Wirklichkeit sieht in der Wirtschaft auf den ersten Blick sehr einfach aus: Die Wahrheit ist demnach eine Zahl. Sie erscheint als Umsatz, Gewinn, Auftragsvolumen, Börsenwert. Oder als erklärendes Verhältnis zweier Größen, etwa mit Ziffern zur Rendite oder Produktivität. Wer will schon etwas gegen einen solchen zahlengesättigten Ansatz sagen? Wer viel verdient, hat seinen Job offenbar gut gemacht. Wer als Unternehmer Verluste macht, der agierte allem Anschein nach fehlerhaft. Alles klar? Mitnichten.
Ganz so einfach ist es mit der Wahrheit in der Wirtschaft nicht. Nicht alles, was wahr ist, ist messbar. Und nicht alles, was gemessen wird, ist auch wahr. Zahlen täuschen eine Sicherheit in der Wirklichkeitsvermittlung vor, die in diesem Ausmaß nicht existiert.
Da sind zunächst einmal alle legitimen und illegitimen, legalen und illegalen Tricks der Bilanzkosmetik, die das Zahlenwerk von Unternehmen viel besser darstellen können, als es tatsächlich ist. Der Fall Wirecard hat in dieser Hinsicht neue Tiefpunkte markiert – hatten Wirtschaftsprüfer der Großorganisation EY doch Jahresabschlüsse testiert, obwohl grundlegende Fragen überhaupt nicht beantwortet waren. Am Ende fehlten fast zwei Milliarden Euro in der Bilanz. Und aus einem von Investoren, Politikern und auch Journalisten hofierten Dax-Konzern war ein spektakulärer Insolvenzfall geworden, der vor Gericht geklärt werden muss. Dass es historische Vorbilder (Worldcom, Enron in den USA) gibt und aktuell auch andere Firmen (Adler Group in der Immobilienwirtschaft) die wahren Werte in der eigenen Bilanz offenbar kunstreich verschleiert haben, macht die Sache nicht besser.
Erschwerend kommt hinzu, dass lediglich vier Prüfkonzerngiganten (neben EY noch PwC, Deloitte und KPMG) die Bilanzen quasi aller weltweit bedeutenden Unternehmen prüfen und sie daneben höchst profitable Beratungsdivisionen unterhalten, die das Leben der Kunden angenehmer machen sollen – zum Beispiel beim regelmäßig anfallenden Problem, Steuern zu zahlen. Was nach außen als Wahrheit erscheint, ist deshalb oftmals nur das Ergebnis einer geglückten maximalen Interessenswahrung.
Zur Mission Wahrheit gehörte also auch, klarzumachen, wie viel Geld der Öffentlichkeit über Tochter- und Enkelfirmen in Luxemburg, Irland, den Virgin Islands und anderen fiskalischen Oasen vorenthalten wird.
Zahlen sind nun mal nicht so objektiv, wie sie sein sollten. Betrug beispielsweise (wie bei Wirecard) ist genauso subjektiv wie die Wahl der vorgeblich richtigen Abschreibungsform, die den Gewinn nach Gusto erhöht oder erniedrigt. Man kann Zahlen nur bei intensiver Prüfung aus möglichst vielen Quellen trauen.
Wer aber in den Wirtschaftsredaktionen dieses Landes hat, erstens, genügend Zeit, sich mit Bilanzen ausreichend auseinanderzusetzen? Und wer hat, zweitens, überhaupt die theoretischen Kenntnisse, dies in so anspruchsvoller Weise zu tun, das tatsächlich ein Gegengewicht zur Deutungsmacht eines Chief Executive Officer oder eines Chief Financial Officer entsteht? Die Zeiten, in der kundige Bilanzjournalisten auf einer Pressekonferenz den anwesenden Vorstand mit gezielten Wahrheitsfragen in Verlegenheit brachten, sind lange vorbei.
