Meine gesammelten Werke: Wie ich die Lage gesehen habe.

Zwei Bücher über eine Wiedervereinigung, die schwerer ist als erwartet

Handelsblatt, 08.02.2024

Die gesamtdeutsche Erfindung: Was wird aus dem Ost-West-Verhältnis

Zwei Bücher über eine Wiedervereinigung, die schwerer ist als erwartet

Handelsblatt, 08.02.2024

Die Journalistinnen Jessy Wellmer und Ursula Weidenfeld erkunden, was seit der Wiedervereinigung schiefgelaufen ist. Es ist eine ganze Menge.

 

Literaturwissenschaftler haben üblicherweise wenig Einfluss auf große gesellschaftliche Debatten. Bei Dirk Oschmann ist das anders. Seit einem Jahr erschüttert sein Buch „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“ die Republik. Die einstige DDR erscheint hier wie ein „Geschwür“ am Hintern des Westens, das sehr schmerzt und das er zu seinem Bedauern nicht mehr los werde. Und aus Oschmanns Sicht ist die AfD eine West-Partei, die gerade eine Sonderkonjunktur Ost erlebt.

Mit seinen Bulletins hat der Professor aus Leipzig einen Ost-West-Streit in den Bürgersälen und Talkshows aufgekocht, wie ihn die Republik in bald 34 Jahren politische Einheit nicht erlebt hat. Zum „Oschmann-Effekt“ gehört, dass sich viele bemüßigt fühlen, mit eigener Recherche dem Phänomen Wiedervereinigung nachzuspüren. Der Osten als „Geschwür“ des Westes – alles nur publicityträchtige Provokation oder doch triste Realität?

Zu dieser Erkundungsliteratur gehören zwei aktuelle Bücher einschlägig erfahrener Autorinnen. Da ist zum einen die aus Güstrow in Mecklenburg stammende TV-Moderatorin Jessy Wellmer, die ein sehr persönlich gehaltenes, leicht lesbares Erlebnis- und Erinnerungsbuch zum Thema vorlegt, Weltbespiegelung wie in einem Pferderoman. Die in Westdeutschland geborene Wirtschaftsjournalistin Ursula Weidenfeld dagegen präsentiert ein fast staubtrockenes deutsch-deutsches Geschichtsbuch, das die DDR bei allen ideologischen Vorbehalten ernst nehmen will. Beide wollen retten, was zu retten ist.

Aber was heißt das in einer Zeit, in der die „Oschmänner“ das Wort führen? Was hat sich geändert gegenüber dem Jahr 2005, als der Journalist Uwe Müller im Bestseller „Super-GAU Deutsche Einheit“ kritisierte, der Osten falle beständig gegenüber dem Westen zurück, den das Ganze wiederum selbst schnurstracks ins „ökonomische Desaster“ führe?

Offen erklärt die mittlerweile mit ihrer Familie in Berlin-Charlottenburg lebende „Tagesthemen“-Frau Wellmer, sie wolle „immer knotenlösend vermittelnd agieren“ sowie konkret etwas zu Wiedervereinigung und Freiheit beitragen: „Ich glaube, wir müssen was tun.“ Demütigungen könnten zu Extremismus führen, heißt es vielsagend. Stimmt ja wohl auch, wenn man bedenkt, dass sich ein großer Edeka-Händler in Sachsen nach diversen Pöbeleien für Prospekte entschuldigen musste, auf die er druckte: „Für Demokratie – gegen Nazis“.

Die Autorin nimmt die Rolle einer Sozial-Gouvernante ein, die ständig ruft: „Vertragt euch doch!“ Und im Inneren nicht weiß: „Worüber eigentlich?“ Mit Verweis auf Eltern, Mann, Freundinnen und Zuschauerpost berichtet sie munter von der Basis: im Westen viel Desinteresse am Osten, dort wiederum ein großes Bedürfnis, sich abzugrenzen. Viele in den neuen Bundesländern würden nicht mehr an Demokratie glauben, Gleichheit und Sicherheit sei ihnen womöglich wichtiger als Freiheit. Und dann ist da noch die Sache mit der Ost-Band Keimzeit: Zu deren Hit „Kling, Klang“ (1993) tanze jeder zwischen Rostock und Dresden gerne, im Westen dagegen kenne fast niemand das Stück. Symptomatisch sind aus diesem Blickwinkel auch die Inhalte der geleakten internen SMS-Nachrichten des Axel-Springer-Chefs Mathias Döpfner. In denen teilte er 2019 seinem „Bild“-Chefredakteur mit Verweis auf die Linke und die AfD mit, die „Ossis“ seien entweder Kommunisten oder Faschisten, „dazwischen tun sie es nicht“. Sie würden niemals Demokraten sein.

