Meine gesammelten Werke: Wie ich die Lage gesehen habe.

Der Leipziger Literaturprofessor Dirk Oschmann über 35 Jahre Einheit, ostdeutsche Gefühle und seinen Bestseller-Erfolg

Handelsblatt, 02.10.2025

„Die Dinge müssen neu verhandelt werden“

Der Leipziger Literaturprofessor Dirk Oschmann über 35 Jahre Einheit, ostdeutsche Gefühle und seinen Bestseller-Erfolg

Handelsblatt, 02.10.2025

Unmittelbar hinter dem imposanten Bundesverwaltungsgericht liegt in Leipzig das Geisteswissenschaftliche Zentrum der Universität. Professor Dirk Oschmann, 57, Bestseller-Autor mit einer deutsch-deutschen Streitschrift, empfängt vor den Aufzügen. Überall in dem erst 20 Jahre alten Gebäude wird saniert. In seinem Zimmer fällt ein gerahmtes Bild mit einem Spruch aus „Alice im Wunderland“ auf: „We are all mad here“. Oschmann, ein erklärter Grünen-Stammwähler, macht nun keine Buch-Lesungen mehr, er konzentriert sich auf seine Aufgaben als Literaturwissenschaftler. 

Herr Professor Oschmann, im Koalitionsvertrag der Bundesregierung steht, die Menschen in Ostdeutschland hätten seit der Wiedervereinigung „Außergewöhnliches“ geleistet – und ihre Heimatregionen unter Opfern neu aufgebaut. Wie kommt das bei Ihnen an?

Das klingt erst mal gut, ein bisschen allerdings nach der üblichen Sonntagsprosa. Was hätte man auch sonst schreiben können?

Die Repräsentation Ostdeutscher in Entscheidungsgremien solle weiter verbessert werden. Und in Halle (Saale) entstehe ein „Zukunftszentrum für Deutsche Einheit und Europäische Transformation“.

Solche neuen Institutionen und Behörden sind in den doch nicht mehr neuen Bundesländern überfällig. Noch sind die Ostdeutschen in den Eliten stark unterrepräsentiert. Es fehlt überall an Teilhabe. Das muss sich ändern, wenn das Land wirklich zusammenwachsen soll. Der Osten muss sich andererseits selbst stärker in die Pflicht nehmen und Chancen ergreifen. Das ist ein Geben und Nehmen.

Der Tag der offiziellen Wiedervereinigung jährt sich zum 35. Mal. Wirkt die alte Mauer heute noch in den Köpfen?

Das wäre zu viel gesagt. Dafür ist seit 1990 zu viel passiert. Aber es halten sich viele Vorurteile. Fast jeder fünfte Westdeutsche war halt noch nie in Ostdeutschland. Andererseits hat der Osten auch seine Imagologie vom Westen gehabt, neue Vorurteile kamen hinzu.

Schon vor zweieinhalb Jahren ist Ihr Buch „Der Osten, eine westdeutsche Erfindung“ erschienen. Es hat eine bis heute anhaltende Debatte ausgelöst. Was haben Sie seitdem über das Land gelernt?

Das Überraschendste für mich war zu sehen, wie zerstritten der Osten mit sich selber ist. Diejenigen, die vor 1980 geboren wurden und von den Härten nach der Revolution direkt betroffen waren, haben das Buch in der Regel sehr viel positiver aufgenommen als die Jüngeren.

Sie sind zu einer sehr öffentlichen Person geworden, zur „Stimme des Ostens“. Was hat das mit Ihrem Leben gemacht? 

Das ist eine sehr komplizierte Frage. Man könnte sagen, ich sei vorher auf dem kleinen Teich der Literaturwissenschaft unterwegs gewesen und bin nun auf den Ozean der Geschichte und Politik in den Sturm der medialen Öffentlichkeit geraten. Mir war ohnehin immer klar: Wer A sagt, muss auch B sagen. Aber die Belastung wurde schon sehr groß. Die öffentliche Präsenz hatte Auswirkungen auf meine Selbstwahrnehmung und meine Familie. Als Person bin ich dadurch noch stärker geworden.

Sie könnten ein weiteres Buch, basierend auf Ihren Erfahrungen, über die deutsche Debattenkultur schreiben.

