Meine gesammelten Werke: Wie ich die Lage gesehen habe.

Plädoyer für die Rettung des Medienjournalismus

süddeutsche.de / epd medien Nr. 12 · 24.03.2023

Eine Königsdisziplin

Plädoyer für die Rettung des Medienjournalismus

süddeutsche.de / epd medien Nr. 12 · 24.03.2023

Reden wir über Medien, reden wir über Medienjournalismus. Reden wir also über einen klaftergroßen Widerspruch. Deutlich ist er zu spüren und führt doch zu erstaunlich wenigen öffentlichen Debatten. Medienjournalismus ist nicht tot, es riecht nur etwas streng, könnte man in Abwandlung eines Spruchs von Frank Zappa über Jazz formulieren. Auf der einen Seite haben wir eine sich mit Tempo und Totalität ausbreitende Informationsgesellschaft, auf der anderen Seite eine zunehmend schwächelnde Beschäftigung mit deren Strukturen und Folgen – wahrzunehmen durch einen schon nicht mehr schleichenden, vielmehr trabenden Bedeutungsverlust des Medienjournalismus. Er findet sich inzwischen in der publizistischen „Mauerblümchen“-Kategorie wieder. Dabei handelt es sich um eine Königsdisziplin der Branche. Trolle und Desinformationsagenten Das ist einigermaßen absurd. Schließlich prägen ja immer öfter nicht Wirklichkeiten unser Bild von der Welt, sondern die Erzählungen darüber, die medial vermittelten „Narrative“. Die Kontrolle über diese Erzählungen obliegt aber nur noch bedingt einem der Qualität und Werten verpflichtenden Journalismus, dem alten Türwächter der Öffentlichkeit. Stattdessen sind die Erzählungen der modernen Medienzeit Exerzierfeld mannigfaltiger Manipulationen, die von ihrem Ursprungsfeld, den „sozialen Medien“ (die mitunter erstaunlich asozial sind), in die alten klassischen Medien hineindrängen. Und die halten einen Tweet tatsächlich häufig genug für die Stimme des Volkes. Wo früher ausgebildete Redakteure Verantwortung trugen, derer sie sich würdig erweisen mussten, machen sich Trolle, Desinformationsagenten, Verschwörungstheoretiker breit, die gern auch in den Diensten autoritärer Staaten wie Russland stehen oder von narzisstischen Politikern vom Schlage eines Donald Trump. Die wissen nur zu gut, dass mit Lügen besser Wahlkampf zu machen ist als mit Tatsachen. Der einstige Reality- TV-Star profitierte davon, dass die Firma Cambridge Analytica im US-Präsidentschaftswahlkampf 2016 mit Targeting-Marketing über die Manipulationsmaschine Facebook Wähler für ihn mobilisiert hat. Angesichts solcher strukturellen Deformationen stellen sich die klassischen Fragen des Medienjournalismus – denn auch Facebook, Youtube, Twitter und so weiter sind Medien, nichts sonst – ganz neu. Wie gut berichten die klassischen Medien über solche Entwicklungen, die den Kern der Demokratie bedrohen? Wie gut sind sie selbst in der Lage, ein wirklichkeitsgetreues Bild abzuliefern? Welche Manipulateure gibt es hier, und wie ist es mit der „inneren Pressefreiheit“ bestellt, jenem Anfang der 1970er Jahre so gepflegten Gut, das es mit Redaktionssatzungen zu schützen galt. Die Kernfrage lautet: Inwieweit sind Presse und öffentlich-rechtlicher Rundfunk in der Lage, ein positives Gegenbild zum publizistischen Inferno der vorzugsweise amerikanischen Internetkonzerne abzugeben, oder sind sie in Wahrheit längst deren Zulieferer und Vollstrecker geworden? Die letzten Mohikaner Und da wird Medienjournalismus nicht mehr gebraucht? Ab zur Schutthalde damit, fertig machen zum Verklappen? Es müsste gerade andersherum sein: Wo ist der Medienjournalismus, der mit den drängenden Fragen der Kommunikationsgesellschaft fertig wird? Schaut man auf die deutsche Realität, sieht man eine Trümmerlandschaft. Unter den Tageszeitungen haben beispielsweise nur noch „Süddeutsche Zeitung“, „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ und „taz“ glücklicherweise ein Medienressort, das den Namen verdient. Fast ist man geneigt, an das Bild vom „letzten Mohikaner“ zu denken und fragt sich, wo der schlagkräftige Nachwuchs von Medienjournalisten bleibt. Oder nehmen wir die konfessionelle Publizistik, wo