Meine gesammelten Werke: Wie ich die Lage gesehen habe.

Interview mit Peter Sloterdijk über Künstliche Intelligenz, den Systemstreit zwischen den USA sowie der süchtig machenden Konsumkultur

Handelsblatt, 14. 07. 2023

„Es gibt auch künstliche Dummheit“

Interview mit Peter Sloterdijk über Künstliche Intelligenz, den Systemstreit zwischen den USA sowie der süchtig machenden Konsumkultur

Handelsblatt, 14. 07. 2023

 

Der Hausherr empfängt barfuß. Sein großer Hund bellt diesmal nicht. Vielleicht habe der Interviewer ein gutes Karma, sagt Peter Sloterdijk, 76. Die Wohnung liegt im Berliner Stadtteil Halensee. Der ist Ende des 19. Jahrhundert als Villengegend für Rentiers, Beamte, pensionierte Militärs und Literaten entstanden. Den im Vorgespräch angebrachten Hinweis auf „Literaten“ quittiert der Philosoph, Sachbuchautor und Literat mit einem leichten Lächeln. Mit seiner Frau lebt er zudem im südfranzösischen Chantemerle-lès-Grignan. Auf dem Tisch liegt aufgeschlagen das Buch „Ces idées chrétiennes qui ont bouleversé le monde“ von Jean-Francois Chemain über die christlichen Ideen, die die Welt veränderten. Los geht´s mit einem aktuellen Thema. Vom Garten dringt Vogelgezwitscher in den Raum.

I.                    Künstliche Intelligenz

Herr Sloterdijk, die beliebteste Frage in deutschen Alltagsgesprächen ist derzeit: Wie hältst du es mit Chat-GPT, also mit Künstlicher Intelligenz (KI).

Mag sein, dass das Feuilleton so diskutiert. Ich selber habe damit bisher keine Erfahrung gemacht. Was ich darüber lese, ist drollig genug. Es soll tatsächlich einer mit seinem Gerät in Streit geraten, weil das behauptet hatte, mit ihm verheiratet zu sein – und sich davon nicht abbringen ließ.

Jenseits solcher Anekdoten: Wie sehen Sie als Philosoph die Auswirkungen von KI auf den Menschen und die Gesellschaft?

Die Menschen haben schon vor Jahrtausenden das Unangenehme, Anstrengende, Repetitive auf Sklaven verlagert, später auf Maschinen, die wie Sklaven einzusetzen waren, nur ohne die Ermüdbarkeit, die zur menschlichen Natur gehört… KI ersetzt nun tendenziell nicht nur den Arbeits- und Haushaltssklaven, sondern auch den Soldaten. Das ist eine der Lektionen aus dem Ukraine-Krieg. Drohnen sparen Piloten ein.

Ein legendärer Pilot wie Manfred von Richthofen im Ersten Weltkrieg ist damit obsolet.

Wir haben jetzt fliegende Sklaven, so kann der Rote Baron auf seinen Schlössern zu Hause bleiben.

Womöglich müssen allerdings bald auch einige Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zuhause bleiben, Kollege KI übernimmt.

Sämtliche technische Revolutionen haben die Arbeit insgesamt nicht verringert. Es gab zwar und es gibt einen riesigen Strukturwandel der Arbeit, seit um 1800 die Kraftmaschinen hinzugekommen sind. Und doch: Auf deutschem Boden haben noch nie so viele Menschen gearbeitet wie derzeit: 42 Millionen! Der Begriff der Arbeit selbst hat sich bewegt: Neben dem Herstellen, Kommunizieren, Verwalten, Aufräumen, Reinigen ist ein enormes Feld verbrauchender Handlungen auf die Arbeitsseite übergegangen. Das Aufkommen der Lieferdienste beweist es. Das Einkaufen wurde als Arbeit förmlich anerkannt, indem sie durch einen anderen Dienst substituiert wird. Die hochmütige These von Hannah Arendt aus dem Jahr 1958, wir gingen auf eine Gesellschaft von Banausen zu, sprich von Nur-Arbeitern, denen tragischerweise die Arbeit ausgeht, ist in keiner Weise zutreffend.