Journalistische Betriebe, auch Wirtschaftsredaktionen, stehen heute generell unter großem Druck. Der folgt aus einem Missverhältnis im digitalen Wandel: der führte einerseits dazu, dass die eigenen Erlöse und Ressourcen oft zu gering sind, gleichzeitig aber bieten sich mittlerweile immer mehr digitale Medienkanäle (von WhatsApp bis TikTok) zum Abspielen an, und zwar unter prompter Beachtung des Nutzungsverhaltens. Was kommt an, was lassen wir lieber bleiben? Die Frage also ist, ob eine noch so triftige Bilanzanalyse überhaupt Wirklichkeit werden kann, weil sie dafür de facto mehr als nur eine Handvoll Leutchen ansprechen müsste.
Quantitativer Medienerfolg kann heutzutage viel leichter mit Mitteln der Digitalität „getrackt“ werden als der wünschenswerte Wahrheitsgehalt. Das Problem verschärft sich im Journalismus noch durch den Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI), die Quellen ihres Wissens nicht offenbart und Fake News Tür und Tor eröffnet hat. Dennoch wird KI von Zeitungen und Zeitschriften immer stärker genutzt, obwohl deren wahres Geschäft die Kapitalisierung von Urheberrechten sind. Die Mission Wahrheit wird in diesem Geflecht zu einer vergeblichen Erforschung von Algorithmen, die global bestimmende Digitalkonzerne nun mal aus guten Gründen ihrer Erfolgsmaximierung unter Verschluss halten.
Die Bedeutung von Zahlen in Fragen der „Wahrheit“ wird schließlich schnell zweifelhaft, wenn man auf die Aktienkurse börsennotierter Kapitalgesellschaften und auf die daraus gebildeten aggregierten Indizes schaut. Solche Ziffern transportieren subjektive Erwartungen der Anleger, Übertreibungen sind der Normalfall. Dennoch werden Entwicklungen etwa im amerikanischen Dow Jones oder im Deutschen Aktienindex (Dax) als quasi naturgesetzliche Entwicklungen und Fakten in die Wohnstuben gesendet.
Die Wahrheit macht man sich so lange selbst, bis man entdeckt, dass sie so wahr nicht sein kann. So entdeckte der auf Technologie spezialisierte US-Börsenindex Nasdaq im Sommer 2023, dass es vielleicht nicht richtig sein kann, wenn lediglich sechs Einzelwerte (Tesla, Nvidia, Microsoft, Alphabet, Apple, Amazon) rund die Hälfte des gesamten Index-Werts ausmachen. Man beschloss eine Neujustierung, die eine geringere Gewichtung der sechs Tech-Aktien vorsah. Solche Zusammenhänge mindern auch den Wert von „Reichenlisten“, die in Monatsjournalen der staunenden Bevölkerung regelmäßig vorgesetzt werden. Sie geben nur volatile Börsenbewertungen oder Pi-mal-Daumen-Schätzungen wieder. Wahr? Oder unwahr?
Wenn es um Wahrheit in der Wirtschaft geht, kommt auch die Frage ins Spiel, welche Wahrheit welcher Interessengruppe eigentlich gemeint ist. Die der Aktionäre, die hohe Kurse und Dividenden haben wollen? Die der Mitarbeitenden, denen es um gute Löhne und sichere Jobs geht? Die der Lieferanten, die hohe Preise und stabile Aufträge schätzen? Die der Kunden die wiederum niedrige Preise, Qualität und Service verlangen? Oder die der Gesellschaft, die zum Beispiel Umwelt- und Klimaschutz will?
Wann ist, so betrachtet, die Wirtschaft und eine Firma gut? Gelegentlich hat man den Eindruck, dass der Aktionär (der Großaktionär) götzengleich über allem steht.