die katholische Kirche in Sachen Medienpublizistik mit dem Ende der „Medienkorrespondenz“ (vormals „Funkkorrespondenz“) 2021 ein unrühmliches Kapitel schrieb. Als Symbol für die aktuelleTemplatesn Probleme darf der Ukas des Münchener Vielzeitungsverlegers Dirk Ippen gelten, der die Veröffentlichung einer Enthüllungsgeschichte seines ehemaligen Investigativteams über den seinerzeitigen „Bild“-Chefredakteur Julian Reichelt stoppte. Vorsicht, Nestbeschmutzung! Inzwischen empfindet Ippen die Totalzensur selbst als Fehler. Es darf daran erinnert werden, dass vor rund 40 Jahren mit dem Aufkommen privater Rundfunkmedien in Deutschland der Medienjournalismus auch einmal als innovativ und chic gegolten hat. Auf den früheren Fernsehseiten der Tageszeitungen wurden nun auch Berichte über die oft lauten, skurrilen Machtkämpfe im Privatfernsehen und Privatradio abgedruckt. Und da sich unter den streitenden Gesellschaftern in der Überzahl Verleger befanden, beobachtete – und kontrollierte – sich die Branche auf einmal selbst. Offensichtlicher Machtmissbrauch So war es plötzlich vorbei mit dem „Chefarzt“-Prinzip, wonach man bitte nicht schlecht übereinander rede, auch im Fall chirurgischer Kunstfehler nicht. Presse hatte keinen „blinden Fleck“ mehr. Als „Focus“ 1993 auf den Markt kam, wies das Nachrichtenmagazin wie selbstverständlich ein Medienressort aus. Woraufhin auch der „Spiegel“ seine Anstrengungen vergrößerte, was zu Ressort- und Unterressortbildungen ganz unterschiedlicher Art führte. Heute firmiert unter dem Namen „Netzwelt“ eine Schrägstrich-Erweiterung des Ressorts „Wirtschaft“. Am allgemeinen Bedeutungsverlust des Medienjournalismus ändert jedoch auch die erfolgreiche Einführung von Onlinemagazinen wie „Übermedien“ insgesamt wenig. Man ist heute schon dankbar, wenn sich „Reschke Fernsehen“ aus der ARD noch einmal den höchst unappetitlichen Geschichten und Umtrieben des Ex-„Bild“- Chefredakteurs Reichelt widmet, dessen offensichtlicher Machtmissbrauch und de facto frauenverachtender Stil dem Hause Springer ganz offenbar erst dann zu viel wurden, als zu viel davon – quellenseitig nachprüfbar – zunächst über die „New York Times“ und über „Financial Times“ in die Öffentlichkeit drang, bezeichnenderweise aus dem angelsächsischen Ausland, das Springer-Chef Mathias Döpfner mit seinen Schmuck-Akquisitionen „Politico“ und „Business Insider“ erobern will. Die besten Geschichten sind nun mal die, von denen die interessierten Kreise partout nicht wollen, dass sie erscheinen. Das gilt auch für den Medienjournalismus, weshalb er investigative Typen genauso braucht wie analysierende oder literarische. Was Reichelt angeht, wird er prüfen müssen, ob es ihm zusammen mit dem Milliardär Frank Gotthardt gelingt, einen neuen erzkonservativen Nachrichtensender à la Fox News zu schaffen. Der lärmende Versuch mit „Bild TV“ hat sich ja erledigt. Die Reichelt-Affäre und damit die Causa Springer oder die Schlesinger-Wolf-Affäre und damit die Causa öffentlich-rechtlicher Rundfunk sind Beispiele dafür, dass Medienthemen keine Randthemen sind, die keine Leserinnen und Leser bringen, also keine guten Klickzahlen und Conversion-Rates (Abschlüsse von Abos, induziert durch online veröffentlichte Artikel). Sie sind halt nur unbequem. Kein Verleger oder Chefredakteur möchte öffentlich so vorgeführt werden, wie die eigene Redaktion tagtäglich Politiker oder CEOs aus anderen Branchen an den Pranger stellt, konstatierte der Journalistikprofessor Stephan Ruß-Mohl bereits 2010 – und warnte, wer zu schneidig seine Eigeninteressen verfolge, verhalte „sich fahrlässig gegenüber dem eigenen Unternehmen und seiner Branche“. Korrekt, so ist es. Kompetenz und Faktenwissen Oder nehmen wir die Zertrümmerung des Verlags Gruner Jahr, einer einstigen Aufbauorganisation für Qualitätsjournalismus, die nun unter der Rendite-Peitsche des Hauses Bertelsmann zum Abbruchunternehmen wird. Dies mag den Key Performance Indicators des Gütersloher Gesellschafters entsprechen, nicht