Meine gesammelten Werke: Wie ich die Lage gesehen habe.

Bauernaufstand, Lokführerstreik: Immer öfter eskalieren in Deutschland gesellschaftliche Konflikte - sechs Trends als Ursache.s

Handelsblatt, 12. 01. 2024

Ein Land legt sich lahm

Bauernaufstand, Lokführerstreik: Immer öfter eskalieren in Deutschland gesellschaftliche Konflikte - sechs Trends als Ursache.s

Handelsblatt, 12. 01. 2024

Es sollte ein Jahr des Aufbruchs, des Aufschwungs werden. Ein Jahr, in dem die Fußball-Europameisterschaft im eigenen Land die „Sommermärchen“-Stimmung der Weltmeisterschaft 2006 wiederbringt. Ein Jahr, in dem die Wirtschaft wieder deutlich wächst, vielleicht sogar um jene 1,3 Prozent, die die Bundesregierung trotz vieler Negativ-Prognosen trotzig weiter propagiert.

 

Doch das vorgebliche Jahr der Hoffnung begann mit Chaos-Tagen, mit einer Protest- und Streikwelle, wie sie Deutschland noch nicht erlebt hat. Winter-Albtraum statt Sommermärchen. Was da einsetzte, war eine multiplizierte Störung des Alltags, eine „Wut-Woche“ des Boulevards. Sie gab vielen das Gefühl, nicht mehr in einem zukunftsorientierten Industrie- und Dienstleistungsstaat zu leben, sondern in einer „Abstiegsgesellschaft“, wie sie der Soziologe Oliver Nachtwey beschrieben hat – inklusive einer großen Polarisierung.

 

Den aggressiven Ton der Auseinandersetzung hatten 300 erboste, brüllende Landwirte am nordfriesischen Hafen Schlüttsiel gesetzt. Der Mob zwang den grünen Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck zurück auf die Hallig Hooge – Jagdszenen aus Deutschland.

 

Sternfahrten und Exkursionen deutscher Landwirte mit 100.000 Traktoren setzten dann am Montag dieser Woche den offiziellen Auftakt der turbulenten Tage. Die gegen die in Berlin geplante Wegnahme von Steuersubventionen angetretene Fahrgemeinschaft verwandelte markante Innenstadtplätze zu Stationen einer politischen Rallye mit schwerstem Gerät. Man blockierte Auffahrten zu Autobahnen, rollte machtbewusst in Kolonne über die Landstraßen und hinterließ schon mal Mist und Silofutter auf dem Asphalt. Die Produktion bei VW in Emden stockte ebenso wie die Abfertigung in Bremerhaven.

 

Vereinzelt waren – wie bei Habeck am Hafen – stilisierte Galgen im Zug der Demonstranten zu sehen, die im Übrigen von Spediteuren und Handwerkern unterstützt wurden. So sorgten Lastwagen für zusätzlichen Stau: eine Einheitsfront der Zornigen, die sich auch an gestiegenen Mautgebühren und Kohlendioxid-Abgaben störten.

 

Am Mittwoch gesellte sich schließlich die Gewerkschaft der Lokomotivführer (GDL) zu den Frondeuren. GDL-Chef Claus Weselsky rief zum dreitägigen Bahnstreik, garniert mit Extrempositionen: Man verhandele nur, wenn die Deutsche Bahn vorher einer 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich zustimme. Der Staatskonzern setzte gegen die Methoden des Hardliners umgehend einen Notfallplan ein. Vergeblich hatte die bislang vor allem gegen Unpünktlichkeit kämpfende Bahn bis zuletzt gegen den Großstreik geklagt.

 

Egal, ob per Auto, Bus oder Zug – wer in Deutschland Kilometer machen wollte, sah sich plötzlich fast unüberwindlichen Hindernissen gegenüber. Mobilität, ein Grundelement dynamischer Gesellschaften, wurde zum Risiko. Rien ne va plus, nichts geht mehr, lautete die neue Standortparole. Man kennt sie sonst nur aus dem Roulette-Saal.

