Meine gesammelten Werke: Wie ich die Lage gesehen habe.

Über die neue Sehnsucht in Politik und Wirtschaft nach der starken Hand

Handelsblatt, 28.03.2024

Howg, ich habe gesprochen!

Über die neue Sehnsucht in Politik und Wirtschaft nach der starken Hand

Handelsblatt, 28.03.2024

 

 

 

 

Der Bizeps spannt unter dem T-Shirt, der Blick geht nach vorn, die Faust drischt auf einen Boxsack ein. Die Welt verfolgt diese Szene aus dem Leben von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron in Schwarz-Weiß. Der Effekt ist da noch größer als in Farbe. Ein Macher, der sich durchboxt. Ein Mann, der angeht, was sich ihm in den Weg stellt.

 

Das ist die Botschaft, die der innenpolitisch in Bedrängnis geratene Staatschef per Bild da vor wenigen Tagen an die Nation sendet. Es ist eine ungewöhnliche Pose für einen demokratischen Staatschef. Aber die französische Verfassung meint es ja gut mit jenen Präsidenten, die ihr Selbstbewusstsein nicht verstecken wollen. In bester napoleonischer Tradition kann sich der Mann an der Spitze der Grande Nation manche Extravaganz leisten.

 

Da hat es ein deutscher Bundeskanzler schon schwerer. Aber auch Olaf Scholz versucht sich in diesen Wochen als starker Anführer, der sagt, wo es langgeht. Kritisiert man den Regierungsleiter etwa wegen seiner Weigerung, der Ukraine Marschflugkörper vom Typ Taurus zu liefern, antwortet er neuerdings: „Ich bin der Kanzler, und deshalb gilt das.“

 

Howgh, ich habe gesprochen!

 

Es ist noch keine gesicherte Erklärung überliefert, warum sich demokratisch gewählte, tendenziell liberale Politikerpersönlichkeiten plötzlich inszenieren wie halbstarke Schulhofjungs. Womöglich gründet es aber auf der Erkenntnis, dass andere mit einer ähnlichen Taktik immer erfolgreicher werden: Weltweit reüssiert ein Politikertypus, der den starken, alles entscheidenden Mann als Antwort auf die Herausforderungen der Gegenwart darstellt. Der Soziologe Ulrich Bröckling bezeichnet sie als eine globale Kaste der „Strongmen“, die weltweit Menschen begeistern und auf dem Vor[1]marsch seien. Und trotz aller brutaler Erfahrungen in Vergangenheit (Deutschland) bis Gegenwart (Russland) mit autoritären Regierungstypen: kein System scheint gegen sie gefeit. Es sind Demokratien wie die USA, wo Donald Trump zum zweiten Mal Präsident werden könnte. Es sind semiautoritäre Staaten wie Ungarn oder Türkei, wo Viktor Orban und Recep Tayyip Erdogan mit harter Hand führen. Es sind aber auch Diktaturen wie Russland.

 

Gerade angesichts immer neuer Krisen – Kriege, Rezession, Protektionismus, Klimawandel – scheint immer mehr Menschen die Frage zu beschäftigen, wer da oben an der Spitze von Politik und Wirtschaft das richtige Zeug hat, all den Zumutungen zu begegnen. Und in einer beunruhigend größer werdenden Zahl an Fällen suchen Menschen Anlehnung und Stabilität bei Menschen, die sehr einfache Antworten geben – die immer weiter steigenden Umfragewerte für rechtspopulistische Parteien, die oft Sehnsüchte nach starken Führern bedienen, sprechen da im ganzen Westen eine deutliche Sprache.

 

Krise, Krise, immer nur Krise – daraus erwächst offenbar eine Sehnsucht nach der harten Hand. Und das nicht nur in der Politik. Längst ist das Phänomen auch in der Unternehmerwelt zu beobachten. Gesucht wird nun, was zum Lieblingsvokabular von Management-Gurus gehört: Leadership – wo es zuletzt meist um New Work ging, ums Loslassen also, ums Schleifen von Hierarchien und Reduzieren von Verpflichtungen.

