Eine schalldichte Kabine im vierstöckigen „Bücherturm“ des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung. Der in Kassel lehrende Politikprofessor Wolfgang Schroeder ist hier am WZB Fellow. Ringsum Bücher und Zeitschriftenbände, die kaum einer mehr nutzt, Digitalisierung hat auch hier gesiegt. Nach 40 Minuten muss der Experte zwischendurch n-tv ein Interview geben.
Herr Professor Schroeder, täglich grüßt Donald Trump mit einem neuen Affront. Wie verändert der US-Präsident den politischen Stil im Westen?
Trump exerziert vor, dass große Veränderungen möglich sind, wenn man sich nur auf das Wünschenswerte konzentriert. Ein Trugbild, aber es wirkt attraktiv, weil der Bevölkerung im Politischen alles viel zu lange dauert. Und so gibt es auch in Deutschland die wachsende Versuchung, Trump zu folgen. Dabei wird unser Verhandlungssystem, das auf Kompromissen und kleinen Schritten beruht, immer mehr zur Zielscheibe.
Wie groß ist die Gefahr, dass deutsche Politiker solche „Trump-Momente“ des Durchregierens kopieren?
Die Fünf-Punkte-Aktion von Friedrich Merz im Bundestag zur Migration war ein Miniaturformat des disruptiven Ansatzes von Trump. Glänzende Rhetoriker wie er sind in Gefahr, sich an eigenen Worten zu berauschen. Und Merz stand unter dem Druck von CSU-Chef Markus Söder, der im Wahlkampf lautere Töne forderte. Im Übrigen war Merz von Roland Koch inspiriert. Der CDU-Politiker hat 1999 mit einer Kampagne gegen die doppelte Staatsbürgerschaft überraschend die Hessen-Wahl gewonnen. Solche Kraftmeiereien sind eine Herausforderung für unsere Verhandlungsdemokratie.
Union und SPD wollen mit hohen Schulden die Multikrisen einer Welt im Umbruch bekämpfen. Friedrich Merz, Kanzler in spe, versprach einen „Politikwechsel“. Wird das funktionieren?
Es war jedenfalls klug, Problemfelder wie Investition, Migration oder Klima zuerst anzugehen. Die Finanzen gehören an den Anfang einer Regierungsbildung. Das minimiert Konflikte und ist ein starkes Signal an Europa: Die stärkste Ökonomie des Kontinents investiert wieder und hat eine handlungsfähige Regierung. Das kann auch die Basis für eine neue europäische Führungsrolle sein. Die Ampelkoalition hat bekanntlich immer wieder nach Geld für vereinbarte Projekte suchen müssen.
Viele Ökonomen vermuten eher, hier konstruiere sich eine Koalition einen weiten Finanzrahmen, um Klientelpolitik zu treiben. Von Rentenreform oder Entbürokratisierung ist nichts zu sehen.
Der schwarz-rote Ansatz ist inhaltlich richtig. Aber die Gefahr ist sehr groß, dass sich hier eine kleine Koalition, die vor allem von den Älteren gewählt wurde, den Status-quo von gestern absichert, indem sie elektoral wichtige Klientelgruppen alimentiert. Insofern waren die Korrekturen der Grünen sehr wichtig. Ein Investitionsprogramm, das nur Spiegelstriche und Einzelforderungen abbildet, ist nicht unbedingt ein Zukunftsprogramm. Man sieht nicht, wie aus den vielen Milliarden eine Reform des ganzen Landes werden kann. Das Geld wird versickern, wenn nicht gleichzeitig eine evidenzbasierte Präferenzordnung für eine nachhaltige Modernisierung des Staates entwickelt wird.
Also ein dickes „Aber“?
Zu dieser Präferenzordnung gehört die Neuaufstellung Europas. Sie begann 1984 durch das Bündnis von François Mitterrand und Helmut Kohl. Und in Brüssel wurde zu dieser Zeit Jacques Delors Präsident der EU-Kommission. Aus diesem Neuanfang heraus entwickelte sich nicht nur die Euro-Zone, sondern eine insgesamt breiter aufgestellte EU. Jetzt brauchen wir wieder ein solches Momentum.
Friedrich Merz als europäischer Epigone Kohls?
Das ist die Hoffnung, auch wenn er selbst – jenseits des Bierdeckels zur Steuerminimierung – bislang nicht als Visionär aufgefallen wäre und keine exekutive Erfahrung hat. Aber Merz hat früh Kontakte zu Emmanuel Macron in Frankreich und zu Donald Tusk in Polen aufgenommen, und er ist ein ausgesprochener Transatlantiker. Für mehr Europa kann man schnell bei der Verteidigung beginnen. Wir brauchen eine schlagkräftige Verteidigungsarmee, das schließt Künstliche Intelligenz, Drohnen und Quantencomputing ein. Derzeit haben wir in Europa 20 Armeen, von der – für sich genommen – keine einzige verteidigungsfähig ist. Einen Blankoscheck für grenzenloses Militarisierung darf es allerdings nicht geben; aber moderne Verteidigungsfähigkeit sollte schon sein.
