Meine gesammelten Werke: Wie ich die Lage gesehen habe.

Interview mit Andreas Reckwitz, dem Soziologen, den der Bundeskanzler liest. Er warnt, ohne wachsenden Wohlstand drohe westlichen Demokratien womöglich die Implosion.

Handelsblatt, 04.08.2023

„Fortschritts­gesellschaft ohne Fortschrittsglauben“

Interview mit Andreas Reckwitz, dem Soziologen, den der Bundeskanzler liest. Er warnt, ohne wachsenden Wohlstand drohe westlichen Demokratien womöglich die Implosion.

Handelsblatt, 04.08.2023

Wirtschaft in der Stagnation, Polarisierung in der Gesellschaft, die AfD im Aufstieg – Deutschland 2023. Wenn einer die Republik erklären kann, dann Andreas Reckwitz. Der bekannte Soziologe bittet in seine Berliner Wohnung. Der Blick von oben fällt auf die Kuppel des nahen Doms. Von hier braucht er nur wenige Schritte bis zur Humboldt-Universität. Wir reden in der Küche, den Hometrainer neben dem Fenster fest im Blick.

I.                     Die Sache mit Ludwig Erhard

Herr Reckwitz, „Wohlstand für alle“ von Ludwig Erhard war das Motto der deutschen Marktwirtschaft. Ist das heute noch gültig?

Andreas Reckwitz: Die Idee war, dass die Wirtschaft wächst und alle daran teilhaben. Dieser Grundsatz hat die „trente glorieuses“ in der westlichen Welt insgesamt geprägt, die dreißig glorreichen Jahre zwischen 1945 und 1975. Die Moderne versprach großen anhaltenden Fortschritt und damit Wohlstand. Es ging dabei immer auch um Konsum. Dieses Versprechen ist in den letzten fünf, zehn Jahren fragiler geworden. Es verliert an Glaubwürdigkeit.

Also ist Erhards Buch ein Fall fürs Antiquariat?

So einfach ist es nicht. Denken Sie daran, dass sich die noch immer neue Bundesregierung „Fortschrittskoalition“ genannt hat. Die Fortschrittserzählung hat die moderne Gesellschaft immer stark angetrieben. Aber schon in den 1970er-Jahren gab es im Westen Wachstumsstockungen durch den Ölpreis-Schock, es wurde über „Grenzen des Wachstums“ diskutiert. Dann hatte der Kapitalismus nach 1989 neue Chancen, Russland und China boten sich als große Märkte an. Rückblickend war dieser Boom nur ein Intermezzo. Zudem verursacht nun der Klimawandel beträchtliche Schäden und Lasten.

Was aber passiert mit einer Gesellschaft, der Erhards Optimismus verloren geht?

Wir haben zunehmend eine Fortschrittsgesellschaft ohne Fortschrittsglauben. Eine brisante Mischung. Im Spätsommer 2022 äußerten 84 Prozent der Befragten in einer Umfrage der Universität Bonn und der Friedrich-Ebert-Stiftung die Erwartung, es werde kommenden Generationen schlechter gehen. Niemand weiß, was das politisch bedeutet. Es ist ein Experiment.

Geopolitische Krisen mit verknappten Rohstoffen oder Maßnahmen gegen die Klimakatastrophe enden für den Bürger in höheren Preisen. Inflation ist sozialer Zündstoff.

Moderne Gesellschaften leben von offenen Möglichkeiten in der Zukunft, von Barack Obamas „The best is yet to come“. Das ist inzwischen jedoch vielfach keine Verheißung mehr, sondern eine Bedrohung: Es kann alles passieren. Der Klimawandel zeigt, dass sich Lebensbedingungen extrem verschlechtern können, mit Folgen für Gesundheit, Wohlstand und Migration. Wir reden nun von „tipping points“, von Kipppunkten.

Gibt es auch politische „tipping points“?

Das ist denkbar. Westliche liberale Demokratien sind möglicherweise nicht so hyperstabil, wie wir immer dachten. Das sieht man an den USA. Es ist nicht ausgeschlossen, dass viele kleine Verunsicherungen an einem bestimmten Punkt zur Implosion des Systems führen könnten.