Sie sind nicht der erste, der danach fragt. Würde ich mich dann aber nicht wiederholen? Ich habe mich erst einmal dagegen entschieden. Das Archiv der Universität Leipzig wird zu gegebener Zeit das gesamte Material zur späteren wissenschaftlichen Auswertung erhalten – etwa die Tausende Zuschriften, Studien und Bücher, die ich bekommen habe.

Sie bringen sich in die deutsch-deutsche Debatte erklärtermaßen als „Laie“ ein. Der ostdeutsche Soziologe Steffen Mau geht im Buch „Ungleich verteilt“ von einer „Verstetigung ostdeutscher Eigenheiten“ aufgrund erlittener Frakturen aus. Er widerspricht Ihnen: In Wahrheit sei der Westen eine Erfindung des Ostens.

Die Arbeiten von Steffen Mau schätze ich sehr. Ohne sein „Lütten Klein“ (Ein Werk über Rostocker, die nach 1990 blieben oder weggingen. Die Red.) hätte ich mein Buch gar nicht schreiben können. Mau spricht als Wissenschaftler in einer anderen Tonalität. Wir sind in keinem großen Dissens, auch wenn er das öffentlich gern für sich in Anspruch nimmt. Der Unterschied liegt in der Akzentuierung.  Für ihn sind Strukturen wichtiger als Diskurse, für mich dagegen sind Strukturen zwar wichtig, aber ohne die Diskurse würde man gar nicht verstehen, was kollektiv-psychologisch vor sich geht.

Sie würden „in gewisser Weise Mentalpflegetexte“ bieten, da Sie das „Lesepublikum in seinen Alltagsgefühlen bestätigen und nicht fordern möchten“, kritisiert Mau.

Er will nicht verstehen, dass ich ein Buch über den Westen geschrieben habe, nicht über den Osten – nämlich darüber, wie der Westen über den Osten denkt und redet und welche gesamtgesellschaftlichen Effekte das hat. Mich irritiert außerdem, dass er behauptet, es gäbe keine Verantwortlichkeiten – als gäbe es nicht Leute, die Entscheidungen treffen, immer wieder neu. Also muss man Ross und Reiter auch benennen und nicht wie Steffen Mau so tun, als seien die entstandenen Strukturen ein naturhafter, zwangsläufiger Prozess gewesen, der nicht auch anders hätte laufen können. Und gegen Strukturen kann man etwas tun, sonst bräuchten wir keine Politik.

Sie sehen eine „Verostdeutschung“ der Menschen durch den Westen und fordern „Des-Identifizierung“. Das widerspricht der soziologischen Analyse, wonach die Gesellschaft im Osten gesamtdeutsch geworden sei. Seit 2017 ziehen mehr Menschen von West nach Ost als umgekehrt.

„Verostdeutschung“ ist kein Wort, das ich verwende. Vielleicht ist Des-Identifizierung nicht möglich. Aber es geht ja auch darum, dass man fair, präzise und respektvoll über Ostdeutsche berichtet. Niemand würde so abfällig über die türkische Minderheit oder queere Personen reden, wie über Ostdeutsche geredet wird. Warum sollen die Ostdeutschen überregionale Zeitungen abonnieren, wenn sie da permanent belehrt und beleidigt werden? Ursächlich ist, dass man im Osten weniger verdient, weniger erbt, weniger Vermögen hat, was sich über weitere Generationen zu verstetigen scheint.

Da müsste Ihnen die „Berliner Zeitung“ des in Ost-Berlin geborenen Holger Friedrich gefallen. Sie hat viel Verständnis für Ostdeutschland, aber auch für Russland und China.

Es ist gut, dass eine Zeitung für Ostdeutsche schreiben will. Hier ist die erste Rezension über mein Buch erschienen. Die „Berliner Zeitung“ nimmt dezidiert andere Perspektiven ein. Sie dokumentiert die Asymmetrien zwischen Ost und West. In Deutschland wird zwar immer vom freien Diskurs geredet, aber dass da ein Verleger aus Ostdeutschland kam, ist manchem ein Stachel im Fleisch.