Koalitionen zwischen Union und SPD begannen immer mit maximalen Erwartungen und endeten mit großer Enttäuschung. Warum soll das diesmal anders sein?
Einspruch. Die erste Große Koalition von 1966 bis 1969 bereitete die spätere Entspannungspolitik, eine moderne Gesellschaftspolitik des steuernden Staates, eine bessere Wissenschaftspolitik und innovative Arbeitsmarktreformen vor. Aber es stimmt: In puncto struktureller Innovationen sind die drei schwarz-roten Kabinette von Angela Merkel bedauerlich gewesen. Es ging nun mal mehr um situative Stabilität, mit wenigen Investitionen. Was mich besonders ärgert: Das Schulsystem wurde nicht vom 19. in das 21. Jahrhundert gebracht. Dafür fehlte stets das Geld. Dabei ist Bildung die Basis von allem.
Nur 16,4 Prozent der Deutschen haben SPD gewählt – ein Tiefpunkt. Hat die Traditionspartei noch eine Zukunft?
In gewisser Weise ist die SPD am Boden. Der normale Weg wäre, in die Opposition zu gehen…
…kann sie sich auch in der Regierung wieder aufzurichten?
Dafür gibt es wenige Anhaltspunkte. Zwar gelang ihr 2021 aus der Koalition der Sprung ins Kanzleramt. Das waren besondere Bedingungen. Zugleich hat die SPD die Zeichen der Zeit unzureichend verstanden und war nur begrenzt reformfähig. Mit dem Bürgergeld hat sie sich 2019 stark an den Grünen als Transfergemeinschaft orientiert. Das klassische Arbeitnehmer-Bündnis zwischen den unteren Schichten und dem aufgeklärten Bürgertum verlor die Partei aus dem Blickfeld. Das ist ein Sprengsatz. Ohne eine klare Präposition für den Faktor Arbeit kommt die SPD nicht mit sich selbst überein. Als „grüne Partei zwei“ schlitterte sie tiefer in die Krise.
Schroeder, damals Referent beim Vorstand der IG Metall, ist 1991 in die SPD eingetreten, weil damals in der Gewerkschaft Bekenntnisse gegen den starken ultralinken DKP-Flügel gefragt waren. In der SPD gebe es derzeit niemanden, so der Experte heute, der die Arbeiterschaft symbolisch repräsentiere. Betriebsräte, Personalräte, Handwerker und Altenpfleger fänden hier keine Heimat mehr – die SPD als „Rentner- und Beamtenpartei“, als „urbane Akademikerveranstaltung“. Einerseits wolle sie den Grünen nacheifern, andererseits habe sich ihre Kernklientel in Richtung AfD verabschiedet, sagt Schroeder, langjährges Mitglied der SPD-Grundwertekommission 8bis 2024). Mit einem Wort: die Lage ist „dramatisch“.
Das Narrativ der SPD lautet, eine staatstragende Partei zu sein, die Verantwortung übernimmt.
Für das politische System ist eine solche Staatstreue wichtig. Daraus lässt sich aber keine starke Bezugnahme zu den „kleinen Leuten“ herstellen; daraus wird keine Followerschaft.
Eine Kommission soll nun die Problemlage aufarbeiten, man will mehr „linke Volkspartei“ sein…
…schon 2017 wurden solche Überlegungen ventiliert und Berichte verfasst. Die SPD ist kaum mehr verankert in den Schichten, die sie adressieren will. Und es dauert sehr lange, mehr Menschen aus diesen Schichten zu rekrutieren und sie zu fördern. Dabei spielt auch eine Rolle, dass die Beziehung zu den Gewerkschaften auf ein minimalistisch-funktionalistisches Niveau heruntergekocht wurde. So wie es jetzt ausschaut, könnte der Niedergang auch zum irreversiblen Prozess werden…
… weil Volksparteien als „Massenintegrationsparteien“ am Ende seien und vor der Heterogenität der Gesellschaft kapitulieren müssten, wie Sie früher analysiert haben?
Das ist meine Aussage. Dem Parteiensystem fehlen inzwischen Festigkeit und Berechenbarkeit. Und das Verbändesystem krankt am volatileren Verhältnis der Mitglieder zur Verbandsführung. In der Bonner Republik konnte eine Quadriga aus Katholischer Kirche, Bauernverband, Bundesverband der Industrie und DGB noch mit der Politik wichtige Eckpunkte setzen. Diese Steuerungsfähigkeit gibt es nicht mehr. Die SPD wird als Vernunfts- und Staatsloyalitätspartei mit einem progressiven Programm vermutlich auf einem tieferen Niveau weiter eine Rolle spielen. Aber sie betrügt sich um ihre eigene DNA, und die liegt in der Nähe zum Faktor Arbeit.