 

Die Woche der Wut, politisch begründet und geschürt, machte auch dem letzten klar, dass Deutschland derzeit eine blockierte Nation ist – und im Reformstau steckt. Angesichts der Gleichzeitigkeit schwerster Krisen – Kriege, Handelskonflikte, Klimakatastrophe, Inflation, Verschuldung, Migration – eskalieren Verteilungskämpfe. Diesmal geht es nicht wie gewohnt um das „Mehr“, sondern vielmehr um das „Weniger“. Wer muss künftig hauptsächlich die Lasten eines ökologischen und ökonomischen Umbaus tragen, den eine Bundesregierung ersonnen hat, die einst als „Fortschrittskoalition“ gestartet war und die nun, ganz praktisch, auch darauf achten muss, die im Grundgesetz verankerte Schuldenregel einzuhalten?

 

Der Streit um diese großen Verteilungsfragen, ausgetragen zwischen aufmüpfigen Lobbyisten und einer angeschlagenen Bundesregierung, trifft auf eine verunsicherte Gesellschaft, der anders als früher der Glaube an große Institutionen fehlt und die sich zusehends in vielen kleinen Gruppen und auch neuen Parteien organisiert, die mit starken Parolen um Aufmerksamkeit streiten, mit Kampfrhetorik Der Kompromiss, eine Erfolgsformel der Demokratie, wird unter solchen Umständen erschwert, wenn nicht unmöglich. Das Ergebnis: Verrohung und Eskalation um jeden Preis.

 

Haben oder Nicht-Haben? Den meisten Bürgerinnen und Bürger geht es um die Wahrung des Wohlstands in einem komplett veränderten Umfeld. Die meisten sprechen sich für Klimaschutz aus, zahlen aber sollen möglichst andere. So zählt am Ende weniger eine vorausschauende Klima- und Umweltpolitik oder eine konsequente Digitalisierung, sondern die eigene Machtposition – mit einem möglichst großen eigenen Störpotenzial, um politische Vorhaben zu konterkarieren. Das hat die Bauern aufstehen lassen, die sich von der Politik gegängelt fühlen – fast wie im Roman „Serotin“ des französischen Schriftstellers Michel Houellebecq. Der lässt einen zornigen Aprikosenbauern eine Traktor-Blockade auf der Autobahn anführen, und am Ende schießt die Polizei.

 

Persönliche Verlustangst lähmt die Lust am Wandel, zumal, wenn die Politik keinen überzeugenden Zukunftsplan bietet. „Change!“ – von der Parole des US-Präsidenten Barack Obama hört man hierzulande wenig. Dabei würden moderne Gesellschaften von offenen Möglichkeiten in der Zukunft leben, sagt der Soziologe Andreas Reckwitz. Inzwischen sei das „aber keine Verheißung mehr, sondern eine Bedrohung: Es kann alles passieren.“

 

So kam es im Kampf ums Bewahren zum aufgeheizten Kampf gegen eine Ampelkoalition, die von ein bisschen „Change“ geträumt hat. Und die aufgetretenen Blockade-Wirkungen werden in einem „Superwahljahr“ eher zunehmen. Schließlich wird die rechtspopulistische Alternative für Deutschland (AfD) als Nutznießer der Europawahlen im Juni sowie der drei im September-Landtagswahlen in Brandenburg, Thüringen und Sachsen erwartet – schon redet Oppositionsführer Friedrich Merz (CDU) vom vorzeitigen Machtwechsel.

Sechs Faktoren haben zum Stillstand geführt.

 

 

1)    Der Niedergang der Ampel

 

„Wir haben die Schnauze voll“, riefen die Bauern in Berlin vor dem Brandenburger Tor in Richtung Reichstag und meinten damit Bürokratie, Brüssel und Billig-Getreide aus der Ukraine. Unverkennbar gibt es in der Gesellschaft ein gewachsenes, wachsendes Misstrauen gegenüber der Politik – unklar nur, ob die aktuelle Regierung oder das „System“ an sich gemeint ist. Bauernverbandspräsident Joachim Rukwied bedient gängige Vorurteile: Die Regierung werde beraten von „Menschen, die noch nie gearbeitet, noch nie geschwitzt haben“.

