Meine gesammelten Werke: Wie ich die Lage gesehen habe.

Gespräch mit Verena Bahlsen über das eigene Familienunternehmen, einen Ausstieg auf Zeit und ein persönliches Buchprojekt

Handelsblatt, 31.05.2024

„Ich bin eine Träumerin im Ausprobieren“

Gespräch mit Verena Bahlsen über das eigene Familienunternehmen, einen Ausstieg auf Zeit und ein persönliches Buchprojekt

Handelsblatt, 31.05.2024

Selten ist das Leben einer Familienunternehmerin so öffentlich geworden wie das von Verena Bahlsen, 31. Sie war die „Keks“-Erbin, die das vom Urgroßvater Hermann Bahlsen in Hannover gegründete Unternehmen aufmischte. Sie war die Mitteilsame, die mit unpassenden Aussagen aneckte. Sie war die tränenreich Gescheiterte, die im Herbst 2022 als „Chief Mission Officer“ im Konzern aufhörte. Nun redet die Bahlsen-Gesellschafterin im Videogespräch von Berlin aus, platziert neben einem dekorativen Ficus Benjamini, über Langeweile und Lebenskrise, über Selbstfindung und Neustart – zum Beispiel als Buchautorin.

 

 

Frau Bahlsen, viele in Ihrem Alter träumen von Konzernkarrieren. Sie haben eine hinter sich. Wie ist Ihr aktuelles Leben als Freelancerin?

Verena Bahlsen: Das ist quasi die andere Richtung. Freelancer zu sein, ist das krasse Gegenteil zu Konzern.

HB: Üblicherweise beginnt man irgendwo als freie Mitarbeiterin oder freier Mitarbeiter, dann kommt die Festanstellung. Sie waren bis Herbst 2022 Chief Mission Officer von Bahlsen. Nun agieren Sie in einem Netzwerk von Beratern für Marken-Arbeit.

Es fühlt sich für ich wie ein Neustart an. Ich war in einer bestimmten Welt und hatte geplant, dort für immer zu sein. Dann kam eine Phase der Orientierungslosigkeit. Nun mache ich alles selbst: die Buchhaltung, den Schriftverkehr, jedes Stück Arbeit. Es gibt auch keine Teams mehr, die mir zuarbeiten. Es gibt nur ein Netzwerk: ein Developper, eine Texterin, ein Designer, eine Strategin – alles, was man so braucht.

HB: Fühlen Sie sich in dieser neuen Freelancer-Konstellation richtig „frei“?

Ja, und zwar in zwei Richtungen: Alles, was funktioniert, ist meine Schuld, und alles, was schief geht, ist auch meine Schuld. Das ist eine neue Erfahrung im Vergleich zum Konzern. Da geht es darum, mit vielen Menschen über viele Jahre in hoffentlich dieselbe Richtung zu laufen. Beim Relaunch der Kekse von Bahlsen und Leibniz hatten hunderte Menschen mitgemacht. Derzeit machen wir kleine Projekte, bei denen ich jedes Wort selbst geschrieben habe. Wenn es nicht sitzt…meine Verantwortung! Jeden Euro habe ich verdient – oder auch nicht.

HB: Sie beraten Start-ups, wie sie zu einer Marke werden können. Ein zukunftssicheres Geschäft?

Wenn ich mit Start-ups rede, haben sie meistens null Lust, in Marken zu investieren. Auf der einen Seite ist zu Beginn einer Firma das Geld knapp. Da erscheint es sinnvoller, in eine Maschine oder in Software zu investieren. Und dann haben alle wahrgenommen, dass man beim Branding viel Geld aus dem Fenster rausschmeißen kann. Wenn man mit großen Agenturen zusammenarbeitet, folgen daraus wilde Analysen, komplexe Strategieprozesse und Drei-Monats-Geschichten. Das haben ich und meine Mitstreiter als Kunden selbst so erlebt. Das Überflüssige wollen wir von vorneherein streichen. Wenn die Firma des Kunden größer wird, ergibt es dann vielleicht Sinn, eine Agentur zu beauftragen.

HB: Geht es nicht am Anfang einer Firmenkarriere schlicht um Kommunikation?

Für mich bedeutet der Begriff „Marke“ alles: Wie ich mich tagsüber anziehe, mit wem ich wie rede, was man auf sein Dating-Profil schreibt, was ich bei LinkedIn poste. Also: wer ich bin – und ob das von außen sichtbar ist. Das übersetzt sich in Kommunikation, Design, Sprache. Es gibt wunderbare Firmen mit engagierten Teams und besonderen Produkten, aber niemand außerhalb des Firmengrundstücks weiß, was die so genau machen. Kommunikation ist Teil von Marke.

