Viele schreiben über das Klima-Fiasko. Aber keiner findet dafür eine so originell deklinierte Theorie wie Peter Sloterdijk. Der Philosoph – in einschlägigen Listen als einer der wichtigsten deutschen Denker geführt – wählt eine eingängige Allegorie. Weil es buchstäblich brennt auf der Erde mit ihren Hitzeperioden, rückt in seinem neuen Groß-Essay Prometheus ins Zentrum: der Titan der griechischen Mythologie, der aus lauter Menschenfreude das Feuer auf die Erde gebracht haben soll, dafür von Zeus aber zur Strafe an einem Felsen festgeschmiedet wurde.
Dieser Veteran ist für Sloterdijk die Hauptfigur der Menschheitsgeschichte und damit auch der aktuellen Zerstörung, die junge Protestierende zu Kleber-Rebellen im Straßenverkehr macht. Denn das mittlerweile toxische Feuer ist überall, in den Motoren der Autos, in den Hochöfen, in den Öl- und Gasheizungen, die der amtierende Bundeswirtschaftsminister ganz schnell verbannen möchte. Die Bändigung der Natur durch das Feuer habe die Zivilisation geprägt – und nicht die Macht der Arbeiter, dem Naturstoff etwas abzugewinnen. „Alle Geschichte der bisherigen Menschheit bedeutet die Geschichte von Applikationen des Feuers“, antwortet Sloterdijk auf Karl Marx. Für den Hobby-Ökonomen war Geschichte nichts anderes als die Geschichte von Klassenkämpfen.
Doch das im Marxismus so hymnisch beschriebene Proletariat habe von Anfang an nur als „Juniorpartner der maschinentreibenden pyrotechnischen Energien aus dem Altertum fungieren können“, heißt es bei Sloterdijk. Die wahre Macht kam aus den Brennkammern der Maschinen.
In Sloterdijks kleinem Opus über eine verkokelnde Welt sind die Biedermänner des Alltags zu großen Brandstiftern geworden. Sie haben im jahrhundertelangen fossilen Wachstumsrausch CO2 in die Luft gejagt. Verbrannt worden seien die Wälder und Moore der vergangenen Jahrtausende, all die Kohle und das Koks. Moderne Zivilisation, das sei in Wahrheit nur der Ausdruck der „Effekte von Waldbränden“, schreibt Sloterdijk: „Die moderne Menschheit ist ein Kollektiv von Brandstiftern, die an die unterirdischen Wälder und Moore Hand anlegten.“
Und da stehen wir jetzt in unserer Verzweiflung. Die Flöze in England, Frankreich oder Deutschland, den alten Industrieländern, längst abgebaut. Der Hunger nach Kohle und Öl (dem Plankton früherer Meere) in Indien, China und etlichen Schwellenländern aber weiterhin hoch. Noch ein halbes Jahrhundert kann das so weitergehen mit der Ausbeutung der Vergangenheit, kalkuliert die rentabilitätsversessene Ölindustrie (Sloterdijk: „pyromanische Internationale“), weitere 50 Jahre mit Erderwärmung und Klimawandel.
In der Fantasie des deutschen Philosophen steigt Prometheus vom Felsen herab und schämt sich. Der Titan habe diesen „weltverzehrenden Riesenbrand“ nicht gewollt, dieses fatale Geschenk, diese „pyromanischen Entfesselungen“, diese „Kraft des Üblen“. Die Rauchwolken über den Feuerstellen bedeuteten nichts Gutes: Sie stellten den Bestand der Welt im Ganzen in Frage – und bedrohten auch das Erfolgsmodell der Frühsozialisten. Diese Gruppe rund um den französischen Publizisten Henri de Saint-Simon lobte die „Industrielle Klasse“ als Garant des Fortschritts aus, all die produktiven Arbeiter, Handwerker, Unternehmer, Erfinder, Wissenschaftler, die für jenen Wohlstand sorgen, der auch die Sozialtransfers an die „Parasitären“, die nicht-produktiven „Müßigen“ finanziert. Heute würden die Ärmeren der Wohlstandssphäre den Armen der übrigen Welt fast wie Wohlhabende gegenüberstehen, notiert Sloterdijk fast ungläubig.
