Zehn Museen hat der japanische Meister-Architekt Fumihiko Maki in aller Welt gebaut. Seine jüngste Museums-Kreation erdachte er für die Traditionskurstadt Wiesbaden: ein leuchtend weißes Gebäude, das Einheimische rasch „Zuckerwürfel“ nannten. Es geht zurück auf Reinhard Ernst, 78, einen findigen Unternehmer, der hier für mehr als 80 Millionen Euro eine Heimstatt für seine Sammlung abstrakter Kunst bauen ließ.
An diesem Sonntag öffnet das Museum – ein Spektakel sowohl für Architektur als auch für Kunst und Kommune. Die werbetechnisch gut herausgestellte Adresse „Rue 1“ weist auf die prominente Adresse eingangs der prachtvollen Wilhelmstraße („La Rue“), wo früher das Hotel und Badehaus „Victoria“ stand. Maki selbst wird die Premiere nicht mehr erleben: Er verstarb am 6. Juni.
Gute drei Wochen vor Eröffnung des Museums Reinhard Ernst („rme“) treffen wir uns mit dem Initiator und Stifter zum Rundgang. Innen wird noch emsig gewerkelt, Schuhüberzieher sind Pflicht. Der Gründer, reich geworden durch den Verkauf zweier Maschinenbaufirmen, erklärt: „Unser Museum ist ja auch wieder ein kleines Unternehmen.“ Offen bekennt er, nun gehe es zu Beginn darum, mit Spektakulärem, mit Wow-Effekten, das Publikum zu gewinnen. So ließ er aus seiner persönlichen Oldtimer-Sammlung ein schnelles Auto in ein Werk des Glaskünstlers Karl-Martin Hartmann verbauen.
Leichtfüßig steigt Ernst drei Stockwerke voran. Er kennt jeden Winkel, jedes Detail. Ein Fan höchster Sinn für Qualität: „Ohne Großzügigkeit, Ästhetik und auch Perfektion kann ich nicht leben.“ Der gelernte Speditionskaufmann hat die fast vollendete Baustelle in jeder Hinsicht im Griff. Doch es mag auch seinem Perfektionsdrang geschuldet sein, dass das Museum nicht wie geplant 2022 öffnete.
Auf dem Weg zum offiziellen Eingang passieren wir das Restaurant, das direkt an der Wilhelmstrasse liegt und direkten Durchblick ins Museum bietet. Eine Terrasse lädt auch jene ein, die den puristischen Kubus-Bau noch als abweisend erleben. „Wir polarisieren mit unserem Gebäude“, weiß Reinhard Ernst, der seit 1999 in Wiesbaden lebt: „Das heißt aber, dass die meisten Menschen gar keine schöne Architektur erkennen“.
Im Erdgeschoss blickt man in einen verglasten Innenhof. Dort wirkt ein 60-jähriger japanischer Ahorn neben einem Werk von Eduardo Chillida wie eine filigrane Skulptur. Rechts daneben ist eine große fulminante Glasarbeit von Katharina Grosse zu sehen, ihre erste Glasarbeit überhaupt. Sie weist auf ein „Farblabor“, in dem Kinder und Jugendliche mit Farbe experimentieren können – mit Touchscreens und dank einer Software, die Bewegung in Farbe umsetzt. Ernst hat sie eigens in Wien entwickeln lassen. Wer sich so virtuell begeistern lässt, kann nebenan im kooperierenden Hessischen Landesmuseum mit richtiger Farbe und Leinwand weitermachen.
„Die Kreativität von Kindern wecken: Das ist der Hauptgrund, warum wir das überhaupt machen. Ich bin Unternehmer und ich weiß, wie wichtig es ist, dass man kreative Mitarbeiter hat“, gibt Ernst zu Protokoll. Morgens ist das Museum, bei freiem Eintritt, ausschließlich Schulklassen zugänglich.
Weiter geht es in die neun Ausstellungsräume, die sich weit und hell öffnen. Sie ermöglichen Ein- und Durchblicke und großzügige Sichtachsen. Bei der Innenausstattung traf der Museumsstifter selbst die Material-Entscheidungen: „Es gibt wenige Sachen, die hier normal sind“, gibt Ernst zu. Die hohen Wände tragen aufwändigen Akustik-Putz, der bei hoher Besucherdichte den Geräuschpegel senkt. In einigen Räumen findet sich traditioneller Stucco-Putz, gemacht aus Marmor-Mehl, das mit hohem Druck in sieben Arbeitsgängen aufgebracht und mit Bienenwachs versiegelt ist. Ergebnis: Es schimmert sanft wie Perlmutt.