HB: Muss nicht vor allem die Gründerin oder der Gründer erlebbar sein?

Kann man machen, das muss aber nicht so sein. Identität findet an vielen Orten statt. Bahlsen zum Beispiel wird gerade nicht von einem Bahlsen geführt und es geht genauso gut um Identität.

 

Zum neuen Arbeitsalltag von Verena Bahlsen gehört, dass sie etwa mit ein paar BASF-Start-ups zusammen – Business-to-business-Firmen, die Chemiker und Physiker gegründet haben, und von denen die Welt erfahren soll. Bahlsen und ihre Gruppe sehen sich als „Markenstarthelfer“ in einer Nische. Der moderne Marketingauftritt, den sie im Bahlsen-Konzern hinterlassen hatte, ist wieder eingefangen worden.

 

HB: Entscheidend für viele ist die „Story“ eines Start-ups.

Das ist eine Manifestierung von Identität. Authentizität ist Investoren beispielsweise enorm wichtig. Sie wollen klare Kommunikation. Meistens erzählen wir ja nicht die wirkliche Geschichte, sondern nur die, die gerade modern ist und im Markt gut ankommt.

HB: Was macht Ihnen in Ihrer eigenen Neugründung am meisten Spaß?

Das habe ich schon bei Bahlsen entdeckt. Ich arbeite richtig gern mit Kreativen zusammen. Das ist eine komplexe Arbeit. Und es hat schon etwas von Psychotherapie, die Kunden so nahe kennenzulernen, bis man herausgefunden hat, wer sie wirklich sind und wie man daraus die Marke ableiten kann. Wir sind hoffentlich eine Identitäts-Agentur, ohne eine Agentur zu sein.

HB: Sie erklären, auch um zwei Uhr morgens für Meldungen der Kunden empfänglich zu sein. Arbeiten Sie jetzt rund um die Uhr?

Überhaupt nicht. Aus einem Familienunternehmen stammend, habe ich gelernt, mich voll einzubringen. Es geht beim Branding um extrem persönliche Beziehungen. Damals bei Bahlsen sind mein Vater und ich zusammen durch den Wald spaziert und haben diskutiert, was wir mit unsere Marken machen wollen. Nur so entsteht Identität.

HB: Was tun Sie für Ihre eigene Markenbildung?

Relativ wenig. Ich lebe derzeit sehr zurückgezogen und erweitere mein Netzwerk von Kreativen.

HB: Soll es am Ende eine Firma werden, die wächst und wächst?

Wie wäre es denn mal, etwas zu machen, was nicht skaliert wird? Muss es denn immer um Super-Wachstum gehen? Natürlich spüre ich in mir den Impuls, die Dinge rasch größer werden zu lassen. Aber eigentlich ist für mich etwas ganz anderes wichtig: nämlich die richtigen Dinge auf kleinem Niveau zu machen. Den Mut haben zu sagen: „Jetzt haben wir keine Kapazität mehr, also nehmen wir keinen Auftrag mehr an.“ Wir machen nur drei Projekte im Quartal, das ist eine wirklich kleine Kugel. Und das ist das so Befreiende daran.

HB: Sie wollen im „kleinen, friedvollen Atelier“ bleiben, wie Sie das nennen?

Bis auf Weiteres setze ich auf das totale Kontrastprogramm zum Wirtschafts-Mainstream.

HB: Da geht es darum, mehr Umsatz, mehr Gewinn, mehr Marktanteile zu erzielen.

Es ist eine Ego-Frage: Was kann für mich nach Bahlsen persönlicher Erfolg sein? Reicht es, Qualität zu liefern und gute Arbeit zu machen? Es ist, ehrlich gesagt, auch eine Selbstübung. Ich komme natürlich aus einem bestimmten Milieu. Das prägt mich.

HB: Ein Unternehmen zu führen sei „emotionaler Leistungssport“, sagten Sie einmal. Was ist es, im Homeoffice Teil einer Beratergruppe zu sein?

So etwas wie das Schweigekloster des Unternehmertums. Es ist für mich wie im Himalaya zu wandern. Es geht viel um Rückbesinnung. Ausstieg klingt so kitschig. Ich habe Bahlsen insgesamt, mit allem Drum und Dran, acht bis zehn Jahre gemacht. Und danach zu schauen, ob ich Stille überhaupt aushalten kann, ohne gleich das nächste große Ding zu machen, ist für mich das totale Thema. Meine Mitstreiter kommen aus einer anderen Welt als ich. Die freuen sich, etwas zusammen unternehmerisch zu machen. Die sind eher auf dem Power-Trip.