Ist die Union noch eine Volkspartei?
Auch da sind Zweifel angebracht. Sie ist pragmatischer aufgestellt als die SPD und reagiert geschickt auf die jeweiligen Entwicklungen. CDU und CSU bemühen sich erst gar nicht, eigenständige programmatische Positionen zu entwickeln. Das überlässt sie der SPD und den Grünen. Angesichts der heterogenen Koalition, die sie abbilden will, möchte sie möglichst wenig verlangen und wehtun. Eigentlich ist die Union konzeptionell ziemlich blank. Das konnte man jetzt bei den Sondierungen mit der SPD wieder sehen.
Was Sie Pragmatismus nennen, ist für manchen Wähler, auch für manches Parteimitglied, gelegentlich ein Täuschungsmanöver. Vor der Wahl war die Schuldenbremse tabu, nach der Wahl nicht.
Die Haltung ist: „Wir schauen mal, was morgen so los und möglich ist.“ Dabei wird übersehen, dass unsere politische Kultur auch ein Minimum an Wahrhaftigkeit braucht. Auch Friedrich Merz wusste vor der Wahl, dass dieses Land seit 15 Jahren um rund 1,5 Prozentpunkte unter der durchschnittlichen staatlichen Investitionsquote der anderen EU-Länder liegt. Nur Portugal und Irland haben noch weniger investiert.
BSW, FDP und Freie Wähler haben es nicht in den Bundestag geschafft. Was wurde aus der „Niederlandisierung“, die Sie prophezeit haben? Sie spielten darauf an, dass im Nachbarland 15 Parteien im Parlament sitzen.
Hätten wir die Sperrklausel von fünf Prozent nicht, wären wir in einer ähnlichen Konstellation. Deshalb ist es so wichtig, dass wir daran festhalten. Auch 2013 kamen bei der Bundestagswahl – wie jetzt – rund 15 Prozent der Wählerstimmen nicht zum Zug, nachdem FDP und AfD draußen blieben. Für die Europawahlen hatte das Bundesverfassungsgericht dann 2014 die Sperrklausel von drei Prozent aufgehoben. Die Grundsatzfrage ist: Mehr Repräsentanz des Wählerwillens oder Stabilität des Systems? Sie wird jetzt wieder mit Sicherheit vor die Verfassungsrichter getragen.
Sie stehen dem Thinktank „Progessives Zentrum“ vor. Was bedeutet eigentlich „progressiv“ in diesen Zeiten einer neuen Weltunordnung?
„Progressiv“ steht für eine Gesellschaft der Freien und Gleichen; eine aufgeklärte Politik, die ökologische Herausforderungen und technologische Potentiale kritisch bedenkt und gestaltet. Nicht mit dem Status quo zufriedengeben. Jetzt meint dies auch den Widerstand gegen Oligarchisierung und Partikularisierung. Möglichst viele sollen teilhaben am wissenschaftlich-technischen Fortschritt und an einer nachhaltigen Gesellschaft.
Trump lässt nach Öl und Gas bohren, viele Konzerne steigen aus Nachhaltigkeitsinitiativen aus. Ist der „Fortschritt“, für den Sie eintreten, nicht total auf dem Rückzug?
Es gibt immer die Gefahr von Rückschlägen. Und man muss immer wieder auch den Zeithorizont neu betrachten und abstecken. So spricht zwar vieles generell gegen die Atomkraft, aber man hätte die am Schluss noch vorhandenen drei deutschen Atomkraftwerke auch länger laufen lassen können, um so weniger fossile Energie zu brauchen. Die Grünen hätten der Gesellschaft damit einen großen Gefallen getan. Es stellt eine gewisse Politikunfähigkeit unter Beweis, dass sie in dieser Frage so einen Zinnober gemacht haben.
Noch einmal: Leben wir derzeit nicht in Zeiten der politischen Restauration mit Korrekturen am „Progressiven“?
Ja. Dieses Roll-back folgt aus einer beispiellosen Machtzusammenballung. Gigantische Techkonzerne, Finanzriesen, Medienmogule, Kultur und Militär sind in den USA mittlerweile eng mit der Politik verflochten – eine grundlegende Gefahr für die Demokratie. Die restaurative Dimension dieses Politikansatzes besteht darin, dass er ins 19. Jahrhundert zurückführt; er will das Volk regieren und nicht durchs Volk regiert werden. Jetzt muss sich zeigen, ob es eine Resilienz in der Gesellschaft gibt oder der neue restaurative Geist in den USA bereits so stark ist, dass der Weg in einen neuen Autoritarismus nicht mehr aufzuhalten ist. Noch ist es nicht zu spät.
