Es gibt keinen Ort der Welt, an dem die Gehässigkeiten und Zumutungen dieser Tage weiter entfernt sein könnten als auf einer Liege im Ayurveda-Zentrum auf Sri Lanka. Insbesondere dann, wenn fortwährend heißes Öl auf die Stirn rinnt. Zwei Dutzend Mal von links nach rechts und zurück, Beruhigung für das, was sie in asiatischen Religionslehren „Drittes Auge“ nennen, der Name für ein besonderes Energiezentrum.
Wer will da schon viel über Kettensägen-Fantasien, „Woke“-Debatten oder Strong-Men-Attitüden wissen, die derzeit Hochkonjunktur haben? Trumpismus? Elon Musk? Was jetzt zählt, ist die richtige Temperatur des Öls (36 Grad Celsius), das Therapisten in kontinuierlichen Bewegungen auf den Kopf fließen lassen.
„Is warm good, Sir?“, fragt Shammi, Leiter einer vierköpfigen sri-lankesisschen Betreuergruppe, die für 14 Tage Regie über mein Leben führt. Er fragt das immer: „Is warm good, Sir?“ Eine Frage wie ein Ritual bei dieser Prozedur, die „Shirodhara“ heißt. Dieser Stirnguss, angeblich wird dabei ein „Himmelstor“ geöffnet, markiert so etwas wie den ersten Höhepunkt einer Ayurveda-Kur – die wiederum ihrerseits eine Art physische und psychische Generalüberholung ist und seit mehr als zweieinhalbtausend Jahren nach uralten indischen Lehren abläuft. Das Ziel: die Selbstheilungskräfte des Organismus in Schwung zu bringen.
Die Welt mag ein gefährlicher Ort sein, wie man bei Donald Trump früh lernen konnte, hier ist sie ein friedlicher, ruhiger, fast schon langweiliger Ort.
Solche Reisen zu einer Kur gemäß der Lehre von Ayurveda (wörtlich: „Wissenschaft vom Leben“) sind seit einiger Zeit schwer in Mode bei mehr oder weniger gestressten Europäern, die nach einem temporären Ausbruch aus ihrem gewohnten Zivilisationsstil suchen oder gezielt alternative medizinische Hilfe ausprobieren. Unter den 27 Prozent aller Touristen, die nach Zahlen sri-lankischer Tourismusexperten zwischen 2020 und 2024 Ayurveda ausprobierten, stellten die Deutschen mit 43 Prozent die größte Gruppe. Die Sache mit Shirodhara ist ein erheblicher Wirtschaftsfaktor für das hochverschuldete Land, das auf nur 85 Milliarden Dollar Bruttoinlandsprodukt kommt und 2024 eine neue Werbekampagne für mehr Tourismus aufgelegt hat.
Nach einer Zwischenkrise in der Corona-Zeit waren die Besucherzahlen auch in den anderen Ayurveda-Länder Indien und Nepal zuletzt wieder stark gestiegen. Nur auf Sri Lanka wird Ayurveda als komplettes Gesundheitssystem staatlich angeboten, auch wenn zum Verdruss vieler Traditionalisten westliche Medizin hier immer mehr Boden gutmacht. Während auf dem indischen Subkontinent im Mittelalter ausländische Mächte Ayurveda für fast 150 Jahre verboten, wurde dieses medizinische Wissen auf Ceylon, wie die Insel im Indischen Ozean früher hieß, ohne Stopp weiter erprobt.
Gerade in diesem kleinen Land entstehen auch jetzt noch überall neue Ayurveda-Zentren, mal in großen Hotels, dann wieder in kleinen Anlagen mit wenigen Zimmern. Mitunter sind Deutsche oder Österreicher die Betreiber. Es gebe mittlerweile „tausende Ayurveda-Zentren“, sagt Thoshara, seit vielen Jahren Dienstleister für westliche Touristen. Auch er hat mittlerweile sein eigenes Ayurveda-Hotel eröffnet.
Viele kleine Reiseveranstalter haben sich auf Gesundheit auf Sri Lanka spezialisiert. „Das Thema erlebt einen Dauerboom“, sagt die Münchener Touristikvermittlerin Barbara Uder. Sie war 1998 eine Pionierin in Sachen Ayurveda.