 

Doch in vielen Firmen geht diese Kuschelzeit nun zu Ende. Der scharfe Wind von draußen hat die Geschäftslage verändert – und lässt CEOs durchgreifen. Die Fälle, in denen ein starker Mann (die genderkorrekte Formulierung ist hier im Prinzip nicht nötig) harte Entscheidungen verkündet, häufen sich, wahlweise adressiert als Befreiungsschlag, Turnaround, Neustart.

 

Beispiel Lufthansa: Gleich vier von sechs Vorständen müssen die Fluggesellschaft verlassen, die mit IT- und Serviceproblemen auffällt. Aufsichtsratschef Karl-Ludwig Kley verlangt nach „neuem Schwung“ und „ausgeprägtem Teamverständnis“. Der seit zehn Jahren amtierende CEO Carsten Spohr darf bleiben – und muss liefern.

 

Beispiel SAP: Im Softwarekonzern entschließt sich Christian Klein zur Reorganisation und streicht 8000 Stellen. Das Geschäft mit der eigenen Cloud und mit Künstlicher Intelligenz soll systematisch gestärkt werden, die schlechtesten fünf Prozent der Führungskräfte erhalten das Prädikat „ungenügend“.

 

Beispiel Audi: Der eingewechselte CEO Gernot Döllner setzt auf Geheiß der Muttergesellschaft Volkswagen auf radikale Remedur. Entwicklungsvorstand und Designchef wurden gefeuert, weitere Personalien dieser Art dürften folgen. Der Führungsstil ist kantig, etliche Kaffeekränzchen, als Koordinationsrunden getarnt, wurden aufgelöst.

 

Beispiel ZF Friedrichshafen: Vorstandschef Holger Klein will in zwei Jahren rund sechs Milliarden Euro einsparen, womöglich fallen in Deutschland 12.000 von 56.000 Stellen weg. So kämpft er gegen die Krise der Autozuliefererindustrie und die hohe Verschuldung.

 

Beispiel Deutsche Bank: CEO Christian Sewing eliminiert laxe Homeoffice-Praktiken. Führungskräfte sollen wieder an mindestens vier Tagen pro Woche im Büro sein, alle anderen an mindestens drei Tagen. Am Freitag und am darauffolgenden Montag soll man nicht mehr zuhause arbeiten.

An vielen Stellen bietet die stagnierende deutsche Wirtschaft das gleiche Bild: Traditionen und Gewohnheiten weichen einer strikten Leistungs- und Effizienzkultur, orchestriert von einer alarmierten Führung. Wolkige Vorstellungen von einer „Work-Life-Balance“ kontrastieren nun mit einem Vorgaben-Diktat gemäß „Key Performance Indicators“ (KPIs), also genauen Zahlenzielen zu Rendite, Verkaufserfolg oder Stellenabbau. Das soll den überall ausgerufenen Wandel absichern und mit Sünden der Vergangenheit aufräumen. Aber wie gut ist die deutsche Wirtschaft dabei noch, wenn selbst die als sozial bekannte Heimatgröße Bosch mehr als 7000 Stelle streicht?

Die amerikanische Futuristin Amy Webb ist pessimistisch. Das Problem sei die Führungsriege, sagt die Professorin der New York University. Ihre Beratungsfirma kenne die Chefs und Vorstände vieler deutscher Firmen, und was man da jetzt eigentlich bräuchte, wäre starke Führung, erzählt sie in der „Süddeutschen Zeitung“. Es mangele aber in vielerlei Hinsicht an Visionen und Führungsstärke: „Das gilt auch für die Regierung.“

 

Die Berater: Man braucht Mut

 