Aber die Arbeitszeit sinkt tatsächlich. Wird dank KI die alte Utopie von Karl Marx wahr: Dass der Mensch morgens jagen, nachmittags fischen, abends Viehzucht treiben kann und nach dem Essen kritisiert – ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden?

Der Traum von Entlastung und Freizeit ist zu einem guten Teil verwirklicht! Von den 164 Stunden einer Woche arbeitet der homo germanicus 38,5 Stunden. Folglich ist er mit der Verlegenheit konfrontiert, aus 125 freien Stunden etwas zu machen – ohne dass alle Fischer werden. So viele Fische gibt es in allen Seen und Flüssen nicht! Oder stellen Sie sich vor, alle würden in ihrer freien Zeit Kurse bei „Schreib Dein Buch“ belegen!

Die Zahl der Selbstpublikationen bei Amazon steigt. Im Übrigen tobt man sich bei Social Media aus.

Frei nach Mephisto wäre mein Kommentar: „Mit Schrecken sehe ich das von weitem.“ Man fällt dieser Tage in die ausgebrannte Debatte des Poststrukturalismus über den Tod des Autors zurück, da wir den zweiten Tod des Autors erleben, bewirkt durch den Chatbot, der einen Gutteil der mechanischen Formulierungsarbeit übernimmt. Muss man darüber sonderlich traurig sein? Ich meine nicht. Der Menschennarzissmus lässt sich nicht dadurch retten, dass wir beteuern, irgendetwas besser zu können als der Computer. Man gerät in Bezug zu den Apparaten automatisch in die Lage des betrogenen Ehemanns, der seine Frau fragt: Was hat er denn, was ich nicht habe? Man muss sich letztlich mit sich selbst verständigen – das gelingt nicht ohne lebensspende Illusionen.

 

II.                 Technik und Gesellschaft

Es ist ein humorvolles Gespräch. Nach Fragen macht Sloterdijk schon mal eine längere Pause, spricht leise und langsam, lacht viel. Er ist hochgradig assoziativ, zitiert die Philosophen Gotthard Günther oder Sören Kierkegaard oder „unseren guten Doktor Martin Luther“. Vor allem hält es Sloterdijk mit Friedrich Nietzsche. Zum Beispiel mit dessen Theorie, die künftige Menschheit solle immer zwei Gehirnkammern parat halten, eine für Logik und Wissenschaft, die andere für poetische Funktionen. Sloterdijk, der vor 45 Jahren für einige Zeit im Aschram von Bhagwan Shree Raineesh (Osho) in Pune lebte, erzählt von einem Kongress in Schaffhausen: Dort erklärte er Psychiatern, an geraden Tagen sollten sie schauen, wie der Mensch funktioniere, an ungeraden Tagen aber daran denken, dass es eine merkwürdige Direktkommunikation mit dem Universum gebe. Sloterdijk selbst bezeichnet sich im Gespräch als „weitwinklig“.

Die Frage bleibt trotzdem, ob der Staat und seine Bürger mit der Disruption KI zurechtkommen.

Der Actionfilm der Massenkultur hat Sorgen dieser Art vor mehr als 30 Jahren vorweggenommen. Damals tauchte in der „Terminator“-Reihe die smarte Kampfmaschine T-1000 auf, die sich nach ihrer Zerstörung selbst regenerieren konnte – sie bestand aus intelligentem Flüssigmetall, das auf Selbstreparatur programmiert war. Eine maschinelle Parodie der Auferstehung! Hollywood hat den mythologischen Wert solcher Figuren früh begriffen. Wie in Ovids „Metamorphosen“ geht es um Gestaltwandel und Austauschbarkeit von Erscheinungen. Menschen werden zu Bäumen oder Tieren, eine Statue wird zu einer echten Frau, wie bei Pygmalion. Künstliche Intelligenz liefert die Matrix für Metamorphosen in allen Richtungen. Seit 2000 Jahren träumen wir davon. Das Schockierende ist, dass der Traum wahr wird.

KI könnte womöglich auch uns beide irgendwann ersetzen.

Nicht irgendwann, eventuell schon in einer Stunde. Vielleicht müssen wir am Ende dieses Gesprächs deklarieren, dass wir keine Roboter sind, die über sich selbst gesprochen haben. Die beste Antwort wird bis auf weiteres heißen: Ich habe keinen Chatbot, ich war schon immer einer – was so viel heißt wie: Ich habe viele Bücher studiert, bis ich die fachlichen Diskurse automatisch abspulen konnte.