Teppichboden gibt es nur im Veranstaltungssaal, der etwa für Konzerte, aber auch für Bankette vermietet wird. Feinstes Kammgarn aus der Schweiz wurde dort verlegt, in den Ausstellungsräumen finden sich Terrazzo- oder Holzböden. Und immer wieder überraschen die Lichtwirkungen, die von dem weißen Granit aus Vermont ausgehen.
Ein zentraler, 14 Meter hoher Raum des Gebäudes („Kathedrale“) scheint in der Luft zu hängen, tatsächlich ruht er lediglich auf der Glaswand des Museums-Shops. Das Gewicht des Raums wird durch 30 Meter lange Wandscheiben nach hinten gelenkt. „Wir wollten in keinem Raum Stützen oder Säulen“, erläutert Ernst: „Im nächsten Leben werde ich Architekt“.
Die Kunst verteilt sich luftig gehängt. Die Eröffnungsausstellung „Farbe ist alles!“ präsentiert ergiebig Ernsts Lieblinge, Helen Frankenthaler und Karl Otto Götz, aber zum Beispiel auch Tony Cragg, Frank Stella, Josef Albers, Adolph Gottlieb, Künstler der ZERO-Gruppe, jüngere Zeitgenossen wie Wolfgang Tillmans, sowie Kunst aus Asien, etwa von Shōzō Shimamoto, Tōkō Shinoda, Kazuo Shiraga, Inoue Yūichi und vielen anderen.
Großformate entfalten besondere Wucht und Leuchtkraft, wie etwa Ernst Wilhelm Nays vibrierendes Bild „Chromatisches Schreiben“. Auffallend dramatisch eine Nagelarbeit von Günther Uecker: Ein schrundiger Riss geht durch das Werk „Geteiltes Bild“ wie eine gewaltsam in den Boden gerammte Furche. Auch ein Bild des legendären Otto Ritschl findet sich, der bereits 1932 in Wiesbaden eine Ausstellung abstrakter Künstler unterstützt hatte.
Reinhard Ernst, der nach eigenen Angaben über fast tausend museumsreife Werke verfügt, fand selbst über die Abstraktion zur Kunst. Er ist überzeugt, dass seine Leidenschaft ansteckend sein könnte: „Die Abstraktion beginnt jetzt an Bedeutung zu gewinnen, weil die jungen Menschen sie ganz anders sehen, als ältere Generationen dies getan haben.“ Zu jedem Bild kann er eine Geschichte erzählen. Vor einem Adolph Gottlieb erinnert er sich: „Der hing bei uns zuhause, meine Frau hat ihn nur ungern ziehen lassen, aber: die besten Arbeiten kommen bei uns ins Museum!“ Der Kunst-Unternehmer will alle Freiheiten lassen: „Es gibt hier keinen vorgezeichneten Rundgang, ich will so wenig wie möglich Bevormundung. Und dann mein Appell: Lasst die Wände sauber, keine großen Lesetafeln, keine überbordende Didaktik…“
Später kommentiert Direktor Oliver Kornhoff: „Unser Museum ist natürlich ein weihevoller Ort der Kunst-Bewahrung, aber genauso auch ein Ort gesellschaftlichen Lebens.“ Alle zwei Jahre werde die Präsentation der Sammlung wechseln, hinzu kommt jeweils eine Sonderausstellung (zu Beginn über Architekt Maki). „Man kann schnell“, so Kornhoff, „zum Mausoleum werden, wenn an immer nur bestimmte Bilder aus der Sammlung zeigt.“
Der Herr der Bilder selbst sagt, er habe zunächst seine Sammlung Museen angedient, aber kein Angebot überzeugte ihn. Dann also ein eigenes Haus, das zum Denkmal werden könnte. Reinhard Ernst: „Ich versuche den Leuten beizubringen, dass im Leben alles auf einen zurückkommt. Wer Gutes getan hat, wird Gutes erleben.“ Sein Leben sei „voller Zufälle, die keine Zufälle sind“.
So also kam es zu seinem „Zuckerwürfel“, der in Wahrheit ein Zauberwürfel ist.