Die neuen Anforderungen an Führung kommen rasch bei jenen an, die für Unternehmen neues Spitzenpersonal suchen. Einer davon ist in München Nicolas von Rosty, Deutschland-Chef der US-Beratungsfirma Heidrick & Struggles. Der einstige Siemens-Manager sagt, dass mittlerweile in 70 Prozent der Anfragen Chefs für Restrukturierungs- und Transformationsprojekte gesucht würden. Verlangt werde dabei höchstes Tempo im Management, wer zu lange zögere, sei weg vom Markt: „Jeder Geschäftszyklus benötigt einen anderen Führungstyp. In der Wachstumsphase braucht man innovative Leute, im Moment einer Krise dagegen harte Sanierer, die dennoch empathisch und ansprechbar wirken. Ein Kajo Neukirchen wäre heute in dieser Rolle nicht mehr denkbar.“

Neukirchen (1942 bis 2020) galt als Brutalo-Typ. Er räumte in der alten Deutschland AG im Auftrag der Deutschen Bank auf. Die alte Metallgesellschaft AG in Frankfurt am Main rettete er mit Kostensenkungen, Jobkürzungen und Verkauf von Tochterfirmen, ohne Rücksicht auf Verluste. So setzte er bei er innerhalb von 90 Tagen rund 50 Führungskräfte auf die Straße.

Heute muss man auch tough sein, dabei aber sozial geschickter vorgehen. Die Bedeutung des CEOs wachse in Krisenzeiten nicht, „weil er der überlegene Fachmann ist, sondern weil er am besten kommuniziert“, erklärt Wolfgang Essing, Senior-Partner bei der Beratungsfirma zb Consulting aus Münster. Der Vorstandschef sei derjenige, der beide Arme ausbreitet, um Menschen einzufangen: „Der CEO muss sein Führungsteam in die Spur bringen und psychologische Sicherheit verbreiten.“

Angesichts der Multikrisen sei es ein entscheidender Punkt, über KPIs für gute Margen zu sorgen, sagt von Rosty, dabei seien aber anders als früher viel stärker „communications skills“ gefragt. Der Entscheider müsse in seiner Stilistik absolut verbindlich und widerspruchsfrei sein, in der Sache selbst jedoch sei „größte Härte“ angezeigt: „Man darf Benutzeroberfläche und Agenda nicht verwechseln.“ Das „emphatische Leadership“ des Microsoft-Anführers Satya Nadella kommt dem sehr nahe.

Experte von Rosty hat einen klaren Blick auf die Lage: „Je größer und bedrohlicher die Krise wird, bedingt durch exogene Faktoren wie Kriege, desto lauter ertönt der Ruf nach einer starken Führung. Das ist anders als in Friedenszeiten.“ Es gehe darum, „Geborgenheit in der Ungewissheit“ zu schaffen: „Wenn in normalen Zeiten alles gut läuft, könnte auch ein Computer für Führung sorgen. Aber was wir derzeit erleben, sind sehr unnormale Zeiten. Da braucht es Personen, die den Mut haben, in Phasen größter Unsicherheit Entscheidungen zu treffen.“ Und da kommen bei Neubesetzungen verstärkt Chefkandidaten in Spiel, die Mitte 50 sind: Je erfahrener, desto besser. Experte von Rosty: „Die Zeiten des Jugendwahns sind vorbei.“

60 bis 70 Prozent der Aufgaben eines CEOs hätten nun mal mit Kommunikation zu tun, schätzt Berater Essing. Es komme „vor allem auf Ehrlichkeit und Klarheit an, auf ein Mitnehmen der Belegschaft“. Man muss sich anders verhalten als Neu-Vorstandschef Miguel Ángel Lopez Borrego bei Thyssen-Krupp: Der ließ lieber Sigmar Gabriel, Aufsichtsratschef der Stahltochter, auf düstere Zeiten einstimmen. „Es kann sich nicht ausgeschlossen werden, dass bei Kapazitätsanpassungen auch ein Beschäftigungsabbau erfolgt“, orakelte der Ex-Wirtschaftsminister. Tausende werden gehen müssen. Dabei ist die erste Führungsregel in Ökonomie und Politik gleich: Sagen, was ist.