Was bedeutet das konkret?

Was mechanisch abläuft, auch auf Nervensystemen, wird früher oder später als mechanisch erkannt und kann dann nachgebaut werden. Natürlich gruselt das den Menschen, doch es gruselt ihn gern. Man könnte meinen, die gute alte Einrichtung der Geisterbahn sei von den Kirmessen in die Feuilletons verlegt worden. Jeder Kulturredakteur, der auf sich hält, eröffnet seinen eigenen Geister- und Monsterbahnbetrieb.

Unbestreitbar ist KI eine Herausforderung für den Humanismus. 1999 formulierten Sie „Regeln für den Menschenpark“. Eigentlich bräuchten wir nun Regeln für den Maschinenmenschenpark.

Kein Mensch wird gerne durch eine Maschine ersetzt, es sei denn, ein Bagger macht schwere Schaufelarbeit überflüssig. Im Allgemeinen kränkt es, sich überflüssig zu fühlen. Sigmund Freud hat die Geschichte der Neuzeit als eine Serie von drei Kränkungen beschreiben wollen: die kosmologische (Kopernikus), die uns vorgeblich aus der strahlenden Mitte rückte, die biologische (Darwin), die uns die Affen als Verwandte einbrachte, und die psychoanalytische (Freud), die zeigte, wir sind gar nicht Herren im eigenen Haus. Derzeit herrscht von neuem Kränkungswetter über der Alten Welt. Die Sphäre des Mechanischen dehnt sich zu Lasten des Seelischen immer weiter aus. Man kann das als unheimlich empfinden.

Was ist „unheimlich“?

Sloterdijk: Die Nachäffung des scheinbar einzigartig Humanen durch den Apparat. Schachgroßmeister glaubten bis vor einem Jahrzehnt, sie könnten ihre königliche Intelligenz gegen die Maschine beweisen – sie werden heute vom erstbesten Automaten gedemütigt. Vor einigen Jahren hat ein Team von Wissenschaftlern und Kunsthistorikern in Holland einen Mal-Automaten so programmiert, dass er einen bisher unbekannten Rembrandt abliefern konnte. Selbst Experten erkannten den Unterschied nicht sofort.

„Deep Fakes“ können leicht politisch wirken, etwa wenn manipulierte Fotos einen Donald Trump in Handschellen zeigen oder Rauchwolken vor dem Pentagon.

Der Regisseur Jean-Luc Godard konnte noch sagen: Der Film ist die Wahrheit, 24-mal pro Sekunde. Damals ein großer Satz, heute leider falsch. Es entsteht ein enormes Wahrheitsproblem, wenn die Beweiskraft von Lichtbildern in Bezug aufs Reale nicht mehr gegeben ist – wenn also der „pencil of light“, wie der erste Fototheoretiker William Henry Fox Talbot ihn um 1848 nannte, selbst schon in Lügen badet. In welcher Welt leben wir dann? In der künftigen Realität wird man öfter Sätze wie diesen hören, der sich auf Ronald Reagan bezog: „Der Präsident färbt seine Haare nicht, er ist nur vorzeitig orange geworden.“

Demokratie lebt durch Aufklärung, durch das Wissen, was wahr ist und was nicht.

Richtig. Aber was früher eine Krankheit war, wird heute eine Kunstform: das pathologische Lügen. Damit treten neue ethische Komplikationen auf. Man muss jetzt den Fundus der Tugenden durchforschen und sehen, was noch hilft. Mit dem Appell an die gute alte Ehrlichkeit wird man nicht mehr weit kommen. Technische Kontrollmechanismen werden wichtig. Sie müssen der Fälschung mit ihren eigenen Mitteln entgegentreten. Zu jedem Foto wird man ein Entstehungs-Protokoll fordern, fälschungssicher angelegt.