Zusammen mit dem Liberalismus hätten die Frühsozialisten die Formel in die Zukunft getragen, dass eine Ausbeutung des Menschen durch den Menschen nur durch die Ausbeutung der Erde im Interesse des Menschen zu verhindern sei, eine „Ausbeutungsverschiebung“. Moderne Gesellschaften würden eher „Konsumvereinen als Kampfverbänden vom Typus Volk in Waffen“ gleichen. Massenproduktion, auch Massentierhaltung, hätten Billigkonsum ermöglicht; auch Arbeiter können – im Zeichen des Feuers – lange schon Fleisch genießen, selbst wenn die Fleischindustrie ein „globaler Gulag der Tiere“ sei. Sloterdijk: „Das geldbewegte Gesamtsystem ist ohne seine luxuriende Konsumseite mitsamt ihrer babylonischen Unterhaltungs- und Amüsierbetriebe nicht mehr vorstellbar, seine Anhänge Sportbetrieb und Tourismus einbegriffen.“ Die Digitalisierung des Warenangebots mitsamt Delivery-Agenturen à la Hello Fresh stünde „ganz im Dienst der Absenkung von Konsumentenstress“. Smartphone, Kreditkarte und Personal Computer seien „unentbehrliche egotechnische Operatoren“ geworden.
Nun aber bedrohe der Feueralarm Freiheit, Autonomie sowie die gewachsene Teilhabe an den Gütern des Überflusses. Eine brandstifterische Elite von Ingenieuren und interkontinental operierenden Handelsgesellschaften habe ein weltweites Netzwerk der Energieabhängigkeiten geschaffen.
Das kleine Buch fasziniert durch die Kraft der Assoziationen und die unbändige Lust, vorhandene Theorien zu einer neuen, eigenen Geschichte der Menschheit zusammenzufügen. Es wirkt, als sei bei Sloterdijk gesellschaftskritischer Furor neu erwacht. So geht der 75-Jährige in einem anderen demnächst erscheinenden Buch die globale Wirtschaftselite an: Mit „unverdünntem Schwachsinn“ melde sie sich regelmäßig von der „Alpenfestung Davos“ zu Wort, heißt es zum dortigen „Weltwirtschaftsforum“, die Konzerne und ihre Protagonisten unternähme eine gemeinsame Wallfahrt zu ihren Irrtümern. Er sei ein „Extremist der Desillusionierung“, bekannte der Philosoph im Interview mit „The Pioneer“.
Dieser Extremismus wirkt indes anachronistisch, wenn es um Frau und Mann geht. So registriert er im Prometheus-Buch nebenbei, eine monotone Frauenpresse arbeite erfolgreich “an der fortgehenden Modellierung eines semifeministischen, konsumintensiven, in Haus und Büro dynamisch auftretenden, selbstpflegend-narzisstischen Subjekttyps, bei dem der Faktor Mann zu einem Autonomie-Hindernis, gegebenenfalls zu einem Accessoire“ herabgestuft werde.“ Schon 2021 hatte Sloterdijk in einem Buchgespräch mit dem konservativen Philosophen Alain Finkielkraut permanent mit dem Klischee vom „alten, weißen Mann“ kokettiert. Man dürfe sich als öffentlicher Intellektueller „nicht ständig die Agenden moralisch offensiver Kleingruppen aufdrängen lassen“, erklärte er zu LGBTQ-Themen.
Bei den Betrachtungen zum Klimawandel ist das anders. Das ist ein Mehrheitsthema. Sloterdijks Fazit: Die summierten Effekte der feuerspeienden Konsumwelt würden in der fossilen Ära die rationalen Erfordernisse des försterlich-nachhaltigen Wirtschaftens nicht erfüllen – also, dass man einen neuen Baum pflanzt, wenn man einen alten fällt. (Das alberne PR-Bäumepflanzen als Kompensation ökologischer Missetaten hier mal beiseitegelassen.) Die weltweite Brandstiftung werde einmal als Verbrechen genauso verurteilt werden so wie heute Aspekte des Kolonialismus.