 

Das kann man von Kanzler Olaf Scholz, einst als Anwalt aktiv, weiß Gott nicht sagen. Die Umfragewerte von Rot-Grün-Gelb sind jedoch so schlecht, dass die drei Koalitionsparteien zum Weitermachen in Berlin quasi gezwungen sind. Motto: kann ja nur besser werden. 53 Prozent der Deutschen glauben dennoch, so eine Umfrage der „Zeit“, dass die Ampelkoalition 2024 zerbricht. Noch mehr alarmiert hat eine Umfrage des Instituts Cinvey, wonach SPD, Grüne und FDP in Sachsen zusammen auf nur elf Prozent kommen. Bundesweit rechnete das Institut Insa zum Jahreswechsel mit 15 Prozent für die SPD, mit 12 Prozent für die Grünen und 5 Prozent für die FDP – Werte der Enttäuschung, aber auch der Abrechnung nach einem missratenen Heizungsgesetz und permanenten internen Zwistigkeiten in der Koalition und ihren Parteien. So machen Dietmar Woidke, Stephan Weil, Anke Rehlinger und Manuela Schwesig, die allesamt Bundesländer leiten, derzeit in der SPD Front gegen die geplante Agrardiesel-Korrektur, also gegen ihren Kanzler.

 

Die Selbstblockade der Politik leistet der Blockade von außen Vorschub. Das Volk ist verwirrt – und tendiert nach rechts. Die Union liegt in den Umfragen mit 32 Prozent deutlich vor den immer stärker radikalisierten Rechten der AfD (23 Prozent).

 

Rapide schwindende Popularität ermuntert politische Gegner, den Konflikt zu eskalieren – und die Bauernproteste gezielt auszunutzen. Das gilt vornehmlich für die CSU, die sich permanent solidarisch zeigt, noch mehr aber für die Freien Wähler und ihren Chef Hubert Aiwanger, der 2025 in den Bundestag drängt. Der bayerische Wirtschaftsminister kündete zum Start der Wut-Woche gleich an vier Orten vom Totalversagen der Ampel und grenzte sich vor der jubelnden Menge in Landshut von Seinesgleichen ab: „Hier ist das Volk. Die Macht geht vom Volk aus und nicht von der Politik.“ Den „Party-People“ von Berlin stellte er die „Working People“ von Stall und Acker gegenüber.

 

Statt Dialog zählt im Verteilungskampf der blockierten Republik die Schmähung. Als der grüne Agrar-Politiker Karl Bär auf der Münchener Bauern-Versammlung redet, wird er ausgepfiffen und mit „Hau-ab“-Rufen bedacht. Und als ein Verbandsfunktionär aufzählt, man fordere weder Generalstreik noch Umsturz der Regierung, brüllten viele: „Doooooch!“ So etwas freut die AfD und die noch rechtsextremeren „Freien Sachsen“, die sich an die Protestbewegung hängten. Über „feuchte Träume von einem Umsturz“, räsonierte der grüne Agrarminister Cem Özdemir.

 

Es muss ja nicht gleich ein Umsturz sein. Manche denken an die Niederlande, wo die Regierung 2022 den Ausstoß von Stickstoff-Verbindungen bis 2030 halbieren wollte. Folge: Traktorensperren der Bauern auf Autobahnen. Heuballen brannten. Und am Ende entstand eine neue Partei, die Bauer-Bürger-Bewegung (BBB), die sich mittlerweile fest im bürgerlichen Lager etabliert hat. Populisten nutzen die Verlustängste der Menschen.

 

2)    Fakten zählen wenig

 

Dass die deutschen Landwirte in den vergangenen zwei Jahren gute Ergebnisse einfuhren, zuletzt im Schnitt mit 115.000 Euro Gewinn, interessiert in der aufgeheizten Debatte ebenso wenig wie die Tatsache, dass die schrittweise Kürzung der Subventionen beim Agrar-Diesel zu einer durchschnittlichen Belastung von nicht mal 3000 Euro pro Betrieb führt. Von der Kraftfahrzeugsteuer sind Landwirte ohnehin weiter befreit; Minister haben dem Kanzler andere Pläne ausgeredet.

