Meine gesammelten Werke: Wie ich die Lage gesehen habe.

Tagebuch einer Reise

Jakobs, 08.09.2025

Arigato, Japan

Tagebuch einer Reise

Jakobs, 08.09.2025

Prolog

 

Das Erstaunliche an einer Japan-Reise ist zuerst einmal, wie viele der Bekannten und Freunde schon einmal da waren oder schon bald dieses Ziel einplanen oder zumindest jemanden kennen, der das Land besucht hat.

So eingestimmt, amüsiert man sich ein wenig darüber, dass für den Lufthansa-Flug von München nach Tokio eine kulinarische Extra-Vorbestellung frisch aus deutschen Landen (oder weniger frisch) möglich ist: Fränkisches Schäufele oder Finkenwerder Scholle, föderal und regional schön ausgewuchtet. Dann doch lieber, als Einstimmung, die dargebotenen japanischen Speisen.

Über die Leistungseinschränkungen im Hightech-Land Germany sowie am Flughafen München („Franz Josef Strauß“) ist bereits so viel kommuniziert worden, dass man darüber eigentlich gar nicht mehr groß reden mag. Aber man hält es dann doch eher für einen Witz, dass direktes Boarden für einen 14-Stunden-Flug nicht möglich ist und die Passagierschar über viele Treppen zu einem Bus gelotst wird, der es in gut zehn Minuten zu dem Airbus ganz am Ende der Airport-Fläche schafft. „Aktuell zu wenig Parkraum“, erklärt der Bodensteward. Am neu gebauten Satellitenterminal sind im Vorbeifahren gleichwohl viele freie „Finger“ zu sehen. Vielleicht lag‘s ja an der Mittagszeit mit entsprechender Pausenregelung.

Die japanischen Gäste fächeln sich in der Hitze Luft und Mut zu.

 

 

 

 

 

Beton.

Erster Tag.

 

Tokio mit seinen 38 Millionen Einwohnern (Großraum) ist so oft als Moloch beschrieben worden, aber erst die Fahrt vom Flughafen in die Innenstadt zeigt, wie hier jeder Quadratmeter genutzt wird, wie sehr die Dimension Höhe eine eroberungsfähige Variable ist. Die Betonröhren der Straßen und Bahnen führen unmittelbar an Balkons der Wohnsilos vorbei, wo man keine Pflanzen sieht, nur ab und an Wäschespinnen. Ein altes Segelschiff, auf eine Rasenfläche platziert, soll an historische Ereignisse im 19. Jahrhundert erinnern, an die Revolution, das Ende der Shogune und der Isolation, der Beginn des dem Westen zugewandten Kaisertums. Und der rot-weiße Tokyo Tower, 1958 nach dem Vorbild des Pariser Eiffelturms erbaut, wirkt angesichts all der Wolkenkratzer wie ein Relikt aus irgendeiner Vorzeit, dabei ist der stählerne Fernsehturm mehr als 330 Meter hoch.

Vom Hotel im Bezirk Kioicho aus, Zimmer im 35. Stock, wirkt die Stadt wie eine Riesensammlung von Bauklötzen, was sind da schon New York oder Schanghai? Der erste kleine Ausflug führt nach Ginza, wo sich in einem ganzen Viertel ausbreitet, was in Städten wie München mehr oder weniger auf einer Straße (Maximilianstraße) konzentriert ist: eine Show der Luxusgeschäfte. Die Firma Bottega Veneta zum Beispiel hat die gesamte Hausfassade der Struktur ihres Handtaschendesigns nachempfunden. Die Straßen und Geschäfte sind überraschend leer, was vielleicht mit der Jahreszeit (Sommer), dem Tag (Dienstag) oder der schwachen Konjunktur zu tun hat. Man lernt, unter Mühen, dass die Restaurants schon mal im Souterrain oder im dritten Stock eines Gebäudekomplexes liegen.

Schon bei den Toiletten, sowohl im Restaurant als auch im Hotel, zeigt sich ein Trend zur Mega-Technisierung. Das, was man ordinärerweise als „Klobrille“ bezeichnet, ist standardmäßig angewärmt, Reinigung nach Aufstehen inklusive Spülung oft automatisch. Schon am Flughafen werden Passdaten, Fingerabdrücke und Augenmaße elektronisch erfasst, danach sind bei der Zolldeklaration noch einmal die Passdaten und ein zuvor zuhause erstellter QR-Code anzugeben, ehe man in einer langen Schlange vor dem Beamten landet, der noch einmal die Pässe prüft. Ein bisschen Hektik kommt auf, wenn sich jemand in dieser Datenwirtschaft nicht sofort auskennt und bei der Frage nach dem QR-Code zögert. Merkwürdig nur, dass beim Kauf der U-Bahn-Tickets der Automat partout nicht auf den Chip der Mastercard reagiert, sondern nur auf Münzen und Banknoten. Im Wagen selbst werden die kommenden Stationen eindrücklich vorher angezeigt, und auch bei den Türen erscheinen Zeichen, wo man nicht aussteigen soll. Dass man sich in Japan in der U-Bahn nicht unterhalten soll, ist eine Regel, die junge Paare nicht befolgen. Dafür, dass die japanische Gesellschaft so überaltert ist und Elon Musk dringend für Nippon Kindermachen empfiehlt, sehen wir am ersten Tag sehr viele junge Menschen.