Sogar der verstorbene CDU-Fahrensmann Helmut Kohl (1930 bis 2017) erwies sich als früher Ayurveda-Fan. Das bekam im Dezember 2004 alle Welt mit, weil der langjährige Kanzler den Tsunami im dritten Stock im „Paragon“ an der sri-lankesischen Südküste überlebte und darüber Interviews gab. Das luxuriöse „Paragon“ ist das zweitälteste größere Hotel mit Ayurveda-Angebot auf Sri Lanka (gegründet 1996). Den Anfang hatte in den 1980er-Jahren das „Barberyn Reef“ gemacht, ebenfalls an der Südküste gelegen. Damals waren Yoga und Shirodhara irgendwie noch Hippie-Kram.
Im Jahr 2004 ist mein Quatier entstanden: die traditionell ausgerichtete Ayurveda-Stätte „Maha Gedara“ in Beruwala, 50 Kilometer südlich von Colombo gelegen, zunächst als kleines „Ayurveda Village“ am Rande eines All-Inclusive-Hotels. Inzwischen aber, seit 2011, ist hier alles, unter der Ägide des heimischen börsennotierten Konglomerats Aitken Spence (Touristik, Logistik, Schifffahrt), konsequent ayurvedisch ausgerichtet, ein Wellness-Resort unter der Marke „Heritance“.
Eine ganz andere Frage ist, warum es einen acht Mal hintereinander just an einen solchen Ort führt. Eine Serie von Wiederholungen, die man sehr leicht als einfallslos charakterisieren könnte. Was also ist dran an Ayurveda?
Erste Antwort: Es hat viel damit zu tun, für eine kleine Lebensphase in einer völlig anderen Welt – geschützt, betreut – loslassen zu können. Was interessiert hier die westliche Meeting-Kultur mit ihren zuweilen angehängten „Bullshit-Jobs“?
Zweite Antwort: Ayurveda ist für die körperliche und mentale Gesundheit so etwas wie ein Booster, wenn man sich denn ganz darauf einlassen mag. Ein Trainingslager gegen Burn-out-Gefahren in einem armen Land, das selbst äußerste Genügsamkeit zelebriert: „Ein kleines Reisfeld, ein Wasserbüffel, ein Brotfruchtbaum und einige gute Kokospalmen – das ist alles, was man zum Leben braucht“, so eine sri-lankische Weisheit.
Dritte Antwort: Man bekommt verlässlich genau das, was man erwartet, in gleicher Qualität, von den gleichen Leuten. Ein wenig so, als ob die Zeit stehen bliebe, gefangen in Öl-Schalen. Genau das Richtige für Detoxing.
Was aber geschieht genau in einem solchen Ayurveda-Resort?
Auffällig, wie es in schönster Ordnung im „Maha Gedara“ zugeht: Das Leben ist hier ein Laufzettel. Ein täglich verabreichtes schriftliches „Treatment“-Papier beschreibt, wie sich die Anwendungen über die Stunden so verteilen: Stundenpläne fürs Wohlbefinden. Dazu gehören Massagen aller Art, mit Öl und Pulver und Kräutersäckchen, für Füße, Gesicht, Kopf, Schulter und den ganzen Körper. Aber auch anstrengende Schwitzbäder in einem hölzernen Zuber, Inhalationen oder ein „Herbal Bath“ in der Badewanne sind Teil der Anwendungen. Und schließlich gibt es allerlei Termine für Akupunktur und Spezialbehandlungen, auch für eine – ziemlich unangenehme – Nasenreinigung sowie für – auch nicht gerade vergnügsame – Öl-Einläufe („Vasthi“), also für ayurvedische Darmspülungen.
