Meine gesammelten Werke: Wie ich die Lage gesehen habe.

Der Ex-Bundespräsident entlarvt die Mythen der Ex-Bundeskanzlerin. Die Demokratie erscheint ihm wegen der Putin-Politik geschwächt.

Handelsblatt, 06. 05. 2023

Joachim Gauck rechnet mit Angela Merkel ab

Der Ex-Bundespräsident entlarvt die Mythen der Ex-Bundeskanzlerin. Die Demokratie erscheint ihm wegen der Putin-Politik geschwächt.

Handelsblatt, 06. 05. 2023

Hinterher ist man immer schlauer, heißt es leicht spöttisch. Andererseits: Zum Verstehen von Geschichte ist es nie zu spät. Und: Sind Lektionen nicht mit etwas zeitlichem Abstand am besten zu lernen?

Solche Fragen spielen eine Rolle bei jenen zwei Ostdeutschen, die an vorderster Stelle eine prägende Rolle in der Bundesrepublik des frühen 21. Jahrhunderts gespielt haben: bei Angela Merkel und Joachim Gauck.

Da ist einerseits die langjährige Bundeskanzlerin, deren ganze Ambition gegenwärtig darauf ausgerichtet zu sein scheint, der Nachwelt ein makelloses Bild abzugeben. Sie müsse keine Fehler zugeben, nur weil das erwartet werde, erklärte Merkel jüngst. Vor allem nicht mit Blick auf Wladimir Putin, den Kreml-Herrscher mit großrussischen Imperator-Gelüsten, den sie so oft diplomatisch kontaktiert hat. Fast trotzig sagt sie, angesprochen auf den russischen Ukraine-Überfall, es sei doch richtig gewesen, es wenigstens zu versuchen.

Da ist andererseits der einstige Bundespräsident, der solchen Zwängen der nachmaligen Verklärung exekutiver Taten nicht unterliegt. Wo Merkel – nicht ohne persönliche Tragik – ihren Kampf um Deutungshoheit kämpft, geht es ihm um Deutungswahrheit. Die Differenz liegt in ihren Rollen begründet: Die Pfarrerstochter – einst Teil von Helmut Kohls Machtmaschine – gestaltete die Welt, Pfarrer Gauck hingegen – zwischenzeitlich Behördenchef zur Aufklärung von Stasi-Verbrechen – erklärte sie.

Diese Konstellation macht Joachim Gauck in seinem neuen Buch frei, offen über Demokratie und Politikversagen zu schreiben – erschütternd offen. Er kann zum leidigen Sujet Russland Worte finden, nach denen Merkel erst gar nicht suchen wird. Klar ist: Die von Olaf Scholz erst Ende Februar 2022 reklamierte „Zeitenwende“ kam für den Ex-Bundespräsidenten schon 2014, mit der völkerrechtswidrigen Annexion der Halbinsel Krim durch Putins „grüne Männchen“.  Die Geschichte lehre uns, „dass territoriale Zugeständnisse den Appetit von Aggressoren nur vergrößern“, sagte Gauck damals bei einem Staatsbesuch in Polen. Linke und linksliberale Publizisten („präsidialer Fehlgriff ersten Ranges“) hätten ihn damals geschmäht, erinnert sich der Autor: Man dürfe den Gesprächsfaden mit Putin nicht abreißen lassen, ein Präsident müsse „Versöhner“ sein.