 

 

Meister Musashi.

Zweiter Tag.

 

Wenn eine Stadt wie Tokio Ende des Zweiten Weltkriegs zu 90 Prozent zerstört wird, birgt das natürlich die Chance zu einem radikalen Neuanfang. Die Stadt ist geordnet. Alle Institutionen der Regierung und des Parlaments liegen in der Nähe des Kaiserpalastes, die Banken gleich daneben in einem Viertel. Ein paar alte Gebäude gibt es: das Parlament, die Literaturbibliothek gleich gegenüber dem Polizeipräsidium und vor allem der Bahnhof an der Westseite. Der im Krieg durch einen US-Luftangriff zerstörte Bau war nach 1945 erst einmal notdürftig in Stand gesetzt worden, in den 2000er-Jahren begann dann die originalgetreue Rekonstruktion der Schöpfung des japanischen Architekten Tatsuno Kingo von 1914. Der dreigeschossige Bahnhof erinnert mit seinen roten Ziegeln an den Zentralbahnhof von Amsterdam. Der Anfang des 20. Jahrhunderts an den Planungen als technischer Berater beteiligte deutsche Architekt Franz Baltzer hatte seinerzeit eine Art Tempeldach vorgeschlagen, was den Auftraggebern aber zu traditionell war. Man präferierte Moderneres im Neorenaissance-Stil. Ein anderer deutsche Architekt war dann bei der Neugestaltung an der Ostseite beteiligt – Helmut Jahn mit seiner postmodernen Glas-Stahl-Konstruktion. So ist diese Hauptsehenswürdigkeit Tokios stark mit Deutschland verbunden.

Der ganze Bahnhof ist insofern besonders bemerkenswert, weil hier ein Luxushotel untergebracht ist, die Bahnhofseingangshalle mit einer riesigen Kuppel ist integriert. Von einer Seite des Hotels geht man über einen Rundgang oben in der Kuppel in die andere Seite der gediegenen Übernachtungsstätte und blickt von oben auf die herumhastenden Zugpassagiere. Ziemlich abgefahren. Auch bemerkenswert: das „Botschafterzimmer“ im Hotel. Wer immer sein Land in Japan vertreten will, muss hier zwecks Akkreditierung seine Aufwartung machen. Dann geht es mit Kutsche oder Rolls-Royce auf den Boulevard, der direkt zum Kaiserpalast führt. Dann steht der Empfang durch die kaiserliche Hoheit an. An unserem Mittwochmorgen erleben wir tatsächlich, wie der gerade eingesetzte niederländische Botschafter mit seiner Frau in den Rolls-Royce steigt und davonfährt, eskortiert von einer Motorradstaffel. Was in einem Bahnhof alles passieren kann.

Zu einem Besuchstag für Tokio-Anfänger gehört natürlich der Genuss des Stadtpanoramas von der Hafenseite aus, wo vor der Terrasse eine kleine Replik der amerikanischen Freiheitsstatue steht. Oder auch die Fahrt zum Sinjio-Schrein, mit einer langen Ladenstraße zwischen zwei imposanten Toren davor (Talisman-Buden noch und noch, glückliche Zukunft soll hier möglich werden). Oder der Bummel durch Yanaka, ein Viertel frei von Wolkenkratzern und den üblichen Bürohaus-Scheußlichkeiten, kleine Holzhäuser, schmale Gassen. Retro. So sah es in Tokio vor 60 Jahren fast überall aus, bevor eine gigantische Immobilienhausse mit entsprechenden Preisen einsetzte. Unser Guide Mari berichtet, dass junge Leute wieder gerne in Gegenden wie Yanaka leben würden. Sie findet den Film „Perfect Days“ von Wim Wenders über einen Toilettenreiniger in Tokio so gut wie wir, fragt sich allerdings, in welchem ruhigen Bezirk das schöne Wohnhaus des Filmhelden wohl liegen könnte. So würde sie in dieser überfüllten Stadt auch gerne leben.

