Ein Gespräch am Küchentisch, jenem Requisit deutscher Wohnkultur, von dem aus neuerdings sogar Kanzlerkandidaturen verkündet werden. Es ist der gemütlichste Platz in der erst halb eingeräumten Altbauwohnung in Berlin-Charlottenburg, der Umzug war erst vor wenigen Tagen. Der Philosoph Peter Sloterdijk redet hier über sein neues Europa-Buch „Der Kontinent ohne Eigenschaften“, über Silicon Valley, über aktiven Nihilismus – und natürlich auch, an einem solchen Ort, über Robert Habeck.
Herr Sloterdijk, Sie unterscheiden zwischen „Berufseuropäern“ und „Europagleichgültigen“. Zu welcher Gruppe zählen Sie?
Peter Sloterdijk: Mehr oder weniger zu den Berufseuropäern. Als öffentlicher Intellektueller kann man da gar nicht anders. Aber ich habe viel Verständnis für alle, denen das europäische Gewand einige Nummern zu groß ist.
Sie haben einen niederländischen Vater, leben in Berlin, aber auch in Frankreich. Vielleicht passt für Sie eine drittte Kategorie – die der „Lebenseuropäer“.
Die ist, meine ich, in der Kategorie der „Europagleichgültigen“ enthalten. Der Mensch hier geht in die finnische Sauna, zeugt Nachwuchs in schwedischen Betten, isst französischen Käse, trinkt italienischen und spanischen Wein. Auf der Ebene des Konsumenten-Europas sind wir sehr viel weiter als politisch.
Trotzdem sind wir auf dem Kontinent derzeit in einer schwierigen Phase…
…ja, auch weil das relative Monopol des romanisch-germanischen Modells relativiert wird durch das Hinzukommen der osteuropäischen Welt. Schon der Panslawist Nikolai Jakowlewitsch Danilewski hat im 19. Jahrhundert erklärt, das alte Zivilisationsmodell habe sich erschöpft, im Osten warte der Gegenentwurf. Danilewski wird oft von Wladimir Putin zitiert.
Nach der Wahl Donald Trumps in den USA – und angesichts der Bedrohungen durch Putins Russland und durch China – fordern ein Neubesinnen auf Europa.
Eine weltpolitische Konstellation ist zu Ende gegangen, von der wir während des Kalten Kriegs sehr profitiert haben. Wir lebten so gut wie ausschließlich unter dem amerikanischen Schirm. Nach 1991 konnte man zunächst glauben, die Nato werde sich auflösen, da ihr die Feinde ausgingen. Das änderte sich rasch. Wir erkennen: Mit bösem Willen aus der Ferne müssen wir sehr wohl wieder rechnen. Und somit muss man zugeben, dass man nicht länger mit einem geliehenen Schirm durch den Regen laufen kann.
Von Henry Kissinger wird das Satz kolportiert: „Welche Nummer wähle ich, wenn ich Europa anrufen will?“ Brauchen wir Brüssel als starke europäische Hauptstadt?
Das würden sich im Zweifelsfall die Pariser, Berliner, Madrilenen oder Römer nicht gefallen lassen. Die Briten mit dem Zentrum London sind rechtzeitig von Bord gegangen, wobei hier mein Lieblings-Bonmot am Platz ist: „Nicht alles, was von den Ratten verlassen wird, ist ein sinkendes Schiff.“
Zwei zentrale Versprechen Europas sind in Gefahr: das des Wohlstands und das der Sicherheit.
Europa bildet mit fast 450 Millionen Menschen den stärksten Verbrauchermarkt der Welt. Das ist nicht nichts, und es kann nach außen exemplarisch wirken. Zugleich war immer klar, dass die französische und die britische Nuklearmacht nicht ausreichen, Deutschland zu schützen. So erklärt sich auch die sozialdemokratische und merkelische Außenpolitik, Moskau gewogen zu halten. Sie beruhte in ihrer Zeit auf rationalen Optionen. Es hilft nichts, im Nachhinein daran herumzukritteln, nachdem sich Putin, der früh suspekt war, definitiv als Schurke herausgestellt hat.
Wo und wann hat Europa nach Ihrer Analyse eigentlich begonnen?