Sie schreiben von „Demokratiesimulation“. Aber in ostdeutschen Gemeinden nehmen fast nur Ostdeutsche die Mandate und Ämter wahr. Der Anteil der Ostdeutschen in den Landesparlamenten liegt bei mehr als 80 Prozent. Was wird hier simuliert?

Ja, im Feld der Politik tut sich viel, weil da gewählt und nicht ausgewählt wird. Das ist der Unterschied zu Verwaltung, Wirtschaft, Militär etc., wo sich die westdeutschen Eliten kontinuierlich aus sich selbst rekrutieren und wo die Netzwerke der Westdeutschen wirken. Eine aktuelle Studie des Leipziger Politikwissenschaftlers Lars Vogel zeigt, dass die Ostdeutschen aus diesem Grund auf längere Sicht nicht mit Chancengleichheit rechnen können.

Sie sprechen sogar vom „Totalausschluss“ der Ostdeutschen in demokratischen Prozessen. Dabei durften die Bürger von Anfang an alles, was der Westen auch durfte: Wählen, sich wählen lassen, Parteien oder Verbände gründen, demonstrieren.

Aber wie zielführend war das alles? Großdemonstrationen wie in Bischofferode, wo die Kali-Kumpel gegen die Schließung ihres Werks kämpften, blieben ergebnislos. Sicher, „Totalausschluss“ ist eine scharfe Zuspitzung der Zusammenhänge. Aber es gibt viele Einzelbeispiele und eine entsprechende Gesamttendenz. Denken Sie daran, wie die CDU eine neue gesamtdeutsche Verfassung abwehrte. Man habe keine Zeit, hieß es. Unsinn – man hat sich auch erst 1995 für die neue Bundeshauptstadt Berlin entschieden.

Nach Artikel 146 des westdeutschen Grundgesetzes wären Beratungen über eine neue Verfassung angezeigt gewesen.

Jürgen Habermas hat schon Anfang der 1990er-Jahre zu Recht scharf kritisiert, dass es nicht so kam. Wenn sich 62 Millionen Menschen auf der einen Seite und 16 Millionen auf der anderen Seite zusammentun, wäre es wohl an der Zeit, sich über die Regeln des gemeinsamen Zusammenlebens zu verständigen, sagte er. Diese Einigung fehlte. Das war die Ursünde. Und man darf nicht vergessen, dass die Menschen Anfang der 1990er-Jahre viel Energie brauchten, ihr Leben neu zu organisieren. Ultima ratio war, eine Beschäftigung zu finden und nicht eine Partei oder einen Verein zu gründen. Und doch kursierte im öffentlichen Raum die Annahme, die mentale Angleichung dauere nur noch drei bis fünf Jahre.

Ein schwerer Irrtum, wie sich nun, 35 Jahre nach der Revolution, herausstellt.

Die Kulturwissenschaftler Jan und Aleida Assmann analysierten, dass es drei bis vier Jahrzehnte dauert, bis große bedeutende Ereignisse wirklich im Bewusstsein der Bevölkerung verankert sein können. Das hat mit Gedächtnisprozessen, den Zeitzeugen und dem Generationenwechsel zu tun. Deshalb erklärte Richard von Weizsäcker erst 1985, Deutschland sei vom Faschismus befreit worden. Deshalb schreiben jetzt viele junge Autorinnen und Autoren über ihre Kindheit in der alten DDR und die für sie oft brutalen Neunziger Jahre. Es existieren freilich auch Thesen, wonach man sich dauerhaft an die asymmetrischen Zustände gewöhnen müsse – so wie man sich damit abgefunden hat, dass Norditalien reich und Süditalien arm ist.

Eine prosperierende Stadt wie Leipzig findet man im ganzen Mezzogiorno nicht.

Auch in Leipzig sind die Menschen bis 2005 weggezogen. Seitdem kamen 100.000 Leute her, die Wirtschaft ist angekurbelt worden. Es ist fantastisch, hier zu leben. Viele der jungen Westdeutschen, die zum Studieren kommen, bleiben – auch wenn sie sich zuhause dafür rechtfertigen müssen, im Osten zu leben. Und doch ist die Armutsrate von Leipzig weiter hoch. Es ist in rein ökonomischer Sicht keine reiche Stadt.