Was aber folgt auf die Abfackelung der unterirdischen Wälder, auf die Scham? Nichts weiter als die die „prometheische Reue“ – wobei Sloterdijk von „Selbstbetrug“ spricht, wenn sich alle Welt derzeit mit dem Label „Nachhaltigkeit“ dekoriert. Hier verliert sich der Autor allerdings in Widersprüchen. Einerseits ist er völlig pessimistisch. Weder striktes Energiesparen noch die Umstellung auf Erneuerbare Energien könnten bis auf weiteres die große „Ekpyrosis“ aufhalten, den Weltenbrand, die Wiederauflösung der Welt im Feuer. Andererseits jedoch preist er vollmundig „post-promethische“ Technologien (Solartechnik, Biogas, Wind, Wasser, Geothermie) und lobt einen „energetischer Pazifismus“ sowie utopisch anmutende Innovationen: Da verarbeiten künftig mikrobische Farmbetriebe organische Rohstoffe zu Nahrungsmitteln, kommt es zu einer intelligenten Energetik, bei der etwa Zehntausende Läufer eines großen Citymarathons viel Strom erzeugen oder lässt man Vulkane nicht mehr länger unkontrolliert ausbrechen, sondern schließt sie an Tiefenkraftwerke an („von Göttern enttäuscht liegt der Pakt mit den unterirdischen Titanen nahe“).
Zum nötigen Aufbegehren gegen die Brandstifter gehört für Sloterdijk der Trend zu lokalen Ökonomien und ein Ende des „Irrtums“ großer Nationalstaaten und überverdichteter Megacitys. Jeder politisch-soziale Großkörper über 25 Millionen, jede urbane Agglomeration von mehr als 500.000 Menschen sollte zur Plage der Zivilisation erklärt werden. „Zu groß“ sei definitiv zukunftslos, gibt Sloterdijk zu Protokoll, obwohl sich Staaten (vor allem China) und Multis gegenwärtig durch „zukunftsgierige Sprachspiele und visionäre Gestikulationen hervortun“.
Ihm schwebt vielmehr das Modell „Schweiz“ vor – die „Helvetisierung des Planeten“ sei das „Gegenmittel zu Gewaltmärschen in die Natur- und Selbstzerstörung“. Da ähnelt er dem deutschen Ökonomen Wilhelm Röpke, der Dezentralisierung bevorzugte und ein großes Schweizer Dorf mit intakten Handwerksbetrieben und Manufakturen zum Ideal erklärte. Im Übrigen sei es ein Fehler gewesen, den Nationalstaaten das Recht an den Bodenschätzen in ihrem Territorium zugesprochen zu haben, es hätte zum „Weltbodenschatzerbe“ erklärt werden müssen, analog dem Unesco-Weltkulturerbe, merkt Sloterdijk an.
Wo er mit Sicherheit richtig liegt, ist die Beschreibung eines neuen Verteilungskonflikts, dessen Vorboten wir schon erleben – jene Auseinandersetzung zwischen Sparern und Verschwendern von Energie, von „Askesebereiten“ und „den Verfechtern eines Menschenrechts auf Leichtsinn“. Wo Sloterdijk, der in seiner Jugend zwei Jahre im indischen Ashram verbrachte, in diesem Streit steht, wird überdeutlich. Er hält es mit dem Soziologen Bruno Latour (1947-2022), der sich für die sorgenpflichtigen Bewohner der Erde („Kinder Gaias“), ergo die „ökologische Klasse“, aussprach in ihrem Kampf mit den „Agenten einer malignen Globalisierung“, wie Sloterdijk das nennt. Die verziehen sich in eine klimatisierte Welt aus Glas wie in Arabien (Doha, Dubai, Riad) oder sogar ins All, „als wären sie seit jeher Extraterrestrische gewesen, die nach vollzogener Plünderung des Planeten weiterziehen“.
Wo der von ihm ständig zitierte Karl Marx ketzerisch dekretierte: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt aber darauf an, sie zu verändern“, verbreitet Sloterdijk Lust am Wandel. Gewaltfrei soll es zugehen beim Retten der Flammenwelt, unter dem Eindruck von Zeitnot und Handlungsgebot solle den Bürgern klar werden, was die Uhr geschlagen hat. Zu leicht machten es sich dagegen radikale Klimaaktivisten, die mit einem „grünen Leninismus“ Ölkonzerne mittels Sabotage zerschlagen wollen. Da hält es Sloterdijk lieber mit verantwortlicher Energie- und Weltpolitik – sowie mit der Teilnahme an einer „von Einsicht bestellten freiwilligen Feuerwehr“.
Marx schrieb: „Proletarier aller Länder vereinigt euch!“ Sloterdijk schreibt: „Fire-Fighters aller Länder, dämmt die Brände ein!“