Aus Wellmers Sicht brachte der Ukraine-Überfall durch Wladimir Putin eine Zäsur. Viele im Osten nähmen die moralische Haltung des Westens höchstpersönlich – als Angriff auf sich selbst und auf ihre Ost-Identität. Einige dächten, der Westen tue den Russen so unrecht „wie der Westen uns Ostdeutschen Unrecht getan hat“. Die Klagenden glaubten einfach, wieder auf der falschen Seite der Geschichte zu stehen. Verblasst sind offenbar die Erinnerungen an die SED-Diktatur. Da hatte sich ja auch ein Stück „Heimat“ aufgelöst, die alten Kombinatsfabriken und die Knuppelbrötchen sind genauso weg wie Stasi oder Zentralkomitee. „Es war ja nicht alles schlimm in der DDR“, ist mittlerweile zu hören.

Dabei müsse man nur Ost 1989 mit West 1989 vergleichen, mahnt Wellmer zurecht, und sich an vergiftete Flüsse und Smog in einem abgeriegelten Land erinnern, das sich aus Angst vor zu viel Kommunikation nur 1,8 Millionen Telefonschlüsse erlaubte. Und man muss auch an zwei derzeit erfolgreiche Romane erinnern, die die DDR in wenig schmeichelhaftem Licht schildern: „Die Möglichkeit von Glück“ (Anna Rabe) und „Gittersee“ (Charlotte Gneuß). Solche Belletristik erreicht aber, anders als Oschmanns Epistel, kein Massenpublikum.

Auch Jessy Wellmer, ein Kind der Wende, schreibt von einer „Verunsicherung in den Knochen“, vieles Großartige sei zwar nach 1989/90 möglich geworden, „aber auch für uns ist ganz schön was ins Wanken geraten“. Auf der Negativseite stünden etwa die geringe Zahl von Führungsjobs für Ostdeutsche. Ihre ambivalente Analyse ist typisch für dieses Erzählwerk der vielen Perspektiven, das in einen Über-Satz eskaliert: „Es ist und bleibt ein Hin und Her.“

Starke Seiten hat das Buch, wenn die Autorin von ihrer (privilegierten) Kindheit erzählt, in der auch eine leitende Tätigkeit für die Organisation der Pioniere fast romantisch gerät. Die elf Jahre in der DDR gut sozialisierte Jessy Wellmer breitet ein Doppelleben aus: Glücklich im Westen, offen für die Nöte im Osten. Unermüdlich beklagt sie Klischees, Stereotypen und Vorurteile auf beiden Seiten, der „Westen“ sei ja auch eine Erfindung des Ostens, und überhaupt: „Ich werde manchmal nicht schlau aus uns Ossis.“ Belehrt fühle sie sich oft von älteren Ostdeutschen, sagt die Journalistin, die zwei Fernsehdokumentationen zum Thema gemacht hat.

Wie sollen die da im Westen alles verstehen, geschweige denn alles richtig machen?

Jessy Wellmer plädiert dafür, dass der Blick endlich auf die vorhandene Vielfalt im Osten fällt und dass man sowohl die ökonomische Solidarität des Westens (Einheits-Soli) als auch die Leistung der Ost-Revolutionäre achtet. Ihre Hoffnung: dass die Geschichte der DDR und der Wiedervereinigung Teil der gesamtdeutschen Geschichte seien, weise in die Zukunft.