Die symbolische Gründung der Europäischen Gemeinschaft fand mit den „Römischen Verträgen“ bezeichnenderweise in Rom statt. Das ist kein Ortszufall. Rom ist die einzige Herkunftsgegegend, auf die sich die Europäer beziehen können, um eine Fiktion von Einheit zu beschwören. Rom, das bedeutet das Imperium und den Katholizismus – diese beiden Großstrukturen haben letztlich Europa hervorgebracht. Die Urszene Europas datiert aus dem Jahr 390: Damals verweigerte Ambrosius, der Bischof von Mailand, dem Kaiser Theodosius den Zutritt zur Kirche, weil dieser für das Massaker an aufständischen Bürgern in Thessasoliniki noch nicht gebüßt hatte. Die kirchliche trennte sich von der weltlichen Macht.
Und das ist noch heute von Belang? Noch nicht einmal jeder zweite Deutsche ist in der Kirche.
Wie wichtig das weiterhin ist, sieht man indirekt daran, dass heute Kyrill, der Patriarch von Moskau, Putin in den Hintern kriecht. Man sollte ihm hin und wieder eine Ansichtskarte aus Mailand mit dem Porträt des heiligen Ambrosius schicken und darauf schreiben: „Kyrill, du bist ein unwürdiger Kollege.“ Im Grunde begann Europa 480 vor Christus mit dem Sieg der Griechen in der Seeschlacht von Salamis gegen die Perser. Ohne diesen Erfolg würden wir vielleicht Zarathustra anbeten oder auf Xerxes-Denkmäler schauen. Später ahmten die Griechen die Perser nach, man wollte nun auch einen König der Könige mit zweistöckiger Krone haben. Alexander der Große importierte durch ungeschützten Verkehr mit dem persischen Delirium den imperialen Gedanken nach Europa. Die Römer setzten mit Begriffen wie „Cäsar“ oder „Imperator“ einen drauf. Nur durfte der neue Monarch sich keinesfalls „rex“, König, nennen, denn dieser Titel war in Rom verpönt.
Europa beschreiben Sie generell als ein „Club gedemütigter Imperien“. Trifft es das wirklich?
Es ist die historische Wirklichkeit. Vom 15. Jahrhundert an eroberten europäische Staaten mit ihren Schiffen die Weltmeere. Bevor Kolumbus Amerika entdeckte, nannte sich Europa rechtens „Okzident“. Infolge seiner Entdeckungen gaben wir das Privileg, die Gegend des Sonnenuntergangs zu sein, ab und wurden „Alte Welt“…
…die über Jahrhunderte hinweg überall auf dem Globus Kolonien und Handelsstationen gründete.
Weil Europa die Struktur eines riesigen Erzählgewebes besitzt, habe ich in meinem Buch sogenannte „Lesezeichen“ eingefügt, als Einmerker an wesentlichen Passagen. Ein Beispiel dafür gibt das Kapitel über die „losen Fische“ nach dem Roman „Moby Dick“. Der Walfang wird hier zum Paradigma der ganzen imperialen Epoche. Wer den Wal zuerst harpunierte, dem gehörte er. So wie sich laut Völkerrecht derjenige das Land aneignete, der zuerst seine Flagge aufstellte. Für Spanien war Amerika genauso ein loser Fisch wie Indien für England, Polen für den Zaren und Mexiko für die Vereinigten Staaten. Auch Deutschland bekam noch seinen „Platz an der Sonne“, sprich Kolonien in Afrika. Man sagte sich: Was die Belgier können, können wir auch.
Dialoge mit Sloterdijk sind zum einen Humorübungen, es wird viel gelacht. Zum anderen sind es Lehrvorstellungen in Sachen Metaphorik. Das Bild vom Wal hat es dem einstigen Karlsruher Universitätsprofessor angetan, auch weil „Moby-Dick“-Autor Herman Melville aus den USA eine nicht-europäische Perspektive hat.
Welche aktuelle Relevanz hat diese Erinnerung an alte Kolonialländer, die sich ausdehnten und überdehnten?
