellen. Als der AfD-Politiker Björn Höcke einmal die „geordnete Rückführung der hier nicht integrierbaren Migranten in ihre ursprünglichen Heimatländer“ als „gesamteuropäisches Remigrationsprojekt“ verkaufte, wurde das Oberverwaltungsgericht Münster im Rechtsstreit um die Frage, ob die AfD von Verfassungsschützern beobachtet werden dürfe, konkret: Die Formulierung lege „zumindest nahe, dass auf lange Sicht auch deutsche Staatsangehörige mit Migrationshintergrund Deutschland verlassen sollen, wenn sie kulturell nicht integriert sind.“
Es liegt hier vieles nahe. Andererseits nicht nahe genug, dass man es korrekterweise hammerhart schreiben kann. Zu Recht beklagen die Kritiker einen überjazzten Vorspann. Korrekt auch, dass man den erprobten Rechtsradikalen Sellner, der sich oft in schärfsten Tönen geäußert hat, insgesamt zu leicht vom Haken kommen lässt (Correctiv widmet ihm einen Infokasten). Alles, was aus dem angeblichen „Masterplan“ Sellners zitiert werde, seien „drei Satzfetzchen“, ätzt Übermedien.
Noch schlimmer aber wiegt die Kritik an der Wannsee-Passage und an einem Correctiv-Hinweis zu Sellners Idee eines nordafrikanischen „Musterstaats“, der Migranten aufnimmt: „1940 planten die Nationalsozialisten, vier Millionen Juden auf die Insel Madagaskar zu deportieren.“ Den Gedanken einer Deportation deutscher Staatsbürger habe Correctiv „über eine Spekulationskaskade in den Bericht“ geschmuggelt, so der Vorwurf, das führe zur „maximalen Alarmiertheit“.
Okay, stimmt. Manches hätte man bei Frontal oder Spiegel oder überhaupt bei einer sorgfältigen Redigatur sicher sofort herausgestrichen. Es gibt Fehlerhaftes, Missverständliches. Eindeutig zu viel „Peng!“ Aber diese Einwände sprechen nicht final gegen den Text, in dem die Menge präsentierter Fakten beeindrucken kann. Der Neuigkeitswert des Artikels ist hoch. So etwas kommt nicht mit der nächsten Amazon-Lieferung, sondern braucht viel Vorarbeit. Und die meisten der Interpretationen sind per se nicht verwerflich, da die zugrunde liegenden Tatsachen auch im Text stehen. Das alles spielt bei Niggemeier & Co. eine zu kleine Rolle.
III. Kulturkampf: Die Wirkung
Wirkmächtig war der „Geheimplan gegen Deutschland“. Auf den Text folgten bemerkenswerte Ereignisse. Alice Weidels Assistent: Arbeitsvertrag aufgelöst. Konferenz-Einlader Limmer: seine Beteiligungen an der Burger-Kette „Hans im Glück“ und am Lieferdienst „Pottsalat“ verkauft. Marine Le Pen, die rechtslastige französische Politikerin: Zusammenarbeit mit der AfD-Fraktion im Europaparlament eingestellt.
Vor Gericht gab es mehrere Kleingefechte um Formulierungen. So setzte sich AfD-Anwalt Vosgerau schon mal durch, oft aber auch nicht. Aber die Tagesschau kann, so das Hamburger Oberlandesgericht per Eilverfahren, zunächst nicht mehr behaupten, in Potsdam sei über „Ausweisungen“ gesprochen worden. Correctiv-Chef David Schraven schließlich darf nicht länger behaupten, das Landgericht Hamburg habe den Kern des Correktiv-Artikels bestätigt – eine solche Aussage hatten die Richter bewusst nicht treffen wollen.
Die Sache ist aufgeheizt. Nuancen sind plötzlich die Hauptsache. Schließlich ist der Hotel-Report offenbar Teil eines Kulturkampfs in einer hypernervösen Zone. Die einen verteidigen die Demokratie, die anderen ein Deutschland mit den Deutschen, die sie dafür gerne hätten. Es geht um Deutungshoheit im vorpolitischen Raum. Hier dreht man Stimmungen. Kein Wunder, dass ganz rechts das Portal Nius gegen die „Deportationslüge“ wetterte und die Junge Freiheit gegen eine „Räuberpistole“.
Links-liberal gegen rechts: „Die einen vermeiden es, den Text zu durchleuchten, weil sie seine Wirkung feiern, die anderen zerlegen den Text vor allem, um seine Wirkung zu diskreditieren“, steht in Übermedien. In der Mitte: ein sich ausbreitendes Vakuum.
Correctiv-Chefredakteur Justus von Daniels sagt auf Anfrage, jeder habe das Recht, „unseren Text besser oder schlechter zu finden“. Ihn selbst überrasche, dass die Übermedien-Autoren vieles vermischen würden (Stilkritik, rechtliche Würdigung, Analyse der Medienrezeption): „Ich habe aus dem Text nichts gelernt.“ Der Kern der Recherche sei juristisch nicht angegriffen worden. Auch das Erwähnen von Wannsee und Madagaskar wäre demnach kein Fehler gewesen. Es sei eine bloße Spekulation, so Daniels, ob die Assoziation zu Deportationen die vielen Deutschen zum Demonstrieren gebracht hätten. Er glaube, das habe vielmehr an der „Aufdeckung einer gezielten Zusammenarbeit von Ideologie, Politik und Geldgebern“ gelegen.
Die Journalisten-Vereinigung Netzwerk Recherche will nichts rund um ihre kürzlich an Correctiv verliehene Auszeichnung „Leuchtturm“ zurücknehmen. „Übermedien überzieht“, findet der Netzwerk-Vorsitzende Daniel Drepper – der Correctiv mitgegründet hatte. Der Potsdam-Bericht sei „absolut preiswürdig“. Es werde gezeigt, dass auch eine kleine Redaktion Zeichen setzen könne – „und zwischen Netflix-, Spotify- oder Instagram-Ablenkung herausragt“. Drepper: „Deshalb wollten wir ihr den Rücken stärken.“ Der Chef des Rechercheverbunds von NDR, WDR und Süddeutsche Zeitung sagt aber auch zum Potsdam-Komplex: „Natürlich hätte man an der ein oder anderen Stelle anders formulieren können, aber das lässt sich über viele Artikel sagen.“
Manchmal jedoch macht man sich so ohne Not angreifbar – und entzaubert sich selbst.