Hier kommt die West-Kollegin Weidenfeld mit ihrem Sachbuch ins Spiel, das Fakt auf Fakt referiert, persönliche Erlebnisse aber komplett ausspart. Auch nach mehr als 30 Jahren Vereinigung seien die Begriffe „ostdeutsch“ und „westdeutsch“ noch immer politisch aufgeladen, erklärt sie: „Die getrennte Geschichte scheint vielfach stärker zu sein als die vereinte.“ Wie auch bei Wellmer dient ihr Angela Merkel als Zeugin für die aufgekommene Fremdheit im eigenen Land. Die langjährige Bundeskanzlerin hatte bei der Einheitsfeier 2021 geklagt, DDR-Menschen stünden unter Beweisdruck, „so als sei die Vorgeschichte, also das Lernen in der DDR, irgendwie eine Art Zumutung“ gewesen. Der Historiker Arnulf Baring hatte 1993 dafür die Döpfner-artige These gefunden, die Ostdeutschen seien nach 40 Systemjahren „verhunzt“ und „verzwergt“.

Weidenfelds Fleißarbeit verzichtet weitgehend auf Empfehlungen. Sie kontrastiert zumeist chronologisch die Abläufe in West und Ost, es fehlt eine durchgehende thematische Überwölbung; vieles ist Synopse. Eine Erkenntnis aber ist, dass die übliche Geschichtserzählung, wonach der Kalte Krieg die zwei deutschen Staaten voneinander entfremdet habe, das jahrzehntelange Offene in der Entwicklung beider Systeme ignoriere und sowohl die Systemkonkurrenz als auch die Verflechtungen unterschätze. Ohne die Garanten USA und UdSSR im Hintergrund – die lange Zeit alles wollten, nur kein neues Großdeutschland – sei das alles nicht zu erklären: „Niemand suchte sich das System aus, es wurde ausgesucht.“ Aber diese Fremdwahl bestimmt heute noch Identitäten.

Irgendwann in der Frühzeit nach 1945 habe man im Westen nach Osten geblickt, wenn man sich fürchten wollte, im Osten jedoch hielt man sich für das moralisch überlegene und gerechtere Gesellschaftssystem – es störte nur, dass sich die anderen materiell mehr leisten konnten. (Das reflexartige Lamento übers Wohlstandsgefälle existiert noch heute, obwohl die Renten in Ost und West inzwischen angeglichen sind.)  Nur im Sport gelang es der mit Minderwertigkeitskomplexen behafteten DDR den Westen zu überholen, sie hatte das bessere Doping.

Die Illusion einer Wiedervereinigung platzte in den 1960er-Jahren, es setzte ein allgemeiner „Fortschrittsoptimismus“ ein, analysiert Weidenfeld. Und am Ende in den 1980er-Jahren stabilisierte der Westen die DDR in ihrer Agonie finanziell, destabilisierte sie aber mental. Die alten Preußen fand man am Ende hüben wie drüben faszinierend und auch im „Mecker-Kleinbürgertum“ sei man sich, so die Autorin, einander ähnlich gewesen.

Die Wiedervereinigung habe trotz solcher Gemeinsamkeiten kein harmonisches Ganzes formen können, so das Conclusio, jeder Gedanke daran sei ein „unvermeidliches Missverständnis“ gewesen. Schon der „doppelte Makel“, nur durch Alliierte geboren worden zu sein, „zerschnitt die vermeintlich gemeinsamen Lebenslinien“. Woher hätten sie alle im Westen und im Osten dann nach dem 3. Oktober 1990 wissen sollen, wie es besser geht? Es war eine Wiedervereinigung ohne Plan – aber auch ohne gebührendes Vermächtnis.

Weidenfeld kritisiert, die Heldentaten des 17. Juni 1953 und des 9. November 1989 würden nicht ausreichend gewürdigt; man hätte den 9. Oktober (Friedensdemo in Leipzig) als Nationalfeiertag installieren sollen. Die Ostdeutschen seien nach der Wende zunächst „Exilanten im eigenen Land“ gewesen, die die Codes des Westens nicht kannten und überrumpelt wurden. Jetzt jedoch beanspruchten sie ihren Platz eigenwillig – und der Westen zweifele an sich. Das darf man als Hinweis auf die im September anstehenden Landtagswahlen in Brandenburg, Thüringen und Sachsen deuten, die womöglich der AfD große Zugewinne bringen.

Die Moral der Geschichte nach so viel Einheits-Literatur: Am Ende wird sich das Land gemeinsam neu erfinden müssen – oder weiter, Ost und West, abwärts trudeln. Vorher aber wird es einige Therapiestunden brauchen, wofür solche Bücher durchaus dienlich sind.