Das sei die „halbe Miete“, kommentiert ein Gast aus Bayern im Warteraum die „Vasthi“-Prozedur, „da purzeln die Kilos nur so“. Doktor Kalpana, Leiterin des Ärzteteams in „Maha Gedara“, erklärt, dass schätzungsweise 70 Prozent aller Gäste tatsächlich in der Hauptsache kämen, um etwas gegen Übergewicht zu tun. Die Wohlstandsgesellschaft verliert hier ihren Wohlstandsspeck. Es ist dementsprechend normal, in einer Ayurveda-Kur rund fünf Kilo zu verlieren und mit immerhin gestrafftem Bauch die Heimreise anzutreten. Manche, so Kalpana, hätten aber auch konkrete Schmerzen, etwa an Gelenken. Und auch Schlafstörungen sind ein oft auftauchendes Problem.
Natürlich geht es bei einer solchen Panchakarma-Kur in Wahrheit um viel mehr als die bloße Reduktion des Bierbauchs und die Verbesserung des Body-Mass-Indexes – es werden vielmehr generell schlechte Stoffe dem Körper entzogen, gesunde Ernährung wird zugefügt. Der Organismus soll von Stoffwechselrückständen, Umweltbelastungen und Negativgefühlen entlastet werden. Auf Ayurvedisch: Die Lebensenergien Vata (Wind, Luft, Äther), Pitta (Feuer, Wasser) und Kapha (Erde) werden ins Gleichgewicht gebracht. Das „Dosha“ muss stimmen.
Deshalb all die Ausleitungen, deshalb die Einläufe, Abführungen, Nasenspülungen. Gift muss aus dem Körper. Nur Aderlassen oder Erbrechen, die in der traditionellen Lehre auch vorgesehen sind, bleiben dem zahlenden, mitunter auch leidenden Volk im „Maha Gedara“ erspart.
Die medizinische Parforcetour führt zumindest in den ersten Tagen zu völliger Müdigkeit, insbesondere am „Cleaning Day“ mit Abführmitteln und Schonkost. Man trinkt zum medizinalen Geschehen eigentlich permanent lauwarmes Wasser, außerdem viel Kräutertee, und schluckt morgens sowie abends allerlei pflanzliche Arzneien, deren Zusammensetzung geheim bleibt wie die Formeln von Coca-Cola oder Nutella. Irgendwas aus Blüten, Wurzeln, Rinden, Samen und Hülsen halt. Größte Herausforderung ist ein Kräuterpulver, das aufgeklöst in Warmwasser als „Nightcup“ vor dem Schlafengehen zu trinken ist und angeblich das „Agni“ stimuliert, das große Verdauungsfeuer.
Statt einfach aufs Geratewohl zu essen, wie es oft trotz aller gegenteiliger Beteuerungen im deutschen Alltag gang und gäbe ist, sind hier im Ayurveda-Resort die für jeden Ayurveda-Typ ausgegebenen Speise-Empfehlungen strikt zu beachten. Im Angebot sind leichte Suppen, Salate, Gemüse-Currys, Früchte, aber auch Huhn und Fisch, was in ganz strengen Ayuveda-Zentren verpönt ist. Tabu sind dagegen überall Kaffee, Alkohol und Fleisch, also wesentliche Elemente deutscher Esskultur. Für einen wie Markus Söder, der wahlweise paniertes Schnitzel mit Kartoffelsalat, Schweinshaxe oder Nürnberger Rostbratwürstchen preist, wäre eine solche Kur allein schon essenstechnisch eine kaum zu bewältigende Tortur.
Der Tag in „Maha Gedara“ beginnt um 6.40 Uhr mit einer Stunde Yoga nahe dem Meer. Man singt – „Shanti!“ – das Peace-Mantra. Nach dem Frühstück eilen die 80 Gäste irgendwann in obligatorisch orangefarbenen Bademänteln zu ihren Anwendungen. Und bevor überhaupt Hektik aufkommen kann, erzählt ein kleiner Mönch einmal in der Woche, wie man am besten Ruhe findet. In seiner Meditationsstunde bewegt sich die Schar der Gesundenden zur besseren Bewusstseinsbildung in Kleinstschritten von Wand zu Wand. Bei der frühabendlichen Veranstaltung „Spirituelle Programme“ wiederum erscheinen alle in Weiß, das Ärzteteam singt und betet, und am Schluss geht eine lange Schnur durch die Reihen, von der am Ende Armbändchen für alle abgeschnitten werden. Es ist ein bisschen wie bei „Imagine“ von John Lennon: „Imagine all the people/ Sharing all the world“.