 

Es handelt sich also um winzige Beträge in einem wahren Subventionsparadies, in dem es so gut wie alles gratis gibt: Direkthilfen, Hilfen für Junglandwirte, Ausgleichszahlungen für Höfe in abgelegenen Gebieten, Hilfen für Strom und Stallumbau, Zuschüsse des Bundes für Sozialversicherung. Allein von der EU fließen im Schnitt pro Betrieb jährlich 27.000 Euro. Rund ein Drittel des EU-Gesamtbudgets geht in diesen kleinen Wirtschaftszweig, der sich fast zur Hälfte aus Steuergeldern finanziert. So gesehen geht es den Bauernverbänden nicht darum, die Demokratie zurückzuholen, sondern nur ein paar Finanzhilfen.

 

Zum Bürokratismus, den die Bauern anprangern, zählt auch der Versuch der EU, die durch Dünger entstandene übergroße Nitratbelastung des Grundwassers zu reduzieren. Die Europäische Kommission hat Deutschland wegen Untätigkeit in dieser Sache sogar verklagt. Wer blockiert hier eigentlich wen?

 

Bislang hatte vor allem die Migration in Deutschland für Polarisierung gesorgt. Nun aber drohen „stärkere Spannungen zwischen einer Art Großstadt-Elite und den Menschen vom Land“, die der leitende Politikwissenschaftler Bobby Duffy vom Londoner King’s College als charakteristisch für viele Länder sieht.

 

 

 

3)    Die Gesellschaft wird kleinteilig

 

 

Harte Debatten, Streiks, laute Proteste auf der Straße hat es in der Geschichte der Bundesrepublik immer wieder gegeben. Konflikt gehört zur Demokratie. Die Rechtsordnung schützt alle, die für bessere Arbeitsbedingungen streiken genauso wie Leute, die friedlich für legitime politische Ziele demonstrieren – solange Gewalt, Nötigung von Menschen oder Hetze gegen den Verfassungsstaat außen vor bleiben.

 

Erinnert sei nur an die sozialliberale Koalition unter Willy Brandt vor 50 Jahren: Sie rief mit ihrer Ostpolitik, Demokratisierung und Reformpolitik den erbitterten Widerstand der Konservativen hervor. Auch setzte im Februar 1974 – nach dem Ölkrisenjahr 1973 – die Gewerkschaft ÖTV unter Heinz Kluncker ein Lohn-Plus von elf Prozent durch, gegen den erbitterten Widerstand der öffentlichen Arbeitgeber und der Politik.

 

Auch Rechtsradikale hatte das Land immer wieder zu ertragen. So schaffte die NPD 1968 bei der baden-württembergischen Landtagswahl das Rekordergebnis von 9,8 Prozent. In den 2010er-Jahren war die Partei in den Landtagen von Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen vertreten. Und Franz Schönhuber, einst Abteilungsleiter im Bayerischen Rundfunk, brachte es mit den stramm rechten Republikanern ins Europäische Parlament.

 

Solche Episoden haben Deutschland nicht geschadet. Vielleicht weil die politische Landschaft damals überschaubarer war, mit zwei großen Volksparteien (CDU/CSU und SPD) sowie der FDP und den Grünen. Es gab zwei Lager, Konservative und Progressive. Das machte Regieren einfacher. Heute dagegen sind mit der AfD, der Linken und dem neuen Bündnis Sahra Wagenknecht weitere Akteure im Bundestag aktiv. Und die AfD legt in Umfragen im Osten weiter zu. In Sachsen ist sie mit 37 Prozent, in Thüringen mit 36 Prozent jeweils stärkste Kraft – Länder, in denen sie vom Verfassungsschutz als „gesichert rechtsextremistisch“ eingestuft wird. Da alle anderen Parteien (bis jetzt) eine Zusammenarbeit mit der AfD ablehnen, sind weitere politische Blockaden zu erwarten.

 

In einer stark fragmentierten Gesellschaft können Konflikte nicht mehr wie früher intern in großen Volksparteien binnenplural gelöst werden. Jetzt sind sie schnell Thema der öffentlichen Debatte. Schon fürchten viele Experten, dass eine vom ultrakonservativen Ex-Verfassungsschutz-Präsidenten Hans-Georg Maaßen geplante Partei der bürgerlichen Mitte schaden könnte.