Heute gäbe es eine große Diskussion über die öffentliche Rolle von CEOs, merkt Roland Koch an. Er selbst hatte nach zehn Jahren als Hessens Ministerpräsident keine Fortüne als Chef des Baukonzerns Bilfinger und ist heute Professor an der Frankfurt School of Finance & Management. Früher habe man, so Koch, die Haltung gehabt: „Man würde schon gerne führen, aber es muss ja nicht jeder wissen.“ Den unsichtbaren CEO gebe es heute aber nicht mehr – auch durch die Emotionalisierung via Social Media. Wichtig sei nun das eigene „Wertegerüst“: Ein Unternehmen könne auf diese Weise einen Shitstorm durchstehen, eine Regierung sei vielleicht abgewählt. Kochs Botschaft: „Wer gut führt, ist auf Dauer nicht in die Stromlinienfähigkeit einzufügen.“

 

Die Wissenschaft: „Positiv Aggressive“

 

Mit Führungsstilen beschäftigte sich schon 1922 der Soziologe Max Weber und differenzierte zwischen patriarchalischer, charismatischer und bürokratischer Herrschaft. Es ging um den Alltagsglauben an Tradition, um den Glauben an die Heldenkraft einer Person sowie die Strahlkraft gesetzter Ordnungen.1939 hielt es der Sozialpsychologe Kurt Lewin mit autoritärem, kooperativem und Laissez-faire-Führungsstil. Wenn wenig Zeit für Entscheidungen bleibe, habe die autoritäre Methode Konjunktur, könne allerdings zu Verwerfungen im Team führen. Am effektivsten sei, so Lewin, der kooperative (demokratische) Stil: Dabei weisen Chefs die Angestellten an, lassen aber deren Beiträge zu und diskutieren sie.

Es gäbe jedoch nicht den perfekten Stil, jeder und jede müssten den eigenen Weg finden, relativierte US-Professor Warren Bennis (1925 bis 2014). Wichtig sei, eine Vision zu haben und sie vermitteln zu können, für Vertrauen zu sorgen, die Schwächen des eigenen Ichs zu kennen und offen für Kritik zu sein, schrieb der Doyen der Führungslehre im Standardwerk „Leaders“. Manager seien Leute, „die ihre Sache richtig machen, während Führer Leute sind, die die richtige Sache tun“.

Ein Problem ist, dass plötzlich auftretende Krisen andere Techniken erfordern als Dauerkrisen. Leadership sei heute so wichtig, weil so die neuen Herausforderungen fortgesetzter Krisen rechtzeitig zu erkennen und zu steuern seien, schreibt „Harvard Business Review“. Man müsse dabei stärker auf Experimente statt auf einen festen Plan zu setzen. Neuerdings ist Autorität wieder sehr erwünscht (die manchmal wie Autokratie aussieht). „Ohne eine gewisse Portion Aggression sind Führungskräfte immer im Risiko, von anderen übervorteilt zu werden“, sagt Jens Weidner, Professor an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg. „Positiv Aggressive“ würden für ihre Ideen kämpfen, „destruktive Leute“ gegen andere kämpfen.

 

 

 

Der CEO: Lass uns reden

 

Was aber bedeutet das in einer Welt, die Berater „Vuca“ nennen, ein Akronym, das für „volatility“ (Unbeständigkeit), „uncertaintity“ (Unbeständigkeit), „complexity“ (Komplexität) und „ambiguity“ (Mehrdeutigkeit) steht? In dieser „Vuca“-Welt macht sich Diktatorisches breit, bewirkt durch Tech-Größen aus Amerika, durch Leute wie Mark Zuckerberg. Der Facebook-Gründer erklärt frank und frei, überhaupt nichts vom Führungsprinzip des Delegierens zu halten: Ein Gründer sollte „so viele Entscheidungen treffen und sich in so viele Dinge wie möglich einmischen“. Er wolle keine „Managementstruktur, die nur aus Managern besteht, die Manager verwalten, die Manager verwalten, die Manager verwalten, die die Arbeit machen.“

Noch zentralistischer ist Elon Musk, Prototyp des „mad genius“, einer Mischung aus Genie und Wahnsinn, der mit den Elektroautos von Tesla, den Raketen von X-Space oder den Satelliten von Starlink Märkte eroberte. Führungstechnisch betreibt der Software-Spezialist extremes Micromanagement. Er kümmert sich tageweise um spezielle Probleme in seinem Reich, stets mit dem Anspruch, das letzte Wort zu haben. Der Fan eines sehr direkten Führungsstils arbeite „sieben Tage die Woche von früh bis in die Nacht“, was er auch von seinen Top-Kräften erwartet.