Die Geschichte aber gab Gauck recht, der lieber auf die warnenden Polen gehört hatte: Deutschland sollte sich nicht vom russischen Gas abhängig und damit erpressbar zu machen: „Sie sahen es – wir sahen es nicht.“

Wenn es um Ökonomie geht, verzichtet Gauck auf genauere Analysen, wie die Konzerne Eon und BASF die Gaspolitik in Wahrheit in einem politisch-industriellem Komplex stimuliert und davon profitiert haben. Er staunt nur, wie sogar nach dem Krim-Jahr 2014 die Wirtschaftsbeziehungen zu Moskau ausgebaut wurden. Ausführlicher geht er auf die guten Seiten der Entspannungspolitik von Willy Brandt, das Ignorieren von Bürgerrechtsbewegungen wie in Polen, die angebliche „Seelenverwandtschaft“ zwischen Deutschen und Russen oder das Heranwachsen der Putin-Autokratie mit Feindbild Amerika ein – sowie auf all die gescheiterten Versuche deutscher Realpolitik, Musterbeispiel: Minsker Abkommens von 2015.

Wieder wird Angela Merkel – indirekt, luzide – zum Thema. Wo sie aktuell behauptet, „Minsk“ sei dem Bemühen entsprungen, „der Ukraine Zeit zu geben“, tritt Gauck als moralisch unbestechlicher Fact-Checker auf: „Was hier wie eine gezielte Taktik zugunsten der Ukraine aussieht, war in der Realität das Gegenteil… Die Bundesregierung ließ die Ukraine gleich mehrfach im Stich.“ Dazu zählt er die Nord-Stream-Ostseepipelines genauso wie das Bemühen, die USA von Waffenlieferungen nach Kiew abzuhalten. „Berlin und Paris versuchten alles zu vermeiden, was Russland zum Gegner gestempelt hätte.“ Die Frage aber sei: Wie lange bleibe man passiv, wenn die vereinbarte Waffenruhe wie in der Ostukraine permanent gebrochen werde? Offenbar hätte man es bei einigen mit der „selben Hartherzigkeit und derselben politischen Blindheit zu tun“, wie sie schon vor 30 Jahren gegenüber den Oppositionellen in Osteuropa herrschten.

Gauck hat für solche Urteile die nötige Autorität. Man liest es, und denkt: Endlich schreibt es jemand auf. Endlich liefert ein Berufener die Selbstkritik, zu der die politische Klasse kaum in der Lage ist. Es stimmt ja: Erst am 24. Februar 2022 wachte die westliche Politik auf. „Weder bei Christdemokraten noch bei Sozialdemokraten existierten Szenarien für Situationen, in denen die Diplomatie an ihr Ende kommt“, kritisiert Gauck. Rote Linien? Ein „Worst case“? Nichts existierte. Man schlafwandelte in einen Krieg hinein: „Uns prägte zu oft ein Wunschdenken.“

Wunschdenkerin Nummer eins war nun mal Angela Merkel, mit der SPD als willfähriger Partner. Dort sei, so der Autor, eine „völlig entkernte Brandt’sche Entspannungspolitik“ zur „Leerformel“ geworden – dabei hatte der Friedensnobelpreisträger einst nur Erfolg gehabt, weil er, so wie Nachfolger Helmut Schmidt, auf Abschreckung nicht verzichtete. Für das Verhältnis von Gerhard Schröder zu Putin hat Gauck nur den Begriff „verschwörerische Kumpanei“ übrig.

Alle deutschen Regierungen hätten Putin unterschätzt und verdrängt, dass Politik letztlich Machtpolitik sei, lautet das Fazit: „Sie haben Deutschland dadurch politisch, wirtschaftlich, militärisch und mental geschwächt und in eine partielle Abhängigkeit gebracht.“ Starker Tobak. Und doch, es bleiben ungelöste Rätsel. Warum Merkel zwar die Lügen Putins und seinen Hass auf den Westen erkannte, aber dennoch an weichen Methoden und an Nord Stream 2 festhielt, all dies sei, so Gauck, „schwer zu entziffern und wird sich vielleicht niemals ganz aufklären lassen“. Man habe nicht wahrhaben wollen, „dass Putin eigene aggressive Ambitionen hinter seinem Opfernarrativ verbarg“ – der Story, USA und Nato hätten Russland umzingelt.