Und so kommen wir schließlich zur Ungleichheit der Waffen, zur Macht der Unternehmenskommunikation im Verhältnis zum Wirtschaftsjournalismus, wenn es um Wahrheitsfindung und Themenhoheit geht. Generell stehen immer mehr gutbezahlte PR-Berater (Konzerninteresse!) einer immer kleiner werdenden Anzahl von schlechtbezahlten Redakteuren und Autoren (Medienkrise!) gegenüber. Die beiden Seiten eint das Bestreben, das jeweilige Sujet – die Leistung einer Firma, einer Branche, einer Volkswirtschaft – im Licht der Öffentlichkeit vorkommen zu lassen. Über Akzentuierung, Priorisierung und Detailfülle – letztlich über das Narrativ – kann es aber sehr leicht zum Konflikt kommen.
Was Wahrheit in der Wirtschaft ist, wollen Redaktionen durch Recherche, die unbequemes Nachfragen einschließt, gezielt herausfinden. Auf Unternehmensseite existieren hingegen genaue Vorstellungen über die eigene Corporate Identity und die eigenen „Essentials“, denen sich die rapportierende Zunft doch bitte zu fügen haben. In diesen Kreisen moniert man gerne, dass der Journalismus ohnehin aufgrund knapper Budgetmittel viel weniger als früher leisten könne und so am Ende halbinformierte Zerrbilder entstünden. Man wolle da nur helfen! Demgegenüber argumentieren Wirtschaftsjournalisten, angesichts einer Dauerbestrahlung mit kommunikativen Botschaften und Events aller Art würde der eigenständige Durchblick erschwert. Zudem mischen angeheuerte PR-Agenturen und „Spin Doctoren“ immer stärker mit.
So verfestigt sich der Eindruck, dass Wahrheit in der Wirtschaft tendenziell eher den Normen einer im Firmeninteresse entstehenden Choreographie genügt als dem unabhängigen Forschergeist von Investigativ-Journalisten, die zuweilen begeistert über alte Heldentaten eines Bob Woodward und Carl Bernstein lesen oder in alten Hollywoodfilmen die Legenden unbestechlicher Wächter bewundern.
Der Wahrheit kommen in einem solchen Umfeld Journalisten nur näher, wenn ihnen ein Whistleblower ganze Datensätze zuspielt – siehe „Panama Papers“, „Paradise Papers“, „Luxemburg Leaks“, „CumExFiles“, „Football Leaks“ oder jüngst „Cyprus Confidential Leaks“. Doch damit gilt auch: Der Journalismus leakt sich tendenziell zu Tode. Die Offenlegung, Interpretation und Kontextualisierung der umfangreichen Datensätze gestalten sich in der Regel so voluminös, dass Leserinnen und Leser am Ende schier überwältigt und ermüdet die entsprechenden Dossiers zur Seite legen. Was bleibt, ist der Eindruck des Bösen. Was unterbleibt, eine exakte Wissensvermittlung. Man sieht nur Statistik, selten Kausalitäten. Man hat es immer mit entdeckten „halben Geheimnissen“ zu tun.
So sind die eigentlichen Adressaten der datenjournalistischen Enthüllungen die Staatsanwaltschaften, deren weitere Arbeit Klarheit über die andere Hälfte des Geheimnisses schaffen soll – sofern sie aufgrund von Personalkürzungen dazu überhaupt in der Lage sind. Der in Sachen Wirtschaftswahrheit agierende Journalismus hat dann anschließend über die Justiz weitere Aufgreifpunkte zur Berichterstattung. Er kann aber auch eingespannt werden in kommunikative Narrative von Verteidigern der Beschuldigten und derart Teil der populär werdenden „Litigation PR“ sein.
Am Ende befindet ein Richter über Fälle wie Wirecard oder die hanseatische Privatbank MM Warburg & CO, die an Cum-Ex-Machenschaften systemisch beteiligt gewesen sein soll. Die relevante Zahl – auf die es Wahrheitssuchende in der Wirtschaft so leidenschaftlich absehen – ist hier am Ende das verkündete Strafmaß. Das kann die Anzahl der Jahre im Gefängnis miteinschließen.