 

III. Politische und wirtschaftliche Elite

Zeit, politischer zu werden. Sloterdijk hat wiederholt öffentlich eine „Helvetisierung“ der Welt gepriesen, das Leben in kleineren, dezentralen Einheiten, so wie in der Schweiz. Die neue Technik aber fördert tendenziell Großgebilde. So fällt Sloterdijks Blick auf die Großmächte negativ aus. Die USA sieht er in der Rolle des verrückten Psychiaters, zitiert dabei den Film „Dr. Seltsam oder: Wie ich lernte, die Bombe zu lieben“ von Stanley Kubrick (1964). Angesichts der politischen Weltlage werden Philosophen nie ganz arbeitslos, folgert Sloterdijk.

 

KI spielt auch eine Schlüsselrolle im Systemstreit zwischen China und den USA. Wer über die KI herrscht, herrscht über die Welt, rief Wladimir Putin aus.

Was zeigt, es gibt nicht nur künstliche Intelligenz, es gibt auch künstliche Dummheit. Russland ist diesbezüglich an erster Stelle zu nennen, dicht gefolgt von China. Beide leisten derzeit auf diesem Gebiet Außerordentliches, indem sie auf die ältesten Schemata imperialer Megalomanie hereinfallen. Sie haben noch immer nicht begriffen, dass das Groß-Sein-Wollen selbst in the long run ein suizidales Programm ergibt. In Europa weiß man das seit 1945 ziemlich präzise, sofern man von der imperialen Nostalgie der Briten absieht. Auf dem Höhepunkt der natürlichen Dummheit wollten Kleinstaaten wie Portugal, Belgien, Holland oder Dänemark Weltmächte sein – und sie wurden es. Nach den entsprechenden kriegerischen Katastrophen blieb davon kaum etwas übrig. Was die westliche Hemisphäre angeht, ist Amerika weiterhin unser Dauerpatient. Man kann dem heranziehenden intermegalomanischen Weltkrieg nur beklommen zusehen.

Sie sehen einen Weltkrieg voraus?

Er ist in gewisser Weise schon im Gang. Solange sich die Chinesen nicht deutlich von Russland distanzieren, nimmt der Ukraine-Krieg die Züge eines Vorfeldgefechts zwischen den USA und China an.

Rund um die Taiwan-Frage?

Nirgendwo im Protokoll der Schöpfung ist festgelegt, Taiwan müsse ein Teil Rot-Chinas sein. Nicht ohne Grund hatte sich Tschiang-Kai-schek vor fast 75 Jahren auf die Insel zurückgezogen: Nicht alles, was chinesisch ist, hat den Weg Maos zu gehen. Es wäre für Peking zudem ein enormes Risiko, 25 Millionen demokratiefähige Chinesen mit dem sogenannten Mutterland zu vereinigen. Jeder Taiwanese würde ein Demokratie-Botschafter. Mit Taiwan würde wohl nicht gelingen, was man mit Hongkong angestellt hat.

Aber es geht bei der geopolitischen Konfrontation auch um einen Grundsatzkonflikt zwischen Demokratie und Autokratie – oder zwischen Privatkapitalismus und Staatskapitalismus.

An der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe haben wir vor 15 Jahren über den Unterschied zwischen liberalem und autoritärem Kapitalismus diskutiert – ein schmaler Band dokumentiert die Beiträge. Wir waren viel weiter als die Thinktanks in den USA. Man erkennt an der Antithese zwischen den beiden Systemen der Reichtums-Erzeugung jedoch vor allem eines: dass Künstliche Intelligenz auf höchster Ebene nicht intelligenten Zielsetzungen dient, sondern instrumentalisiert wird für Ausdehnungskämpfe einer irrationalen Zentrale im Bann megalomanischer Höchstdummheit.

Der globalen Wirtschaftselite stellen Sie öffentlich kein gutes Zeugnis aus. Sie reise jährlich zum Weltwirtschaftsforum auf der Alpenfestung Davos, um sich in ihren Irrtümern zu bestätigen.

Das sind nur scheinbar häretische Bemerkungen. Die Manager und Politiker dort sind wie Goldfische, die sich gegenseitig versichern, dass sie noch im selben Goldfischglas schwimmen. Davos erzeugt ein riesiges Illusionsfeld. Ich würde selbst nicht hingehen, weil ich Höhenluft nicht vertrage. 24 Stunden Sils-Maria zur Not, als Nietzsche-Exeget gehört das zu meinem Pensum. Aber Davos… das Spektakel ist die Atemnot nicht wert.