Eine gewisse Enttäuschung ist beim kritischen Zeitbeobachter Gauck unverkennbar. Er hat das Buch zusammen mit der Publizistin Helga Hirsch aus Sorge um die Demokratie geschrieben, als Warnung vor ihren Feinden von außen (Putin) als auch von innen (Extremismus, Desinformation), aber auch als Ermunterung und Aktivierungsappell. Es sei „die Selbstvergewisserung eines Bürgers, der nach den Ursachen aktueller Erschütterungen sucht“, erklärt er selbst. Aber es ist auch die Selbstbestätigung eines Nicht-Uneitlen, der für die Sahra-Wagenknecht-Gemeinde Merksätze heraushaut: „Wer Frieden will, muss Krieg auch verhindern können.“ Europa brauche die „Entschlossenheit der Freien“.

Gaucks Buch hat seine Stärken im ersten Teil, wenn es um Putin geht, wenn in einer breit geworfenen historischen Aufarbeitung auch John Stuart Mill oder Winston Churchill erscheinen: Klartext statt Beschwichtigungs-PR. Im zweiten Teil – Innenpolitik – fällt die Analyse dagegen zuweilen wolkiger und überpräsidentiell aus. Die Ängste der Menschen, die Flucht vor der Wirklichkeit und eine fortschreitende Radikalisierung, gerade in Ostdeutschland, lassen ihn vorsichtig werden. Er registriert, wie Populisten überall zu Nutznießern einer sich verbreitenden Unzufriedenheit werden, „illiberale Demokratien“ drohen, wie Altes stirbt und Neues noch nicht geboren ist. „Alterserscheinungen“ der liberalen Demokratie seien nicht zu übersehen.

Immer wieder warnt Gauck vor zu viel Furor, etwa bei Vorwürfen, andere seien rassistisch oder ausländerfeindlich: „Vorsicht gegenüber dem Fremden ist noch kein Rassismus, der Mensch fremdelt mit dem Fremden.“ Zu schnelle, unkontrollierte Einwanderung lehnt er ab, „inkonsequentes Handeln“ in der Innenpolitik habe die Unzufriedenheit wachsen lassen. Ein Kapitel widmet sich der Kritik an der „Critical Race Theory“. Die Frage ethischer oder rassischer Zugehörigkeit dürfe nicht über die Menschenrechte gestellt werden.

Miteinander, nicht gegeneinander streiten, empfiehlt der Verfasser. Demokratie sei immer im Werden – „wenn sich die Menschen ihr stellen“. Jeder Einzelne solle die Rolle eines „Citoyens“ einnehmen. Angesichts der mangelnden Verteidigungsfähigkeit Europas rät Gauck unbedingt zum fortgesetzten Mentalitätswandel: „Gegen Mächte, die das Recht des Stärkeren durchsetzen wollen, müsse sich jene rüsten, die die Stärke des Rechts vertreten.“ Deutschland müsse sich als „eigenständig und wirklich handlungsmächtig begreifen“. Die Leitlinie „Wandel durch Handel“ aber habe in Krisenlagen keinen Bestand.

Für die Wirtschaft bedeute dies: Diversifikation in Import und Export sowie keine chinesischen Investitionen in wichtige deutsche Infrastruktur wie den Hamburger Hafen. Dort war Olaf Scholz als Fürsprecher des Pekinger Staatskonzerns Cosco aufgefallen. Der Kanzler kann sich von Gaucks insgesamt kluger Abrechnung und dessen Ausführungen über Gebote einer guten politischen Kommunikation direkt angesprochen fühlen: „Entschlossene Führung ist in der liberalen Demokratie keine Gefahr, sondern ein Gebot.“ Man dürfe nicht jeder Umfrage hinterherlaufen. Auch die Scholz-Vorgängerin, die derzeit an ihrer Autobiographie arbeitet, müsste sich beim Lesen des Gauck-Buchs einige Fragen stellen.

Was nun, Frau Merkel?

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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