Schwierigkeiten in seiner Ökostrom-Abteilung Solar City oder Rückrufaktionen bei Tesla legen die Kehrseite eines allzu monomanischen Führungsstils offen. Musk droht, Opfer seiner Ego-Probleme zu werden, was sich bei der Übernahme des Kurznachrichtendiensts Twitter (heute „X“) zeigte, wo er die Führungscrew und die Hälfte der Mitarbeiter sofort feuerte. Irgendwie typisch für den neuen Chef-Stil, dass Zuckerberg und Musk zeitweise im Käfig gegeneinander mit nacktem Oberkörper kämpfen wollten.

Auch der Aufstieg der Bundesrepublik war eng verbunden mit Visionen und Durchsetzungskraft einzelner Entscheider. Sie hatten meist auch politische Wirkung, waren aber weit entfernt von der Soloshow eines Elon Musk. In der Welt der Konzerne spielten Führungsfiguren wie Heinrich von Pierer von Siemens, jedenfalls bis zum Korruptionsskandal, eine Hauptrolle, oder Mark Wössner (Bertelsmann) und Ferdinand Piëch (Volkswagen)

Ein CEO, der viel redete und provozierte, war Josef Ackermann, 76, von 2002 bis 2012 Chef der Deutschen Bank. In vier Jahren beim Schweizer Militär hatte er ein paar Führungsgrundsätze schätzen gelernt: klare Strategie, risikoadäquate Geschäftsstruktur, offene Unternehmenskultur, Kümmern um Mitarbeiter. Das Führungskonzept leitete er von der militärischen „Auftragstaktik“ ab, die Eigenverantwortung stärkt und erstmal von den Preußen im Krieg gegen Frankreich 1870/71 eingesetzt worden war. Im Gegensatz dazu steht die im Angelsächsischen präferierte „Befehlstaktik“.

Gute Führung stehe und falle „mit der Qualität der Kommunikation“, gibt Ackermann zu Protokoll. Er stehe dazu, in der Finanzkrise gegen den Protest der Bundesregierung keine Staatshilfe angenommen zu haben: „Ein Wirtschaftsführer muss sich Kritik aussetzen“. Mangelnde Risikokontrollen im Investmentbanking, vor allem in den USA, sind der schwarze Fleck in Ackermanns Karriere. Was die gegenwärtigen Anforderungen für CEO in der Zeit von Multikrisen betrifft, nennt der Schweizer vor allem physische Robustheit. Früher habe man bei einer Asienreise einen Tag Pause nach Ankunft gehabt, heute gehe es direkt vom Flugplatz in den Termin.

Wenn nach derzeit vorbildlichen Wirtschaftsanführern gefragt wird, fällt oft der Name Martin Zipse. Bei BMW löste er im August 2019 den glücklosen Harald Krüger ab, der die Dinge hatte treiben lassen. Zipse dagegen predigte „Technologieoffenheit“, redete gegen das politische Verbrenner-Aus in 2035 an – und legte in der Elektromobilität zur Überraschung aller Branche stark zu: 2023 verkaufte BMW mehr E-Autos als Mercedes und Audi. Als Kanzler Scholz im vorigen Dezember BMW besuchte, ließ er es sich nehmen, dezent auf den Reformstau im Land hinzuweisen: „Transformation ist nicht, etwas zu versprechen, was man nicht halten kann.“