Was vermissen Sie bei den wirtschaftlichen Entscheidern?

Seit 30 Jahren werde ich als philosophischer Exot zu Unternehmertagungen eingeladen. Ich frage mich immer noch: Was lernen die Leute dabei und wie? Mein Resümee: Sie nehmen an einem heimlichen Irrtumvermeidungs-Training teil. Es geht durchwegs nur darum, zu tun, als könne man das Unterlassen von Fehlern lernen. Man will die jeweiligen Catch-Words abschöpfen, die aus der jüngsten Konsultationsblase in Umlauf kommen. Tagungen sind Wallfahrten zu einer Kapelle, an der ein Sonderablass gewährt wird.

Das Kirchliche scheint es Ihnen angetan zu haben.

Seit mehreren Jahrzehnten habe ich solche Motive im Kopf, und ich komme aus gutem Grund immer wieder auf das frühe Christentum zurück. Die katholische Kirche war – organisationssoziologisch gesehen bis zur Reformation des 16. Jahrhunderts – die einzige stabile Erfolgsgeschichte, die ein Kommunikationsunternehmen auf europäischem Boden zustande brachte. Die modernen Nationalstaaten sind daneben kurzatmige Gebilde. Der Begriff „Kirche“ enthält eine Doppelbedeutung, in der sind sowohl Hardware – die Gebäude und Terrains – als auch Software – Dogmen, Konvente, Gesänge – enthalten. Mit einer solchen Analogie vor Augen kann man sich auf heutige Unternehmergespräche gut vorbereitet einlassen.

 

IV. Klimawandel: Schrumpfen oder grün wachsen?

Sloterdijk erzählt, sich Notizen zum „Unterschied zwischen Genie und Manager“ zu machen. Ein neues Thema. In zwei Jahren könnte ich mich dazu noch mal melden. Ansonsten: Noch wichtige Fragen? Fast eine Stunde haben wir jetzt geredet. Wäre er jetzt auf dem Giro d‘ Italia, bräuchte er einen Energieriegel, erklärt der begeisterte Radfahrer. Verstanden, aber was denn mit dem Thema seines aktuellen Buchs sei, dem Klimawandel? Die Antwort: Vielleicht wäre das Publikum froh, mal ein Interview ohne Bezug auf das Klimaproblem zu lesen. Dabei hat Sloterdijk erst jüngst auf der „Phil.Cologne“ darüber lange mit Wirtschaftsminister Robert Habeck geredet, ein „Spiel der ganz großen Thesen“ („Süddeutsche Zeitung“). Jetzt noch mal Nietzsche: Alle Heilkunst hänge daran, dass wir für die fasche Erleichterungen hinterher am meisten zu bezahlen haben. Aber was heißt das konkret?

Auf dem von Ihnen heftig in Frage gestellten Weltwirtschaftsforum in Davos wird seit Jahren über den Klimawandel gesprochen. Der ist Thema Ihres neuen Buchs „Die Reue des Prometheus – Von der Gabe des Feuers zur globalen Brandstiftung“. Sie weisen darauf hin, wir hätten uns vom „Titan Kohle“ abhängig gemacht.

Sie wissen ja – „von allen Verbrechern ist der Brandstifter der heimtückischste“. Kein Kohlekraftwerkbetreiber wäre bereit, sich als Brandstifter bezeichnen zu lassen, er möchte wie jeder höhere Dealer als Wohltäter seiner Klienten gelten.

Was ist der richtige Weg: Im Sinne der Dekarbonisierung Konsumverzicht leisten oder lieber auf ein grünes Wachstumswunder setzen?

Bis vor kurzem hat man das Verzichten oder Sich-Mäßigen im unteren Bereich der Ethik angesiedelt. In der klassischen Tugendlehre fängt alles mit Einsicht („sapientia“) an, die zweite Stufe gehört der Gerechtigkeit („iustitia“), die dritte dem Mut beziehungsweise der Tatkraft („fortitudo“). Dann erst kommt die Mäßigung („temperantia“), als eine Art Hemmungsinstanz hinzu – sei es gegenüber der persönlichen Gier, aber auch gegenüber dem übergriffigen Staat, der mit zu viel Krafteinsatz für etwas sorgen will, was er Sicherheit und Gerechtigkeit nennt. Nirgends im Westen ist die Exekutive so übergriffig wie in Amerika, und sei es nur bei einer Verkehrskontrolle – besonders wenn der Fahrer die falsche Hautfarbe hat oder die Hand an der falschen Stelle an die Karosserie legt. Wird er erschossen, war er immer selbst schuld.