Wir reden über populistische Verführer wie Donald Trump.

Populismus ist Verlustunternehmertum. Verlustangst wird sozusagen kapitalisiert, man macht daraus politischen Gewinn. Trump versprach, wieder Kontrolle zurückzubringen über die Gesellschaft und das Leben der Amerikaner, das in einzelnen Regionen stark von Globalisierungsverlusten geprägt ist.

Die AfD hat keinen Trump. Sie gewinnt trotzdem stark in der Wählergunst.

Generell steigen in Europa überall rechtspopulistische Parteien auf. Deutschland ist in der Hinsicht kein Sonderfall. Aber ich würde bezweifeln, dass dies hierzulande gegenwärtig systembedrohlich ist. Allerdings ist es gut vorstellbar, dass sich der Konflikt zwischen jenen, die an das System glauben und jenen, die es ablehnen und im Extrem Verschwörungstheorien anhängen, verstärkt – gerade angesichts der genannten verbreiteten Verlustängste.

Gibt es angesichts des Booms von Autokratien genügend Menschen, die die Werte einer Demokratie verteidigen?

Leider muss man mittlerweile skeptisch sein. Eine Untersuchung der Universität Bonn zeigt, dass 75 Prozent der Deutschen die repräsentative Demokratie kritisch sehen. Sie bevorzugen eine direkte Demokratie oder eine Expertenherrschaft. Hier zeigt sich eine bedenkliche Unzufriedenheit und eine Neigung zu einfachen Lösungen. Klar wird, dass das politische System an sich arbeiten muss, um Vertrauen zurückzugewinnen.

 

II.                   Verlust der „Mitte“

Aktuell beschäftigt sich Reckwitz mit einem neuen Buch zum Thema „Verlust in der Gesellschaft“. Als Fellow im Thomas-Mann-Haus in Los Angeles begann er im Herbst 2022 mit den Arbeiten hierzu. 400 Seiten sind geplant, 70 Prozent geschrieben. Im Herbst 2024 kommt es bei Suhrkamp heraus. 20 Jahre nach dem letzten Besuch war Reckwitz in L.A. geschockt: Er dachte nach in der Blase des feinen Stadtteil Pacific Palisades, ganze andere Stadtteile aber waren dominiert von Obdachlosen.

Herr Reckwitz, drohen Verhältnisse wie in Frankreich? Dort werden radikale Kräfte links und rechts immer stärker, auf Kosten der Mitte.

Man müsste noch einmal fragen, was die Mitte ist. Politisch sind dies die moderaten Parteien, die in Deutschland immer noch recht stark sind. Aber eine sozialstrukturelle Mitte ist schwer zu bestimmen. Es ist eine Illusion, dass es so etwas wie ein Zentrum der Gesellschaft gäbe, im Sinne einer „bürgerlichen Mitte“.

Aber braucht nicht jede Gesellschaft einen stabilen Kern?

Welcher Kern? Es gibt keinen Kern. Es gibt nur viele Milieus. Die Milieus der neuen Mittelklasse vertreten engagiert die Werte der Demokratie. In Frankreich hat sie Emmanuel Macron unterstützt. Doch inzwischen langt das dort nicht mehr. Um ein System zu stützen, braucht man auch große Teile der alten Mittelklasse und der prekären Klasse. Der Niedriglohnsektor macht hier etwa 20 Prozent aus. Man kann hier von einer neuen „Service Class“ sprechen.

Aber was ist der Kitt der Gesellschaft? Sind es die Institutionen?

Es gibt Kollegen in der Soziologie, die sagen, eine Gesellschaft brauche das gar nicht. Zu denen zähle ich nicht – ohne geteilte Regeln und Erwartungen ist das soziale Leben nicht denkbar. Seit den 1970er-Jahren sind die Gesellschaften zugleich immer individualistischer geworden, der Fokus liegt auf dem Besonderen der Individualität und auf kleinen Gruppen mit gemeinsamer Identität. Rein formal würde ich vermuten, dass die moderne Gesellschaft klassischerweise vom Fortschrittsnarrativ zusammengehalten wird. Und dass dieses mittlerweile an Glaubwürdigkeit verliert, ist eben eine Herausforderung.