 

 

4)     Bindungskräfte schwinden

 

Den Trend zur blockierten Nation fördert, dass die Bindungskräfte gestandener Institutionen stark nachließen. Die Kirchen: mehr als 520.000 Deutsche traten 2022 bei den Katholiken aus, so viel wie noch nie; 380.000 waren es bei den Evangelischen. Die Parteien: Die SPD verlor von 1990 bis 2022 rund 560.000 Mitglieder, bei der CDU waren es 420.000. Die Gewerkschaften: 2022 waren hier 5,6 Millionen registriert, 1991 waren es noch 11,8 Millionen. Überall sinkt so die Chance, über Dialoge Probleme erst gar nicht anwachsen zu lassen.

 

Es existieren in Deutschland nicht mehr zwei große Lager, sondern viele kleine Lager, die wechselnde Allianzen bilden. Fortschreitende Individualisierung macht das Verhalten Einzelner kaum prognostizierbar. Informationen zur Meinungsbildung stammen dabei – wie bei den protestierenden Landwirten – zunehmend aus Social-Media-Kanälen, von Telegramm bis X, von Facebook bis Whatsapp. Fakt ist, was zum Weltbild und zur eigenen Community, zur eigenen Filterblase passt.

 

Wenn es um Medien geht, spiegele sich eine gesellschaftliche Spaltung wider, so eine Studie der Kölner Marktforschungsagentur Rheingold im Auftrag der Zeitungsverleger. Während eine große Mehrheit von 75 Prozent der Deutschen grundsätzlich Vertrauen in die Medien habe, sei das andere Viertel der Deutschen ausgesprochen kritisch, vor allem im Osten. Medienkritik ist hier Systemkritik.

 

Mit solchen Befunden stellt sich immer stärker die Frage, was moderne Gesellschaften zusammenhält. Zur Lösung wird in der Politik häufig vorgeschlagen, Zivilgesellschaft und Bürgerschaft stärker einzubinden und per „direkte Demokratie“ mitentscheiden zu lassen. Das setzt aber voraus, dass Minderheiten Mehrheitsentscheidungen akzeptieren und Spielregeln der repräsentativen Demokratie geachtet werden. Letztlich entscheiden eben verfassungsmäßig vorgesehene Organe wie Parlament oder Gemeinderäte – und nicht der Mob der Straße.

 

Den Begriff der „Spaltung“ will der Soziologe Steffen Mau zwar nach wie vor nicht verwenden. Kürzlich aber erklärte er öffentlich, die Konfliktdynamik habe sich 2023 „noch einmal extrem verschärft“. Es gebe eine „Aufmerksamkeitsverschiebung“. Es existiere neben dem Thema Migration eine Reihe exogener Krisen, „die neue Verunsicherung erzeugt haben“ – und das bei sehr schwacher Aussicht auf wirtschaftliche Erholung. Das habe Rückwirkungen aufs kollektive Bewusstsein. Schon Ende 2022 sagten 53 Prozent der Deutschen, der Zusammenhalt in der Gesellschaft sei schwach, ermittelte das Institut Allensbach.

 

 

 

5)     Respektlosigkeit statt Respekt

 

Kanzler Scholz mag ein schwacher Kommunikator sein. Aber mit seinem Wort vom nötigen „Respekt“ in der Gesellschaft hatte er im Bundestagswahlkampf 2021 die richtige Vokabel parat. Seitdem aber ist das genaue Gegenteil zu beobachten – eine ganze Menge Respektlosigkeit. Die Gesellschaft verroht.

 

Soziale Online-Medien böten einen Nährboden für „Inzivilität“, heißt es in einer Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung.  in aggressiven Nutzerkommentaren, Shitstorms, „Flaming“, „Trolling“ oder Hassrede sei regelmäßig eine Überschreitung von Normen zu beobachten. Die Lust am Krawall entspricht der Lust an der Lähmung des gesellschaftlichen Betriebs. Wer will schon einen Kompromiss, wenn er Quoten-Champion sein kann?