aber dessen seit Jahr und Tag hochgehaltenen ethischen Prinzipien („Beitrag für die Gesellschaft leisten“). Wenn nun beispielsweise die einstige Wundertüte „Stern“ im Milieu des trashlastigen Fernsehsenders RTL, wo die Wahl einer „Dschungelkönigin“ schon Sensation ist, zu neuem Glanz kommen soll, ist das Thema genug für Medienjournalismus. Das Magazin könnte als Crosspromotion-Illustrierte für ein Bildersystem enden, das seine besten Zeiten in Wahrheit womöglich schon lange hinter sich hat. Daran enden auch die kalten Augen jener Bonus-Manager nichts, die Gruner + Jahr in diesen Tagen ohne Kapelle und Leichenschmaus bestatten. Nun mag man einwenden, es werde in Sachen Springer, Schlesinger oder „Stern“ ja genug berichtet, auch in Feuilletons oder Politikteilen, einen Mangel gebe es überhaupt nicht. Auch bräuchte man selbstredend hierfür kein eigenes Ressort mehr. Eine solche Sichtweise entspricht der Skepsis mancher Verleger, ganz nach dem Motto: „Existiert ein solches Ressort, dann werden die Seiten mit dem Stoff auch vollgeschrieben“ – (ohne dass dies alles wirklich relevant wäre). Doch eine solche Haltung verkennt, dass in Medienfragen eine Menge Kompetenz und Faktenwissen vorhanden sein muss – über europäische und deutsche Gesetze, über Gerichtsurteile, Prozeduren, politische Strategien, Kommunikationstheorien, Marktabläufe, unternehmerische Entscheidungsbedingungen. Das schreibt sich nicht mal eben „de la main“ dahin. Wenn die Berichterstattung nicht im Oberflächlichen verbleiben soll, betrachtet man ein Medienressort am besten als Einheit, deren gut informierte Redakteurinnen und Redakteure bei Bedarf für Geschichten mit anderen Ressorts kooperieren. Optimal wäre von daher eine Aufstellung als Kompetenzzentrum unter einem Rubrum wie „Medien, Elektronik, Kommunikation“ – so wie es der „Spiegel“ 1994/95 einmal tatsächlich hatte. Damals, als das Internet in der Gestalt des World Wide Webs begann, Werbemärkte, Konsumentengewohnheiten, Vertriebsformen und Public Relations zu verändern und Geld aus den angestammten Mediengeschäften abzuziehen. Man kann derzeit einen Verdacht haben: Je mehr sich das Mediengeschehen auf eine Handvoll amerikanischer Monopolplayer konzentriert, desto mehr kriselt der deutsche Medienjournalismus. Je mehr die Algorithmen- Könige Jeff Bezos, Larry Page, Mark Zuckerberg, Tim Cook oder Satya Nadella zu „Helden“ eines auf totale Marktbeherrschung, Überwachung und Manipulation ausgerichteten Systems werden, das sich von nationalen oder supranationalen Institutionen kaum mehr einfangen lässt, desto mehr schienen Medienjournalisten aus Berlin, Hamburg, Frankfurt oder München unwichtig zu werden. Silicon Valley oder Seattle entziehen sich ihrem Zugriff. Ein tragischer Irrtum: Gerade angesichts der verheerenden Auswirkungen digitaler Medien auf die Öffentlichkeit, auf die „res publica“, ist ein geordneter Medienjournalismus nötiger denn je. Abhandlungen zu Fragen des digitalen Wandels dürfen sich nicht auf Tagungsberichte beschränken, wenn mal wieder TED-Konferenz war. Nach Hannah Arendt ist nicht der perfekte Nazi oder Kommunist der ideale Bürger für eine Diktatur, sondern vielmehr jener Mensch, der nicht mehr zwischen „wahr“ und „unwahr“ unterscheiden kann. In dieser Gefahrenlage stecken wir. Die „Bewusstseinsindustrie“ (Hans Magnus Enzensberger) wird zur „Unterbewusstseinsindustrie“. Stimmungen, Emotionen, Sentiments, Ressentiment werden wichtiger als Fakten, Wissenschaft und Vernunft. Solche Trends machen professionell und neutral arbeitende Journalisten alsWahrheitsagenten so enorm wichtig, als Garanten umfangreicher und vielfältiger Information und damit wichtiger Voraussetzungen von Demokratie. Es genügt nicht, andauernd hochtrabend über „Content“ zu reden, von dem Marshall McLuhan in „Understandig Media“ bezeichnenderweise schrieb, er sei wie saftiges Fleisch, mit dem der Einbrecher den Wachhund des Geistes ablenken wolle. Es kommt eben auf die Strukturen dahinter an, auf Normen und