Es sind Rumpfimperien übriggeblieben – die Nation minus ihre Kolonien. Diejenigen Nationen, die wie die Deutschen ihre Demütigung verarbeitet haben, sind halbwegs geläutert aus dem Prozess herausgekommen. Der Eintritt in den Europa-Horizont war für die Deutschen so etwas wie die Kur in einer großen Reha-Klinik. Die Franzosen hingegen standen auf der Siegerseite der Geschichte, wenngleich nach einem Fake-Sieg. Sie hätten ein französisch dominiertes Europa gern gesehen, ein deutsches erweckt bei ihnen Unbehagen. Österreich wiederum hat mit einem Ur-Schlawinertum die imperialen Alt-Lasten verdrängt. Und die Italiener brauchen ohnehin kein Imperium, weil sie den Vatikan haben. Der Papst trägt nach wie vor den cäsarischen Kulttitel: „Pontifex maximus“.
Silvio Berlusconi hat das anders gesehen – er vereinigte die Macht über Wirtschaft, Medien, Politik und Fußball in sich.
Solch einen herrschenden Clown zu haben, ist sicher noch schöner als den Papst zu haben. In der demokratischen Welt einen Führer zu finden, bleibt immer eine Art von Comedia dell`Arte, eine Art Lotterie auf der Bühne. Mich beschäftigt seit langem die psychologische Frage, von welchem Moment an Menschen auf sich selbst hereinfallen. Wann glauben Clowns, wirklich Könige sein zu können und sich für Inkarnationen zu halten? Wann glaubt ein Politiker, dass er berufen ist? Mir scheint, zuerst ist die Person überdehnt, dann schaut man, ob sich ein Imperium für sie finden lässt.
In den USA braucht man aktuell für eine Machtzusammenballung wie bei Berlusconi drei Personen: neben Trump noch den Unternehmer Elon Musk und den Großinvestor Peter Thiel.
Die heutigen sogenannten „großen Männer“ sind große Kinder, die den Staat als Riesenspielzeug benutzen. Das war bei Berlusconi, Nicolas Sarkozy und in der Ära Trump I so, und bei Figuren wie Putin, Narendra Modi, Victor Orbán, Recep Tayyip Erdogan ist es kaum anders. In der zweiten Ära Trump wird es erst recht so sein. All diese Leute sind in Selbstüberdehnungsdramen gefangen. Der unbefangene Beobachter sieht bei ihnen den Infantilismus an der Macht mit bloßem Auge.
Ist Olaf Scholz auch einer, der sich überdehnt?
Auch er ist eine Inkarnation, man fragt sich nur, wovon. Wenn man ihn sieht, könnte man meinen, er sei Teil einer Scharade, bei der der Begriff „Belanglosigkeit“ geraten werden soll.
Sloterdijks neues Buch fasst neun Vorlesungen zusammen, die er zwischen April und Juni 2024 am renommierten Collège de France in Paris auf Französisch gehalten. Alles sehr fordernd. Nach jedem Vortrag diskutierte er mit einem von ihm benannten Wissenschaftler. Unter den Zuhörern: Staatspräsident Emmanuel Macron. Man redete bis nach Mitternacht im Élysée-Palast weiter.
Inzwischen scheinen wenige US-Tech-Konzerne mächtiger zu sein als Nationalstaaten. Der Silicon-Valley-Nihilismus habe dem europäischen Nihilismus den Rang abgelaufen, lautet Ihre These. Sie spielen auf Friedrich Nietzsche an, der im „Lenzerheide-Fragment“ über aktiven Nihilismus schrieb. Durch den werden die wenigen Personen, die zu handeln fähig sind, mit einem ausgeprägten Willen zur Macht ausrüstet.
Das Konzept ist noch unausgeschöpft. Die meisten Europäer haben sich nach 1945 in eine künstliche Normalität beziehungsweise eine zweite Naivität geflüchtet, indem sie gute Demokraten werden wollten und böse Hintergedanken verbannten. Sie möchten den Menschen unstrategisch und gutmütig haben. Aber die bösen anderen gibt es weiter. Die machen ihre Geschäfte wie seit je auf dem Rücken der Mitmenschen, frei nach Brecht: „Die Klugen leben von den Dummen, und die Dummen von der Arbeit.“
Und hier kommen für Sie Tech-Unternehmer ins Spiel – als aktiven Nihilisten, die bestehende Ordnungen infrage stellen?