 

Im Gespräch lacht Verena Bahlsen viel. Sie wirkt offen, alle andere als verletzlich. Die Frage, ob sie in ihrer neuen Wirklichkeit manchmal auch Chefin sei, amüsiert sie. Manchmal werde gespiegelt, dass sie alles genau so möchte, wie sie das gesagt habe. Aber man wolle wirklich alles demokratisch machen. Also: keinen Chef, keine Chefin. Was hält die Frau, die für Bahlsen selbst Firmen lanciert hat, eigentlich von der aktuellen Start-up-Welt?

 

HB: Sie saßen im Beirat des jüngst liquidierten Berliner Start-ups Perfeggt, das nach veganen Alternativen zum Hühnerei suchte, prominente Investoren hatte und vom ehemaligen Forschungschef von Rüggenwalder Mühle mitgegründet wurde. Warum scheiterte die Firma?

Eines vorausgeschickt: Ich bin bestimmt kein Experte für die Start-up-Welt. Ich war auch nie in der Rolle einer Gründerin, die nach Finanzierung schaut. Was mir aber in der Landschaft der Neugründungen derzeit auffällt: Es geht ruhiger zu, bedachter, es wird viel aufgeräumt.

HB: Die Zinswende sorgt für niedrigere Firmenbewertungen und eine realistischere Sicht auf Risiken.

Ich finde es durchaus wertvoll, dass manche Bewertungen runtergehen. Das heißt ja nicht, dass wenige reeller Wert geschaffen wird. Man achtet nur mehr darauf, wofür das Geld fließt. Dass nicht alles immer sofort angeblich auf exponentielles Wachstum und, trallala, Disruption weist.

HB: Die Korrektur als gesunde Entwicklung?

Die Lage ist aktuell etwas darwinistisch. Nur die Besten überleben. Perfeggt wurde liquidiert, weil viele Investoren derzeit bei langfristigen Themen sehr zögerlich sind. Im Food-Geschäft gibt es viele Bereiche, die viel Zeit brauchen, bevor sie sich etablieren. Da werden wir noch viel Auf und Ab sehen. Bei Neugründungen greift immer der gleiche Zyklus: Versuchen, scheitern, neugruppieren. Das Ziel, bessere alternative Lebensmittel zu haben, verändert sich nicht. Nur der Weg dahin.

HB: Wie halten Sie sich persönlich informiert? Interessiert Sie als Markenexpertin zum Beispiel das Branchenspektakel OMR?

Man kann viel Zeit verlieren, um herauszufinden, was da draußen alle gerade machen. Mich lenkt das eher ab. Ich achte darauf, mich zu inspirieren. Ich bin gerade auf Rückzug.

HB: Sie bleiben 25-Prozent-Anteilseignerin von Bahlsen.

Als Gesellschafterin besteht mein Beitrag nicht darin, Expertisen zur Lebensmittelbranche zu liefern. Dafür haben wir das Management. Meine Rolle ist es, dabei zu helfen, in unserem Firmenführungssystem, unserer Governance, gute Beziehungen zu haben. Wie funktioniert unser Verwaltungsrat? Habe ich einen guten Draht zum CEO? Klären wir als Familie die Dinge? Mein wichtigster Beitrag ist bestimmt nicht der Hinweis, ob es im Lebensmittelmarkt links oder rechts herum geht.

HB: Sie wollen in erster Linie die Family Business Governance optimieren?

Ich weiß ja, wie es im operativen Geschäft ist. Und ich weiß auch, wie schwer es ist für einen familienfremden CEO, gut zu managen. Der braucht nicht vier Geschwister, die ihm zwischen den Füßen herumspringen.

HB: Das Bahlsen-Markenzeichen „Tet“, eine altägyptische Hieroglyphe, bedeutet „ewig dauernd“. Was dauert bei Ihnen ewig an?

Mein Gefühl ist derzeit wie das vieler in der Start-up-Branche: es liegt zwischen Scheitern und Neubeginn. Ewig währt dabei für mich das Streben nach Selbstverwirklichung, Selbstentwicklung und Neuerfindung – sowie nach einer Form von Wahrheit. Mein Vater ist gerade 75 geworden und hält es genauso.

HB: Nach Ihrem Ausscheiden bei Bahlsen weilten Sie einige Monate auf einer einsamen Hütte in den französischen Alpen. Der Aufenthalt sei langweilig gewesen, sagten Sie…

…ja, aber Langeweile ist superwichtig. Wenn Leute einen Job oder eine Aktivität beenden, dann haben sie oft schon zwei Monate später die nächste Verpflichtung. Vielleicht bin ich nicht schnell genug – aber irgendwo zu sitzen und alles erst einmal als ätzend zu empfinden, ist für mich die Bedingung dafür, neue Sachen gut starten zu können.