Als starke Führungsfiguren wurden immer wieder erfolgreiche Mittelständler wahrgenommen: Gründer, CEO, Patriarch, Menschenfänger in einem. Es sind Leute wie der globalisierte Schraubenkönig Reinhold Würth, 88, der findet, Menschenführung entscheide zu mehr als 50 Prozent über Gewinn und Verlust und der Ex-Bundespräsident Theodor Heuss als großes Vorbild nennt – wegen seiner „freundlichen Bescheidenheit, gleichwohl gepaart mit Durchsetzungskraft“. Oder Personen wie der ebenfalls im Schwäbischen sitzende Wolfgang Grupp, 84, vom Textilhersteller Trigema, der als „echter Unternehmer“ Verantwortung zeigen und haften will, dabei stets schnellen Entscheidungen huldigt: Wer mit einem Problem zu seinem Schreibtisch kam, durfte eine direkte Antwort erwarten. Oder schließlich Uli Hoeneß, 72, vom Fußball-Rekordmeister FC Bayern München, der nicht nur beständig das Festgeldkonto füllte, sondern sich gern in tagespolitische Diskussionen einbrachte. Gegen den ökonomischen Status quo des Stillstands empfiehlt er nun verstärktes Anstrengen, so wie er es selbst gehalten hat. Als Hoeneß in der Jugend zwar Erfolg hatte, aber zu langsam war, bolzte er harte Waldläufe mit Sprints – und lief dann die hundert Meter in elf Sekunden. Der Besitzer einer Wurstfabrik in Nürnberg denkt so, wie es Albert Schweitzer formuliert hat: „Ein Beispiel zu geben ist nicht die wichtigste Art, wie man andere beeinflusst. Es ist die einzige.“

Mit den erprobten Mittelständlern ist ihr Erfolgsmodell in die Jahre gekommen, um die richtige Kontinuität wird jeweils noch gerungen. Das klassische Patriarchen-Modell im Mittelstand habe bis vor kurzem auf manche vielleicht altmodisch gewirkt, kommentiert Berater Essing: „Inzwischen aber, in der fortschreitenden Krise, schaut man anders darauf. Vielen Menschen gibt es ein Gefühl von Sicherheit. Sie sind überzeugt, das jeweilige Familienunternehmen lässt sie nicht im Regen stehen.“

 

 

 

Die Politik: Mehltau über dem Land

 

Einer, der sowohl die Welten von Politik und Wirtschaft kennt, ist Hans Gerd Prodoehl. Gut 17 Jahre arbeitete er in der nordrhein-westfälischen Staatskanzlei. Als dort die SPD herrschte, kümmerte er sich um Medienpolitik. Seit 2001 arbeitet er als Berater, die letzten sieben Jahre selbständig. Prodoehl stört, dass immer wieder über Themen wie Bürokratie, lange Genehmigungsverfahren und schlechte Infrastruktur geredet wurde, aber nichts passierte. Ja, wir bräuchten „Leadership in den Parteien und Politik und nicht mehr nur Trippelschritt-Reformen wie das aktuelle Bürokratieentlastungsgesetz IV“, sagt er: „Das ist nicht einmal ein Tröpfchen auf den heißen Stein.“ Noch ein Tröpfchen: das geschrumpfte Wachstumschancengesetz.

All die Sünden und Fehler hat Prodoehl, verbunden mit Lösungsideen, in einem Buch zusammengefasst: „Sanierungsfall Deutschland.“ Nötig sei ein politisches System, das auf einfache Weise funktioniert und beste Rahmenbedingungen für die Wirtschaft schafft, damit diese wettbewerbsfähig bleibt, sagt er. Deshalb müsse man „mit der Machete hineinhauen in diesen Dschungel der Bürokratie“. Doch grundsätzlich sei das politische System in Deutschland so gebaut, dass Leadership schwer zu erreichen ist: „Nach 1945 war es die Leitlinie, bloß keinen starken Führer mehr möglich zu machen.“ Diese Konstruktion, so Prodoehl, passe immer dann, „wenn über Deutschland zuverlässig eine strahlende Sonne scheint, nicht aber bei Schlechtwetter.“