Die Silicon-Valley-Figuren sind in ihrem Nihilismus viel prägnanter, als es die roten und schwarzen Faschisten in den 1920er-Jahren waren. Leute wie Elon Musk sind Unternehmenskünstler. Bei ihm selbst ist der Spinner-Anteil zu sichtbar, um missverstanden zu werden. Eine Art Philosophenkönig ist vielmehr Peter Thiel. Er handelt sehr kühl und strategisch – eine schillernde Figur, weit außerhalb unserer linksliberalen Wahrnehmungsschemata. Man bedenke: Thiel hält den Clown Trump, der die Grenzen zwischen Reality-TV-Show und Politik verwischt hat, für zu konservativ! Im Originalton: Er sei nicht diskontinuierlich, nicht disruptiv genug.
Thiel setzt auf Vizepräsident J.D. Vance, seinen Protegé.
Das ist sein bestes Kunstprodukt – eine fabelhafte Startup-Figur. Der aktive Nihilist schickt seinen Schüler auf den Thron. Es kann gut sein, dass Peter Thiel damit den nächsten US-Präsidenten schon geklont hat. Der Plot ist mit dem des Hollywood-Films „Der Manchurian Kandidat“ von 2004 vergleichbar: Die ökonomisch Mächtigen wollen einen konzernkompatiblen Strohmann-Präsidenten in Stellung bringen.
An dieser Stelle empfiehlt Sloterdijk, der mit Thiel eine Zeitlang persönlich geredet hat, für eine Amerika-Reise zwei Essay-Bände fürs Gepäck: Nietzsches „Lenzerheide Fragment“ sowie Sören Kierkegaards „Über den Unterschied zwischen einem Genie und einem Apostel“. Man lerne, dass das Genie wie eine kleine Sonne ist, die sich selbst leuchtet, während der Apostel den anderen leuchten will. Das aber mache die Sache erst wirklich gefährlich. In den USA habe man es durchweg mit manisch übersteuerten Figuren zu tun, „mit Aposteln für selbstgemachte Evangelien“.
Mit diesem veränderten Land muss Europa künftig umgehen. Aber dem „Kontinent ohne Eigenschaften“ ist es noch nicht gelungen, ein starkes europäisches Narrativ zu finden.
Die Europäer suchen danach, aber an der falschen Stelle. Dabei gibt es den Mythos längst: Er gründet in der Geschichte von Aeneas, der dem brennenden Troja entkommt und in Italien die Stadt Alba Longa gründet, aus der Rom hervorgeht. Die Aeneis ist das Hohelied der zweiten Chance. Die große Erzählung nach 1945 kann nur die Beschwörung der zweiten Chance sein. Europa ist ein Ort, an dem Menschen nach einem Scheitern neue Lebensversuche wagen können.
In den USA sehen Sie einen „alteuropäischen imperialen Klassizismus“ verwirklicht, Washington habe die Rolle eines „vierten Rom“ übernommen – nach dem zweiten von Byzanz und dem dritten von Moskau. Wenn vom „Westen“ gesprochen werde, sei das ein „Palliativausdruck“, der Europa trügerisch der US-Machtsphäre zurechnet. Starker Tobak.
„Der Westen“ ist eine Notformulierung für die angebliche Einheit Europas mit den USA, zwischen Alt-Westlern und Neu-Westlern. Zwar gibt es in den Vereinigten Staaten noch echte Transatlantiker, die die Nato hochhalten, doch es macht sich auch eine anti-europäische Stimmung breit. Donald Trump betrachtet Europäer als einen Haufen undankbarer Bettler.
Und was wären die richtigen Reaktionen der „Bettler“?
Bis auf weiteres muss man bis 27 zählen. Es wäre leichtsinnig, die Zahl der EU-Mitgliedsstaaten weiter zu erhöhen. Wir müssen eine permanente europäische Verteidigungsministerkonferenz einrichten und eine gemeinsame militärische Struktur bereithalten statt vieler Operetten-Armeen. Souverän ist nur, wer glaubhaft drohen kann. Und Europa kann derzeit wirklich keine „bewaffneten Ratschläge“ geben – wie der Historiker Edward Luttwak die Geste der Drohung definiert. Das Eskalationsprivileg liegt weiter bei Russland. Die Scholz-Position war im Grunde immer nur: Reizt Putin nicht! Damit gab er den Russen freie Hand für all die Verbrechen, die sie weiter begehen wollten.
Gehören zu Europas Identität nicht vor allem die oft gepriesenen abendländischen Werte der Aufklärung?