HB: In den Alpen hörten Sie den Podcast „We can do hard things“. Drei Amerikanerinnen interviewen dabei ältere Frauen über ihr buntes Leben. Was hören Sie derzeit?

Die Podcasts, die ich gerne höre, handeln alle davon, wie man mehr sich selbst sein kann. Das ist für Unternehmertum essenziell. So geht es in „Unlocking Us“ von Brené Brown um Ängste und um den Wunsch nach Authentizität. Faszinierend finde ich „Bewildered“ von Martha Beck. Die Aussage darin ist, wir Menschen würden kreativer sein, wenn wir wieder wilder wären und etwas von unserer Höhlenmenschen-Vergangenheit spürten.

HB: Inwieweit ist es für Sie wichtig, aus herkömmlichen Erwartungen auszubrechen?

Ich glaube, es braucht eine regelmäßige Krise, um nach vorne zu kommen, um sich weiterzuentwickeln. Vor Bahlsen konnte ich mir nicht vorstellen, dass ein Scheitern jemals passieren könnte. Das war mein Fehler. Egal, was wir machen, egal ob privat oder im Beruf, wir können jederzeit daneben liegen. Aber vielleicht stimmt ja auch: Je öfter man scheitert, desto besser wird man.

 

Als „Millennial“ gehört Verena Bahlsen zu einer Generation, die derzeit von älteren Wirtschaftsverantwortlichen oft hart kritisiert wird. Wie sieht sie das? Und: Wie will sie nach der Selbstfindung eine neue Mitte finden?  Sie verrät, nach ihrer Bahlsen-Zeit einen Schreib-Coach gefunden zu haben.

 

HB: Welchen Neuanfang wagen Sie?

Als Autorin. Meine größte Angst dabei ist, dass mein neues Buch irgendwo im Regal steht, es keinen juckt oder als schrecklich empfunden wird. Gleichzeitig wäre das auch eine wertvolle Erfahrung.

HB: Sachbuch oder Belletristik?

Ein Essayband mit echten, romanhaft aufgeschriebenen Geschichten. Mit 16 habe ich erstmals den Wunsch verspürt, Autorin zu sein.

HB: Warum erfüllen Sie ihn sich erst jetzt?

Neben meinen gefühlten Verpflichtungen bei Bahlsen waren es die Bedenken, es nicht hinzubekommen. Nun habe ich zwei Kapitel schon geschrieben. In einem Jahr muss das Manuskript beim Tropen Verlag in Berlin sein. Da erscheint viel über Popkultur und Zeitgeist. Mein Buch hat nichts mit Business zu tun, sondern mit Themen wie: 30 werden, Kinder kriegen, Heiraten – ja oder nein? Die großen Fragen eben (Lacht).

HB: In der „Zeit“ schrieben Sie im vorigen September, es sei noch unklar, ob Sie einen neuen Traum finden werden. Sehen Sie da etwas klarer?

So schnell geht es nicht. Vielleicht reden wir in fünf Jahren noch einmal darüber, ob sich mein Autorinnen-Traum erfüllt hat. Ich plädiere für mehr Bedachtheit und Geduld. Ich bin eine Träumerin im Ausprobieren – die daran hartnäckig arbeitet.

HB: Sie gehören zu den „Millennials“. Dieser Gruppe und der jüngeren „Generation Z“ wird gerne unterstellt, es im Zweifel mehr mit Freizeit und Lebenssinn als mit harter Arbeit zu halten.

Ich will keine reißerische Generationen-Debatte aufmachen. Aber meine Haltung ist eine andere. Meine Generation will unbedingt arbeiten und einen Beitrag für Wirtschaft und Gesellschaft leisten. Es ist ein Vorurteil, dass wir nicht fleißig seien. Das stimmt nicht.

HB: Sondern?

Unser Anspruch an die Arbeit ist höher. Wir wollen eine andere Arbeitswelt aufbauen und können viel dafür tun, einen besseren Output zu erreichen. Da muss man nicht darüber reden, wer wie lange im Büro sitzt. Arbeit ist eher eine kulturelle Frage. Gleichzeitig kann ich verstehen, dass viele meine Meinung nicht teilen. Im Familienunternehmen stehen sich direkt zwei Generationen gegenüber. Es sind Debatten zwischen Jung und Alt, so wie es sie seit Jahrzehnten gegeben hat.

HB: Frau Bahlsen, vielen Dank für das Gespräch.