Fortschritt im Kampf gegen die Klimakatstrophe wäre doch auch Fortschritt.

Der Begriff „Fortschritt“ ist sehr formal. Was heißt eigentlich „besser“? Vereinzelt wird versucht, Fortschritt umzudefinieren. Da geht es um eine Gesellschaft, die resilienter wird. Es geht darum, nicht mehr das Beste zu erreichen, sondern das Schlimmste zu verhüten. Es gibt sehr unterschiedliche Wahrnehmungen in der Bevölkerung. Die neuesten Studien des Heidelberger Sinus-Instituts zeigen, dass ein bedeutendes Milieu der progressiven Realisten entstanden ist. Dazu gehören auch Leute mit mittleren Einkommen, die Klimapolitik für unabdingbar halten und in ihrem eigenen Alltag anfangen. Das Gegenmodell hierzu ist das nostalgisch bürgerliche Milieu. Man möchte die alte Welt behalten und ist sehr skeptisch gegenüber dem, was aktuell abläuft.

Hier liegt die Hauptursache für die Polarisierung, die wir beobachten können?

Es ergibt sich jedenfalls eine neue Konfliktlinie. Die Frage ist, ob diese Differenz zwischen neuer und alter bürgerlicher Mitte medial und parteipolitisch zugespitzt wird oder nicht. Das ist ein offener Prozess. Medien und Parteien wirken in die Milieus zurück. In den USA haben mediale Paralleluniversen die Lage eskaliert. Bisher ist das in Deutschland schwächer ausgeprägt. Auch das Parteiensystem ist stärker zur Mitte orientiert. Das Mediensystem ist allerdings nicht in Stein gemeißelt. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk und die klassischen Zeitungen verlieren an Zuspruch.

Befinden wir uns insgesamt in einer „Abstiegsgesellschaft“, wie Ihr Kollege Oliver Nachtwey das nennt?

So pauschal bin ich bin skeptisch. Es gibt zweifellos im Zuge der Deindustrialisierung der letzten Jahrzehnte, mit dem Bedeutungsgewinn der einfachen Dienstleistungen und dem Niedriglohnsektor sozialen Abstieg in beträchtlichem Umfang. Umgekehrt hat im Zuge der Akademisierung ein neues Segment der Wissensarbeiter vom sozialen Wandel profitiert. Die Gesellschaft enthält beides: Aufstieg und Abstieg. In diesem Nebeneinander zwischen Gewinnern und Verlierern liegt jedoch gerade die gesellschaftliche Brisanz.

 

III.                 Was die Wirtschaft machen muss

Reckwitz äußert sich vorsichtig, abwägend. Der 53-Jährige hat einen nüchternen Blick, auch auf die Ökonomie. „Purpose“ hält er zum Teil für eine Leerformel. Geprägt hat ihn die Zeit im britischen Cambridge. Dort machte er unter dem berühmten Soziologie-Professor Anthony Giddens seinen Master. Auch Konstanz, Stadt seiner ersten Uni-Professur, hat Reckwitz geprägt. Seine Bücher „Die Gesellschaft der Singularitäten“ und „Das Ende der Illusionen“ wurden von Olaf Scholz öffentlich gelobt. Aus SPD-Kreisen ist zu hören, dass der Wissenschaftler Anfang 2023 mit dem Münchner Kollegen Armin Nassehi im Bundeskanzleramt weilte.

Herr Reckwitz, welche Rolle sollen Unternehmer und Manager in einer von Super-Krisen und Verlusten bedrohten Gesellschaft spielen?

Ihre Aufgabe ist es, profitabel und effizient, Güter zu produzieren. Eine leistungsfähige Wirtschaft steigt in Segmente sein, die dieses Versprechen erfüllen. Aktuell etwa in eine klimagerechte Produktion, zum Beispiel von Wärmepumpen oder Bio-Lebensmitteln. Und hier sind die Firmen ja auch sehr aktiv. Man sucht nach neuen technischen Lösungen und schaut, wie sich die Konsumenten entwickeln.