Sie plädieren für einen „energetischen Pazifismus“ und schwärmen von Innovationen. So sollen Vulkane an Tiefenkraftwerke angeschlossen werden.

Ich schwärme nicht, ich mache Andeutungen. Es tut sich technisch sehr viel. Ein deutsches Zementwerk hat kürzlich ein Verfahren zur emissionsfreien Zementherstellung entdeckt. 30 Prozent aller CO2-Emissionen kommen aus der Sphäre der Bauwirtschaft. Daneben kann man den Beitrag der deutschen Autoverbrenner-Flotte zur Schadstoffemission fast auf der Flohzirkus-Ebene ansiedeln.

Das Problem beim Klimaschutz ist: Jeder weiß um die Notwendigkeit, will aber selbst so wenig wie möglich ändern.

Der Massenkultur ist mit Verzichtsparolen nicht beizukommen. Das moderne Wirtschaftssystem beruht nun mal auf dem Zyklus von Überproduktion, Überkonsum und Überfinanzierung, sprich extremer Verschuldung. Wenn sich der Überkonsument auf einmal zu einem bescheidenheitsgelenkten Normalkonsumenten entwickeln wollte, was macht dann der Überproduzent? Die Frage ist systemischer Art: Können wir wirklich die Kunst nachhaltiger Kartenhauskonstruktion erlernen? Dann müssten wir genauer wissen, wie man tausendunddrei Labilitäten so konfiguriert, dass das Ganze den Eindruck von Stabilität hervorruft.

Menschen richten sich nach Produktpreisen. Diese müssten eben nur die ökologischen Kosten wiedergeben.

Das stimmt nur in oberflächlicher Sicht. Historiker erinnern uns daran, wie die Briten im ersten und zweiten Opiumkrieg, 1842 bis 1860, die Chinesen zwangen, ihre Häfen zu öffnen und den Import von britisch-indischem Opium unbegrenzt zuzulassen – ebenso die christlichen Missionen. Man könnte mit Marx sagen: zwei Arten von Opium des Volkes. So gut wie alles, was wir heute konsumieren, hat längst auch einen opioiden Faktor – die Ware Energie als führende Mobilisierungsdroge weit vorn an erster Stelle. Produkte, mit denen ich eine Klientel süchtig mache, bilden die Schlüsselgeschäfte.

Sie meinen Dinge wie das iPhone?

Diese egotechnische Superdroge kommt zu uns als Revanche-Opioid aus China, aber auch die unendlich angewachsenen Geschäfte des Tourismus, der Kosmetik, der Mode weisen Sucht-Charaktere auf. Eine Handelsmarke wie Douglas prägt das moderne Frauenbild kontinente-weit. Ein Zug von sexualisiertem Drogenkonsum wirkt in alle Transaktionen ein. Wie stelle ich dem irrationalen Begehren der Anderen die passende Falle? Das ist die Leitfrage der Weltwirtschaft – die wird unter den Dealern in Davos nicht diskutiert.

Ein Gespräch über Verzicht wird da unmöglich?

Man braucht kein Gespräch, man hat sich ja schon auf die Lösung geeinigt: Es geht darum, alternative Drogen anzubieten – Methadon für alle.

Woher kommt dann die Heftigkeit des Kampfs ums Klima?

Die Klimadebatte hat ein so starkes Pathos, weil die im Fossildrogenzeitalter aufgewachsenen jungen Leute fest glauben, dass Sonne und Wind es für sie richten werden. Dann klebe ich mich um der nächsten Verwöhnung zuliebe halt auf der Straße fest, die Droge Sonne ist ja als globales Methadon verfügbar, man soll es nur sehr viel schneller liefern als vorgesehen – danach fliege ich für drei Wochen nach Mallorca.

Herr Sloterdijk, vielen Dank für das Gespräch.