Wie kompetent ist eigentlich der deutsche Literaturbetrieb? Die Frage stellt sich fast automatisch, nachdem die deutsche Schriftstellerin Jenny Erpenbeck, 57, zusammen mit ihrem Übersetzer Michael Hofmann jüngst den renommierten International Booker Prize für Belletristik gewann. Ausgezeichnet wurde ihr Roman „Kairos“ – die Geschichte der Studentin Katharina, die im Ost-Berlin der 1980er-Jahre eine Affäre mit dem älteren Schriftsteller Hans hat. Das Ende der Beziehung erscheint vor dem Hintergrund der zerfallenden DDR wie ein Gleichnis.
Just dieses Buch aber war im Herbst 2021, kurz nach dem Erscheinen, in der Bundesrepublik alles andere als preiswürdig. „Kairos“ schaffte es nicht einmal unter die 19 Bücher der Longlist für den Deutschen Buchpreis, der sich am Booker Prize orientiert. Die siebenköpfige Jury entschied sich damals am Ende für „Die blaue Frau“ von Antje Rávik Strubel. Auch auf der Shortlist für den Preis der Leipziger Buchmesse im Frühjahr 2022 tauchte Jenny Erpenbecks Meisterwerk nicht auf. Es gewann Uljana Wolf („Etymologischer Gossip – Essays und Reden“).
Wie kann das sein? International Spitze, national „unter ferner liefen“? Die Prophetin, die im eigenen Land nichts gilt? Was sagt beispielsweise Erpenbecks langjähriger Verleger Wolfgang Ferchl, der sie schon 1999 beim Debüt „Geschichte vom alten Kind“ betreute, damals beim Eichborn Verlag, und der später in leitender Funktion bei Penguin Random House arbeitete, wo Erpenbeck ihre großen Bucherfolge feierte?
Über die Gründe könne man nur spekulieren, sagt Ferchl. „Kairos“ könne, wie jede wirklich große Literatur, auf verschiedenste Art gelesen werden – ganz konkret als Geschichte einer „amor fou“, einer toxischen Beziehung, als Geschichte vom Untergang der DDR, als kunstvolles Verweben des tragischen Lebenslaufs einer großen Liebe mit dem Lebenslauf einer großen politischen Idee, des Kommunismus. Aber auch als Parabel auf eine der großen Konstanten der condition humaine, „dass nämlich Brüche und Verwandlungen und der Umgang damit, menschliches Leben erst ausmachen“ (wozu er augenscheinlich tendiert).
Es mag sein, so Ferchl weiter, dass diese unterschiedlichen Lesarten es einer Jury schwer machen, sich auf ein solches multidimensionales Buch zu verständigen. Ihn enttäusche allerdings besonders, dass „Kairos“ oft einseitig „inhaltistisch“ bewertet werde und damit die besondere Musikalität der Sprache Erpenbecks aus dem Blick gerate. Vielleicht hätten angelsächsische Jurys und Rezensenten, so Ferchl, eher die Bereitschaft, „Literatur jenseits von Bewertungsmoden wie politische Haltung oder Herkunft des Autors zu beurteilen, wie das bei uns momentan der Fall zu sein scheint“.
Deutlich wurde der Feuilletonist Volker Weidermann vor einigen Wochen in der „Zeit“: Das Buch „Kairos“ sei eine „Verlustgeschichte“, und der Fakt des Nichtberücksichtigens für große deutsche Buchpreise sei womöglich auch darauf zurückzuführen, „dass die Jurys von Westdeutschen besetzt waren“, es könne ja auch von „westdeutschem Überdruss am Thema dieses Romans“ zeugen.
Tatsächlich schreibt Erpenbeck von zwei Ländern. In dem einen hat „die Regierung die Zeit eingemauert, um Zeit zu gewinnen, das Volk eingemauert, um das Volk zu gewinnen“. Das andere Land dagegen tausche sein Personal lieblos aus und wische Lebensleistungen der Ostdeutschen weg – ihrer Romanheldin Katharina erscheint die Freiheit des Konsums „wie eine Gummiwand, die die Menschen von den Sehnsüchten abtrennt, die jenseits ihrer persönlichen Bedürfnisse liegen“. Der Mensch erscheine hier nur als Kunde, Perspektive: „Salade niçoise nun für immer.“
Erpenbecks Familie gehörte zur Elite der untergegangenen DDR. Die Mutter übersetzte Literatur aus dem Arabischen, der Vater war Physiker und Schriftsteller, Großvater Fritz Erpenbeck wirkte als Verleger und unter anderem als Chefdramaturg der Berliner Volksbühne.
Ökonomisch gehört Jenny Erpenbeck zu den erfolgreichen Schriftstellerinnen des Landes. So verkaufte sich offenbar ihr Roman „Gehen, ging, gegangen“ über Migration nach Brancheninformationen mehr als 100.000 Mal, auch ihr literarisches Hauptwerk „Aller Tage Abend“ kam demnach auf mehr als 40.000 Exemplare. Entgegen den Jurys der deutschen Buchpreise nahmen einige deutsche Rezensenten „Kairos“ sehr wohl als den großen „Wenderoman“ wahr, als den ihn nunmehr die Jury des International Booker Prize einstufte. Deren Vorsitzende Eleanor Wachtel lobte die „leuchtende Prosa“: Wie die DDR beginne das Buch „mit Optimismus und Zutrauen, und gerät dann ganz ins Wanken.“ Der Roman werfe „komplexe Fragen über Freiheit, Loyalität, Liebe und Macht auf“. „Kairos“ setzte sich gegen fünf weitere Finalisten durch, das Preisgeld liegt insgesamt bei 50.000 Pfund. Insgesamt waren 149 Werke eingereicht worden.
Die Autorin selbst erklärte, sie habe interessiert, dass die Befreiung durch den Fall der Berliner Mauer nicht das Einzige gewesen sei, was in einer solchen Geschichte erzählt werden könne. Es gebe Jahre davor und danach. Eine solche Auszeichnung wie den International Booker Prize bezeichnete Erpenbeck vorab in der „Süddeutschen Zeitung“ als „Ritterschlag“. Spät, aber immerhin.