Die Wirtschaft nimmt sich selbst viel mehr vor. Sie will nach Kriterien der Ökologie, des Sozialen und der guten Unternehmensführung investieren, also anhand von „ESG“-Kriterien. Ex-Siemens-Chef Joe Kaeser verstand sich als „politischer CEO“.

Es ist positiv, wenn die Wirtschaft über den Tellerrand hinausschaut und auch eine gesellschaftliche Verantwortung insgesamt wahrnimmt. Dann trägt sie den Modernisierungsprozess mit, etwa wenn es um Diversität geht. Unternehmen müssen auch deshalb ethischer und moralischer als früher Stellung nehmen, weil sie anders die hochqualifizierten Mitarbeitenden gar nicht mehr für sich gewinnen können. Die verlangen das.

Ist der Kapitalismus in der Gesellschaft noch hinreichend akzeptiert? Die Kritik scheint zuzunehmen.

Das beobachte ich auch. Im akademischen Milieu ist Kapitalismuskritik deutlich stärker geworden. Arbeiten wie von Thomas Piketty über eine ungleiche Vermögensverteilung sind sehr populär, gleichzeitig wird in Berlin über Vergesellschaftung von Immobilien debattiert oder bundesweit die Rekommunalisierung von Betrieben der Daseinsvorsorge vorangetrieben, etwa im Energiemarkt. Da hat sich etwas verschoben. Auch spricht man wieder mehr von sozialen Klassen. Das war vorher verpönt.

Es gehört zur „Zeitenwende“, dass sich der Staat wieder stärker in die Wirtschaft einmischt. Muss man den Begriff des „Wohlfahrtsstaats“ neu deuten?

Historisch wurde darunter verstanden, dass der Staat ein umfassendes soziales Sicherungssystem installiert. In der Neoliberalisierung wurde das zurückgefahren. Wenn es jetzt um den Staat geht, ist das weniger der klassische Wohlfahrtsstaat, sondern es geht um die Sicherung einer öffentlichen Infrastruktur etwa in den Bereich Bildung, Verkehr oder Energie. Was hier verhandelt wird, sind öffentliche Güter. Das geht sehr ins Detail und ist nicht so öffentlichkeitswirksam, aber hier ist ein wichtiger Paradigmenwechsel im Gange.

Haben Sie mit Ihren Büchern eigentlich Einfluss auf die gesellschaftliche Entwicklung?

Ich bin in der Selbsteinschätzung zurückhaltend. Meine Bücher werden gelesen, sie geben insofern Impulse in den öffentlichen Diskurs. Die Soziologie insgesamt ist in den letzten Jahren einflussreicher geworden.

Der Bundeskanzler hat öffentlich bekannt, Ihre Bücher gern zu lesen.

Olaf Scholz ist sehr interessiert an grundsätzlichen Büchern zur gesellschaftlichen Entwicklung, das finde ich sehr positiv. Natürlich zieht er seine eigenen Schlüsse daraus.

Sie haben seit 1999 eine Wohnung in Berlin. Dort begegnen Sie der großen Politik ebenso wie den sozialen Problemen des Landes. Eine Arbeitshilfe für den Soziologen?

In jedem Fall. In der Metropole ist man als Soziologe der gesellschaftlichen Realität ganz anders ausgesetzt als in der Kleinstadt. Gerade in Berlin zeigt sich lehrbuchartig die ganze Gegensätzlichkeit der spätmodernen Gesellschaft.

Wie meinen Sie das konkret?

Einerseits existieren in Berlin so viele Start-ups wie sonst nirgendwo im Land, die Innenstadt ist von Akademikern und Wissensarbeitern und Wissensarbeiterinnen geprägt, man pflegt eine internationale Kulturszene. Andererseits gibt es eine sehr großen Niedriglohnsektor, eine verbreitete Gig-Ökonomie und soziale Probleme. Die Fragen von Aufstieg und Abstieg, von Gewinnern, Verlierern und neuen Konflikten, sind in Berlin allgegenwärtig.