Womit wir wieder bei Olaf Scholz wären, dem Mann, bei dem man angeblich Führung bestellen kann. Der Kanzler legte im vorigen September eine Art Offenbarungseid ab: Ein „Mehltau aus Bürokratismus, Risikoscheu und Verzagtheit“ habe sich „über Jahre hinweg auf unser Land gelegt“, bekannte er. Es klang, als wolle er zur Machete greifen. Doch sein „Deutschland-Pakt“ zerschlug sich rasch im Hick-Hack mit der Union.
Unabhängig von solchen Scharmützeln könnte ein führungsstarker Kanzler in Sachen „Mehltau“ viel tun. So ist wenig verständlich, dass die einzelnen Bundesministerien weitgehend auf strategische Planung verzichten – in der Wirtschaft undenkbar. Und von einem großen Masterplan zum Umbau des Landes, einer „Agenda 2030“, ist ebenfalls nichts zu sehen. Prodoehl, selbst SPD-Mitglied, hat inzwischen null Hoffnung. Regierungschef Scholz sei „zugedröhnt“ mit aktuellen Themen: „Er kämpft darum, in den nächsten 18 Monaten glimpflich davonzukommen, um die nächste Bundestagswahl zu bestehen.“

In der Ökonomie würden Zielverfehlungen nicht folgenlos bleiben, sondern vom Markt bestraft, merkt der Chronist des „Sanierungsfalls Deutschland“ noch an, beim Staat aber sei das anders: „Dort werden vollmundig Pläne verkündet, etwa jährlich 400.000 Wohnungen zu bauen, und wenn es dann nur 265.000 werden, heißt es einfach: ,Auch nicht weiter schlimm.‘“

Scholz müsste ein Ministerium benennen, das für Bürokratieabbau zuständig ist, meint Professor Hermann Simon, Mitgründer der Bonner Beratungsfirma Simon-Kucher und bekannter Buchautor: „Hier ist Führung von oben angezeigt.“ Tatsächlich aber ist der Nationale Normenkontrollrat, der sich um Entbürokratisierung kümmert, nicht mehr Chefsache: Die Zuständigkeit fiel vom Kanzleramt ins Justizministerium.

In der Rückschau gelten drei Kabinettchefs als führungsstark: Helmut Schmidt, der „Weltökonom“, Helmut Kohl, der Kanzler der Einheit, sowie „Basta“-Regent Gerhard Schröder, Architekt der „Agenda 2010“. Es war ausgerechnet Schröder, der langjährige Mitstreiter von Wladimir Putin, der den führungsschwachen Scholz in der Ukraine-Politik lobte: Er mache das, „was ich von einem deutschen Bundeskanzler zurzeit erwarten würde“.

Aber kann man wirklich erwarten, dass ein Regierungschef neun Monate lang einem Staat wie der Ukraine eine Antwort schuldig bleibt? Bereits im Mai 2023 hatte sie offiziell um Taurus-Marschflugkörper gebeten. Erst seit kurzem argumentiert Scholz offen, Deutschland liefe Gefahr, zur Kriegspartei zu werden – was die Koalitionspartner FDP und die Grünen ganz anders sehen, aber auch die engen Bündnispartner Frankreich, Großbritannien und Polen. Als dann SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich sogar über ein „Einfrieren“ des Kriegs räsonierte, büxte sogar Parteigenosse Boris Pistorius aus. Eine solche Politik würde am Ende nur Putin helfen, so der Verteidigungsminister.

Generell werde Scholz in Führungsfragen eher als „Zauderer“ wahrgenommen, findet Berater Simon: „Es wirkt, als sei er eher eine Marionette der SPD-Fraktion, die ihn als ,Friedenskanzler‘ positionieren will.“ Als Moderator in der Koalition und in Europa fällt Scholz somit immer häufiger aus. „Der falsche Mann im falschen Job zum falschen Zeitpunkt“, ätzt der britische Ex-Verteidigungsminister Ben Wallace.

Es läuft schlecht für den CEO Deutschlands. Das Land will Führung, er glaubte, endlich Stärke gezeigt zu haben – und am Ende war es doch wieder nicht recht. „Wenn nicht mehr nachvollziehbar ist, warum jemand so führt, wie er führt, wird es schwierig“, kommentiert Ex-CDU-Grande Koch: „Dafür erleben wir dieser Tage ja einige Beispiele.“