Bei den schönen Reden über „Werte“ denke ich immer an Goldbarren oder an einen Hundert-Euro-Schein. Welchen moralischen Hundert-Euro-Schein sollen die Europäer denn jetzt drucken? Da ist doch schon so viel Falschgeld im Umlauf. Die klassische Ethik beruhte auf einer Lehre von den Tugenden und den richtigen Prinzipien des Handelns. Die heute gängige Ethik redet lieber über Werte, als ob man dadurch inflationssichere Papiere hervorrufen könnte. Für unsere „Werte“ könnte man einen eigenen Aktienindex anlegen – den „Wax“, Wertaktienindex.
Sie meinen: ein Muster ohne Wert? Alles wachsweich?
Die Dinge zeigen ihr authentisches Gesicht, wenn glaubwürdige Personen wie Dietrich Bonhoeffer, Nelson Mandela, Vaclav Havel oder Alexej Nawalny auftreten. Bei ihnen redet man nicht mehr von „Werten“. Solche Figuren, fast hätte ich „Gestalten“ gesagt, geben starke Beispiele für die Verkörperung ihrer Prinzipien. Und vor allem um Verkörperung – in Personen und in Institutionen – muss es gehen. Die Rede von „Werten“ dient eher der Entkörperung und der Depersonalisierung. „Unsere Werte“ scheinen immer recht hochzustehen, aber wer ist auf der Höhe? Und haben nicht die Europäer in der Mehrheit ihr moralisches Familiensilber verscherbelt, wenn‘s um Geschäfte ging?
Wie also soll man eine sinnvolle Orientierung zurückgewinnen?
Zum Beispiel, indem man sich die Frage stellt, wie Europa zum Kontinent der Menschenrechtserklärung werden konnte. Um es stark zu vereinfachen: Indem die Vordenker der europäischen Aufklärung die mittelalterliche Idee einer katholischen Universalkirche aufgaben, um sie in die einer Menschenrechtssphäre umzuwandeln, die nicht als „Kirche“ deklariert werden darf. In ihr gibt es nur noch ein Sakrament, die Menschenwürde. Die wird, ohne Taufe, jedem Einzelnen als das „unauslöschliche Siegel“ zugeschrieben.
Es folgt eine Lektion über „Säkularisierung“. Religion wurde, so Sloterdijk, in der europäischen Neuzeit von ihren zwangsgemeinschaftlichen Funktionen losgelöst. Die Apostasie (der Abfall vom Glauben) wurde entkriminalisiert, Atheismus tolerabel, die Gleichgültigkeit epidemisch. Den sozialen Zusammenhang stifteten nun Märkte, Presse, Literatur, Kunst, Schulen, Parteien, Gewerkschaften, Vereine und Sozialversicherungen. Zugleich entstand das Aufklärungsdispositiv des 19. Jahrhunderts, „ein großes Desillusionierungsprogramm“. Im 20. und 21. Jahrhundert setzten dann Großversuche zur Wiederherstellung von Illusionen ein: „Es war die Zeit der Rattenfänger und der Illusions-Industriellen, ein Eldorado für Zyniker und falsche Propheten – niemand kann sagen, wir seien nicht immer noch mittendrin.“
Herr Sloterdijk, Sie sind mit FDP-Chef Christian Lindner befreundet, dem Sie zum Ausstieg aus der Ampelkoalition rieten. Reden Sie mit Politikern auch über Europa?
So gut wie nie. Gespräche solcher Art hatte ich nur in Frankreich, etwa mit Macron, der unter den französischen Präsidenten der erste entschiedene Europäer ist. In Deutschland hatten wir es zuletzt mit einer überwiegend anti-intellektuellen und kulturell desinteressierten Regierungsmannschaft zu tun.
Robert Habeck ist Schriftsteller.
Auf meiner Favoritenliste stünde er neben dem österreichischen Heimatschriftsteller Peter Rosegger. Habecks grünes Heimatschriftstellertum drückt sich in seinem falsch juvenilen Habitus aus. Wenn ein Minister, 55-jährig, in ein Mikrophon sagt: „Das geht mir von so was auf den Sack!“, hört man schlimme Heimatliteratur. Habeck lebt momentan im Kanzlerkandidaten-Delirium. Wie über Gerhard Schröder, seinerzeit, kann man über ihn sagen: Er leidet nicht unter Realitätsverlust, er genießt ihn. Er bewohnt seinen Traum und seine Fan-Blase. Doch vielleicht besucht er uns mal wieder in der gemeinsamen Welt.