 

Diese Strategie ist beim Gewerkschafter Weselsky klar erkennbar, der Bahn-Manager als „Vollpfosten“ oder „Nieten in Nadelstreifen“ diffamiert. Gilt es doch, seine kleine Gewerkschaft GDL besser zu positionieren gegen die viel größere EVG. Dafür hat er die Genossenschaft „Fair Train e.G.“ gegründet, eine Art Zeitarbeitsfirma, die mittelfristig Lokführer an Bahnfirmen ausleihen soll. Die GDL müsse sich entscheiden, ob sie Arbeitgeber oder Gewerkschaft sein wolle, merkt Bahn-Personalvorstand Martin Seiler süffisant an. Sein Modell flexibler Arbeitszeitmodelle, darunter solche mit wöchentlich 35 Stunden, aber mit weniger Lohnerhöhung, fand bei Weselsky keine Gnade.  Er will, dass die Politik weniger spart bei der Bahn und Lokomotivführer wie früher beamtet.

 

Die Lasten der Allgemeinheit bleiben bei solchen Schaukämpfen ausgeblendet. „Das Zusammenspiel zwischen Straße und Schiene ist dann ein Problem, wenn parallel blockiert wird“, warnt das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft zur aktuellen Lage: Angesichts der ohnehin bestehenden Logistikprobleme seien die Protest-Aktionen fürs Standort-Image „sicherlich nicht hilfreich“. Und für die volkswirtschaftliche Bilanz des Landes.

 

 

6)    Kommunikation muss man können

 

 

Der Bauernaufstand zeigt aber auch: Die Kommunikation zwischen Politik und Betroffenen liegt im Argen. Die Bundesregierung müsse „denen, die Deutschland durch ihre tägliche Arbeit am Laufen halten, wieder mehr zuhören – und dazu gehören auch die Bauern“, klagt Verbandsfunktionär Rukwied. Die Regierung zeigte bis dato kaum Bemühen, ihre ökologisch und finanzpolitisch nachvollziehbaren Streichungen für Subventionen von fossilen Energien zu erklären und nachhaltig zu verteidigen. Seit Jahren hätten die Hilfen für Agrardiesel in der Kritik gestanden, referiert Regierungschef Scholz ganz allgemein -und beharrt auf seinen Plänen. Seine Koalition patzt jedoch bei der Aufgabe, die in Kommissionen der Vorgängerregierung besprochene Agrar-Zukunftspolitik in konkrete Maßnahmen zu verwandeln.

 

Wer Wandel will, muss Kommunikation können. Dabei ginge es jetzt um eine radikale Reform der Subventionspolitik – hin zur Direktvermarktung, zur zielgerichteten Finanzierung von Tierwohl, Nachhaltigkeit sowie Klima- und Artenschutz.

 

Bevor sich die Republik in ihrer Zukunftsangst weiter blockiert, wäre es hilfreich, die Harvard-Professoren Steven Levitsky und Daniel Ziblatt zur Kenntnis zu nehmen. Alle erfolgreichen Demokratien würden sich auf informelle Regeln stützen, die nicht in der Verfassung stehen, aber weithin beachtet werden, schreiben sie in ihrem Buch „Wie Demokratien sterben“. Dazu gehörten „gegenseitige Achtung von Politikern“ sowie „institutionelle Zurückhaltung“ – man müsse geduldig, selbstbeherrscht und tolerant sein. Demokratie sei wie ein endloses Spiel: „Um weitere Runden spielen zu können, müssen die Spieler sich davor hüten, die gegnerische Mannschaft spielunfähig zu machen oder so weit ins Hintertreffen zu bringen, das sie nicht mehr spielen will“. Davon kann weder beim Bahn-Streik noch bei den Bauerprotesten die Rede sein.

 

Zwischen den Empörten der Lobbyfront und den Selbstgerechten der Politik leidet einstweilen die große Masse: unter Stau, ausfallenden Zügen, zu geringerer Kompromissbereitschaft. Einig war sich die Republik in der Woche der Wut denn auch nur bei einem nostalgischen Thema: in der Wertschätzung des verstorbenen Fußballers Franz Beckenbauer. Er vollführte auf dem Rasen oder in der Gesellschaft etwas, das den Deutschen im Verteilungskampf um die Zukunft derzeit abgeht: Leichtigkeit.