Zu einer finanziellen Ost-West-Bilanz gehören auch die immensen Transferleistungen seit 1991. Mit mehr als eine Billion Euro aus dem Westen wurden kaputte Häuser, Straßen und Energienetze repariert.

Das ist eine Frage der Rechnung. Viel Geld, das in den Osten floss, ist am Ende auch wieder dem Westen zugutegekommen. Und die Gesamtrechnung beginnt nicht 1990, sondern 1933. Die DDR hatte einst für die Verbrechen in der Nazi-Zeit hohe Reparationen an die Sowjetunion zu zahlen, während die alte Bundesrepublik im Kalten Krieg die Marshall-Hilfen bekam. Der Westen lernte schnell, die Demokratie zu lieben, weil er damit zugleich reich werden konnte. Der Osten musste sich die Demokratie erkämpfen und hat in den Neunzigern auf verschiedenen Ebenen zunächst einen Verarmungsprozess hinnehmen müssen.

Ostdeutschland wächst schneller als Westdeutschland. Die Beschäftigungsquote der Frauen und die Kita-Dichte sind besser. Vielleicht ist der Osten eher so etwas wie ein stärker werdender Bizeps als ein „Geschwür am Körper des Westens“, wie Sie schreiben.

All die Stärken, die Sie nennen, werden öffentlich doch gar nicht so dargestellt. Der Osten erscheint im öffentlichen Raum weiterhin als zurückgebliebenes Problemkind, als defizitär und demokratieunfähig – zuletzt erst wieder nach der Bundestagswahl.

Die AfD wurde mit 32 Prozent der Zweitstimmen in Ostdeutschland stärkste Partei. Ist sie auch eine „Erfindung des Westens“ im Sinne Ihrer Terminologie?

Sie ist die Gründung gut etablierter westdeutscher Professoren gewesen. Bis heute sind die Spitzen und Vordenker, bis auf Co-Chef Tino Chrupalla, alles Westdeutsche. Die Partei beutet die Unzufriedenheit und Abstiegsängste im Osten aus – die größten Erfolge feiert sie in den prekärsten Gegenden. Das ist in Gelsenkirchen, Pforzheim oder Kaiserslautern nicht anders. Auch ist der Stadt-Land-Unterschied, der im Osten viermal höher ist, ein entscheidender Faktor. Viele auf dem Land haben nicht das Gefühl, dass da Zukunft stattfindet.

2019 stimmte der Bundestag dagegen, Ost-Quoten in Bundesbehörden einzuführen. Soll man es damit noch mal versuchen?

Das hilft auf jeden Fall. Man braucht ein hartes politisches Instrument, um bestimmte Positionen zu besetzen. Eine Quote ist nie erfreulich, hält aber eine existierende Schieflage im Bewusstsein und durchbricht Netzwerke. Man könnte für die einzelnen Länder unterschiedliche Quoten festlegen und sie befristen.

Fünf Millionen Deutsche haben sowohl West- als auch Ost-Bezüge. Die Gesellschaft durchmischt sich.

Schön. Das spricht aber nicht gegen eine Quote. Wenn Sie eine Zeitung aufschlagen, wird schnell klar, was als westdeutsch und was als ostdeutsch gilt. Sollen sich die Juristen etwas einfallen lassen! Die Dinge müssen neu verhandelt werden.

„Der Osten, der keine Öffentlichkeit hat, muss sich endlich Öffentlichkeit erzwingen“, propagieren Sie. Was heißt das?

Das passiert inzwischen. Es ist doch super, dass der Deutsche Fußball-Bund das Trainingsquartier für seine Nationalmannschaften dauerhaft nach Blankenhain ins Weimarer Land verlegt hat. Mehr Ostdeutsche müssen sich über alle Kanäle einbringen, etwa über Plattformen wie „Wir sind der Osten“ oder „Dritte Generation Ost“. Auf einer Lesung bin ich gefragt worden: „Warum haben wir das mit uns machen lassen?“ Das muss sich jeder selbst fragen. Man muss auch mal die Hand heben, wenn es darum geht, Verantwortung zu übernehmen. Wirtschaftsentscheider berichten mir, ostdeutsche Bewerber seien oft zu zögerlich, zu scheu. Die müssen lernen: Man kann scheitern, aber falsch ist es, es nicht probiert zu haben.