Wer es in Sachen Spiritualität genauer wissen will, für den liegt eine Broschüre am Nachttisch neben dem Bett aus: „Buddhism – a living message“. Darin wird eine Religion ohne Zwang geschildert. Zwar hätten Wissenschaftler die Verwandlung der Welt in ein Paradies versprochen, der Mensch aber könne seine Seele dennoch nicht kontrollieren. Gegen den Lärm der Metropolen wird eine einfache buddhistische Weisheit ausgelobt: „Schweigen ist Gold“. So viel zum geistigen Überbau der Gesundheits-Plackerei.
Zu den „Sounds of Silence“ gehört auf jeden Fall der Atem. Mantraartig wiederholt es der Yoga-Lehrer jeden Morgen: „Observe your breathing“, beobachte den eigenen Atem. Einatmen, ausatmen als Mittel gegen den Lärm von draußen, auch, wenn man so will, gegen den neuen Weltunordnungswahn. Ein bisschen Eskapismus, ein bisschen Konzentrationsarbeit. Insgesamt: Innere Wertschöpfung. „Der Flow ist der Glow“, sagt eine Mitreisende am Mittagstisch.
Eine solche Ayurveda-Kur ist für weite Bevölkerungskreise offenbar attraktiv geworden. Man kann auch in Deutschland viel Panchakarma erleben, seit 1993 schon etwa im noblen Parkschlösschen im Mosel-Ort Traben-Trabach, seit einigen Jahren aber auch beispielsweise im Rosana-Kurzentrum in Rosenheim. Authentischer aber ist es zweifellos out of Rosenheim, im Traditionsland Sri Lanka. In sieben Jahren konnte man hier in „Maha Gedara“ zum Beispiel Apothekerinnen aus Düsseldorf, einen Immobilienmakler aus Frankfurt, Versicherungsmanagerinnen aus München, Ökounternehmer aus der Schweiz, Vertriebsmanager aus Berlin, einen bekannten TV-Schauspieler oder einen „Bild“-Kolumnisten erleben. Inzwischen kuren sogar ein Dutzend Russen und einige Ukrainer friedlich nebeneinander.
Am Ende eines Aufenthalts steht das Abschlussgespräch mit der Ärztin. Sie reicht eine Speisen-Empfehlungsliste für zuhause. Als Pitta-Kapha-Typ – festgestellt durch Pulsfühlen – müsste ich demnach auf Krabben, Langusten und dergleichen verzichten, auch auf Tomaten. Linsen, Haferflocken, Hühnchen und Birnen sind super. Dieser Essensplan ist unter dem Strich so wenig realistisch, dass ein Wiedereinzug in einem Jahr hochwahrscheinlich ist.
Und man will ja auch wieder intensiv den vier Tage währenden Stirnguss erleben und danach mit Kopftüchern übers Gelände ziehen, was alles in allem dem Strom heilender Substanzen dienen soll. Durch Shirodhara werden schließlich, so die Theorie, beide Gehirnhälften synchronisiert.
Ein Teil des beim Shirodhara benutzten Öls haben Shammi und sein Team in einer kleinen Flasche aufbewahrt, eine Sammlung mieser Gedanken und abträglicher Gefühle, die angeblich während der Halbstunden-Sessions dem Kopf entwichen sind. An den Flaschenzauber muss man als Agnostiker nicht glauben. Aber Tatsache ist am Ende, dass nach 14 Tagen Ayurveda bei der Rückkunft im kalten Deutschland ein gewisser Energieschub einsetzt. Man ist so bereit, selbst die ödeste Polit-Talkshow zur Bundestagswahl zu ertragen. Einige Fläschen mit braunen und grünen Ayurveda-Pillen sind im Gepäck.
Freunde in Deutschland sprechen von „Jungbrunnen“, immerhin, und fragen, wie das denn so konkret laufe mit dem Stirnguss und solchen Sachen. Und spätestens in solchen Momenten meint man, doch wieder diesen einen kleinen Satz zu hören: „Is warm good, Sir?“