Trump-Helfer Elon Musk hat offen für die in Teilen rechtsradikale AfD geworben, die ihr Wahlergebnis auf mehr als 20 Prozent verdoppelte.
Die AfD hat ihr Potenzial gegenwärtig ziemlich ausgeschöpft. Nur ein kleiner Teil der Bevölkerung ist für ultrarechte Ideen ansprechbar. Zugleich gibt es Politikferne, die vom Staat enttäuscht sind, die mal aus Protest hier ihr Kreuz machen. Die Entwicklung der Bundesrepublik kennt seit 1949 ein bestimmtes Maß an Fremdenfeindlichkeit, Autoritarismus, Rassismus und Intoleranz. Neu ist, dass es dafür ein attraktives politisches Angebot gibt. Bislang waren die rechtsextremen nicht anschlussfähig – obwohl zwischen 1949 und 1993 rund 40 Rechtsaußenparteien gegründet wurden, so viel wie nirgendwo sonst in Europa.
Auf Parteitagen der AfD war Schroeder – zum Missfallen der Partei – oft als Berichterstatter des ZDF akkreditiert. Er findet, hier wirke eine „Apo von rechts“, eine Partei, die mit ihren wissenschaftlichen Instituten, Verlagen und Social-Media-Kanälen die früheren Erfolgskonzepte von links kopiere. Vorbild seien die frühen Grünen der 1980er-Jahre. Schroeder: „Aber sie hat keinen Joschka Fischer. Alice Weidel ist eine Optimierungskünstlerin, die ihre eigene Biografie für die Selbstverharmlosung dieser Partei einsetzt.“
Im Wahlkampf wurde überwiegend über Migration gesprochen. Ein schwerer Fehler?
Warum hat man es zugelassen, dass die Migrationsfragen in diesem Links-Rechts-Spektrum abgehandelt werden? Es handelt sich um eine politische Verhandlungsfrage, die in Debatten zu lösen ist: Wie viele Leute dürfen zu uns einwandern und unter welchen Bedingungen? Ohne Migration könnten wir viele Arbeitsplätze nicht besetzen. Die AfD hat die Boulevardisierung des Themas genutzt. Und der SPD ist der Anspruch ihres Mitgründers Ferdinand Lassalle, „das laut zu sagen, was ist“, abhandengekommen.
Wenn der neuen Koalition eine bessere Migrationspolitik gelänge – wäre es dann vorbei mit der AfD?
Nein. Die Partei ist mittlerweile etabliert. Sie ist längst nicht mehr nur Anti-Migrations-Partei, sondern hat auch mit ihrer Kampagne gegen das Verbrenner-Aus, Corona, Naturschutz oder Russland-Sanktionen Erfolg. Sie bedient das Narrativ einer Partei, die den Finger in die Wunden legt. Dabei wird sie von Verschwörungskünstlern, Trollen, Elon Musks, Geheimdiensten und viel Geld unterstützt.
Bedeutet dies, dass man in Bundesländern mit ihr als Regierungspartei rechnen muss?
So weit würde ich mittelfristig noch nicht gehen. Eine Politik der zupackenden Vernunft, die für Zuversicht sorgt, könnte ihr das Wasser abgraben. Das Geschäftsmodell der AfD gründet auf Zorn, Angst und Desavouierung. Die wehrhafte Demokratie in Deutschland bleibt wichtig, weil kein anderes Land einen solchen brutalen Faschismus hatte. Noch funktioniert die Brandmauer: In einer Studie haben wir festgestellt, dass zwischen 2019 und 2024 in Landkreisen nur jeder fünfte Antrag der AfD von anderen Parteien unterstützt wurde. Das gilt für Ost und West.
Sind Sie optimistisch, dass die liberale Demokratie die vielen Krisen – von Ukraine bis Ökologie – bewältigt? Manche reden darüber, wo man leben könnte, wenn es ernst wird.
Diese Angst kann ich nachvollziehen. Restaurative Politik kann einen Bürgerkrieg befördern. Aber Trump kann viel wollen – ob sich das am Ende so erfüllt, ist ein ganz anderes Kapitel. Zuversichtlich stimmt mich, dass die Bundesrepublik im Vergleich trotz aller Schwächen im guten Zustand ist. Das Parteiensystem hat nach wie vor die Fähigkeit zum Kompromiss. Die Gewaltenteilung funktioniert. Deutschland ist keine erschöpfte Gesellschaft. Sie sollte sich die Reform Europas als zentrales Ziel auf ihre Fahne schreiben.
Sie wollen zum Schluss offenbar etwas Positives sagen.
Es gibt keine Alternative zum Optimismus. Sonst müssten wir uns der Gewalt anderer fügen.