Technologien und Macht. Effiziente Selbstregulierung Diese Gemengelage führt zu den vier Gründen, warum Medienjournalisten so wichtig sind, ja wichtiger werden. Erstens: Medienjournalismus ist die effizienteste Selbstregulierung im System selbst. Sie verhindert, dass sich etwaige Manipulateure in Redaktionen oder perfide Kampagnenmacher zu sicher fühlen können. Als vor Jahren der freie Journalist, der in „Bild“ medizinische Wundermittel auf Seite eins anpries, an denen er selbst beteiligt war, endlich enttarnt und abgedrängt war, lag ein Fall von Selbstreinigung vor. Schon die potenzielle Recherche von Investigativjournalisten aus anderen Häusern mindert die Gefahr von Missbrauch. Niemand will sich „erwischen lassen“. Zweitens: Wie will Journalismus glaubwürdig sein, wenn er dem Journalismus über sich selbst keinen Platz einräumt? Wenn es also wieder einen „blinden Fleck“ geben sollte? Das ist nicht nur eine Frage des Selbstverständnisses, sondern auch der Kommunikation mit dem Publikum. Kuratierte Betreuung Drittens: Gerade weil Medien durch die Digitalisierung, mit allen ihren Verwerfungen, so enorm an Bedeutung gewonnen haben, brauchen sie auch mehr kuratierte Betreuung. Wer das ganze Spektrum für die Demokratie relevanter Nachrichten abdecken will, kann auf ein Medienressort nicht verzichten. Journalismus ist ohne souveränen Medienjournalismus nicht möglich. So gesehen stünde ein Niedergang des Medienjournalismus für den Niedergang des Journalismus selbst. Und das Ansehen von Journalisten ist nicht nur seit Jahren schlecht, wie das Allensbach-Institut regelmäßig ermittelt, sondern es häufen sich auch ganz neue Respektlosigkeiten aller Art – das beginnt beim Politiker Jens Spahn, der Berichte über den Kauf einer Berliner Villa am liebsten brutal verhindert hätte, das endet mit dem einstigen Hannoveraner Ballettdirektor, der die unliebsame Rezensentin der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ mit Kot beschmierte. Viertens: Die neue Vielfalt der Medien, in der Wahrheit und Lüge, Aufklärung und Verklärung, Erkenntnis und Manipulation nur einen Klick, einen Log-in entfernt sind, erfordert besondere Fähigkeiten der Leserinnen und Leser, Nutzerinnen und Nutzer, zumal sie in der schönen neuen Welt der Immer- und Überall-Kommunikation auch selbst Nachrichten und Informationen verbreiten können. Es will in diesem Ökosystem gelernt sein, mit Fake News umzugehen. Das hat immer wieder Forderungen nach einem Schulfach „Medienkunde“ laut werden lassen. Ein guter Medienjournalismus ist praktizierte Medienkunde. Wenn wir also wirklich auf eine „redaktionelle Gesellschaft“ zusteuern sollten, von der Bernhard Pörksen, Medienprofessor in Tübingen, so gern schreibt, gilt erst recht die Forderung, einen strukturellen Abbau des Medienjournalismus nicht weiter zuzulassen. Nötig ist vielmehr eine Renaissance des Genres. Das folgt daraus, dass wir mittlerweile eine Gesellschaft ohne journalistische Markteintrittshürden haben, in der quasi jeder Journalist und Verleger sein kann, wie gut auch immer. Auch der Philosoph Jürgen Habermas hat bei seiner jüngsten Neubewertung des „Strukturwandels der Öffentlichkeit“ seines Dissertationsthemas aus dem Jahr 1962 – auf die gestiegene Verantwortung des Einzelnen hingewiesen. Wenn schon die Herren aus Amerika über die neuen Verbreitungswege dies selbst entweder gar nicht oder nur unzureichend wahrnehmen wollen, ist das Individuum gefragt – das dabei unweigerlich auf Medienjournalisten angewiesen sein wird. Welche Rolle dabei ARD, ZDF und Deutschlandradio spielen, welche Aufgaben die seit 400 Jahren existierende bürgerliche Presse wahrnimmt, welche Gestaltungsräume die Politik und die Zivilgesellschaft haben, das alles beschreibt ein herausragend wichtiges Themenfeld für die Zukunft der Demokratie. Der Siegeszug der Techkonzerne von der US-Westküste hat dem Journalismus geschadet. Den relevanten Medienjournalismus hat er jedoch de facto noch wichtiger gemacht. Man muss es nur sehen wollen. *