Ein (frühes) Highlight des Tages ist der Abstecher zum Markt von Tsukiji, wo von 1935 bis 2018 der berühmte Fischmarkt von Tokio zu finden war. Der überdachte Teil wurde abgerissen, die Abteilung ist umgezogen nach Toyosu ans Wasser, auf der Brachfläche entstehen neue Immobilienprojekte in einem völlig überhitzten Immobilienmarkt. Was aber blieb, ist der äußere Markt mit Läden für Fisch und Sushi, für Wagyu- und Kobe-Rind, für japanische Messer, für Tee und allerlei Japan-Kitsch. Man sucht sich einen Spieß mit rohem Fleisch aus und genießt nach wenigen Minuten „Medium Rare“.

Der Mann, der uns ein weiteres (abendliches) Highlight beschert, ist am Morgen auf dem Fischmarkt von Toyosu gewesen und hat all den Thunfisch, den Hummer, die Makrelen, die Seeigel undsoweiter eingekauft, den wir am Abend an einer Zypressenholzbar im Aman-Hotel genießen: bei Sushi-Meister Musashi. Der schlanke Mann zelebriert vor uns, reibt aus der einem Rettich ähnelnden Wasabiwurzel den Wasabi, presst elegant den Reis, schneidet kunstvoll den Fisch und reicht die Nigiri zum sofortigen Genuss über den Tresen rüber. Unser persönlicher Essbegleiter erklärt die Ingredienzien und schenkt den Sake in wundervolle kleine Kristallgläser ein. Eine gastronomische Lehrstunde. Reis und Sake produziert unser preisgekrönter Gastgeber übrigens selbst. Das Ganze heißt „Omakase“, übersetzt: ich überlasse alles Ihnen. Gottvertrauen für eine gewisse Summe Geld. Es war jeden Yen wert. Meister Mushasi verabschiedet uns vor der Tür mit vielen Verbeugungen. Wir verbeugen uns, dankbar, zurück.

 

 

35 Grad.

Dritter Tag.

 

Tag drei, sagt man, sei bei einer Reise immer am schwierigsten. Ergo ist heute Schwimm-, Leisuretag. Es ist einfach zu heiß da draußen. 35 Grad! Und das in einer durchbetonierten Stadt mit hoher Luftverschmutzung (Elektroautos sind eher selten). Zwangsläufig fragen wir uns in einem dieser Tower zu einem Geschäft durch, das Schirme gegen Sonnenstrahlung verkauft, also Sonnenschirme, die keine Sonnenschirme sind. Mit dem Accessoire und durchgeweichtem T-Shirt reihen wir uns ins Straßenbild ein. Man ist schon dankbar für ein Mini-Wäldchen, das zwischen zwei Wolkenkratzern Platz gefunden hat.

Überhaupt die Klimaerwärmung. In der „Japan Times“ stehen große Berichte über die Hitzewelle in Spanien und die vielen Toten dort. Vor einigen Wochen, in Deutschland, haben wir wiederum von der Hitzewelle in Japan gelesen, die Menschenleben kostete. Wie wird die Gesamtbilanz 2025 ausfallen? Für Juli 2025 hatte Tokio Hitzerekord gemeldet und mehr als 120 Tote, meist ältere Menschen. Viele schalteten aus Kostengründen ihre Klimaanlage nicht an, manche wehren sich mit gekühlten Halstüchern gegen die Bedrohung.

Unglaublich also, dass rund um den Kaiserpalast (fünf Kilometer Laufstrecke) um 14 Uhr tatsächlich Jogger sich übers Trottoir quälen. Wir bewegen uns langsam durch den für die Öffentlichkeit zugänglichen Teil der kaiserlichen Anlagen, dort, wo früher in der Edo-Zeit die Burg des mächtigen Shoguns stand, der mit seinen Samurai-Kriegern die wahre Macht im Staate war, ein steter Antipode gegen den in Kyoto weilenden Kaiser. Nach einem Brand im 17. Jahrhundert wurde die zerstörte Burg nicht mehr aufgebaut, wir sehen viele hohe Steinmauern, frühere Checkpointhäuschen, einen schönen Turm, ein Teehaus und den geschmackvoll angelegten kleinen Samurai-Garten. Zu den vom Guide („I am a Tokyo Boy“) gebotenen Geschichten gehört jene von dem schönen Hochzeitskleid, das den jeweiligen Bräuten immer nur Unglück brachte, sie verstarben nach dem Tragen rasch. Als ein Mönch das vermaledeite Utensil verbrennen wollte, sei es dann geschehen: die Flammen griffen auf die gesamte Burganlage über. O Boy.

Irgendwann erklärt uns der Guide auch, dass der Gingkobaum Symbol der Stadt sei (ein Gingkoblatt ist Tokios Wappen) und dass man die kleinen Früchte erst nach dem Kochen schält: sie würden dann wie Edamane schmecken. Davon überzeugen wir uns abends in einem kleinen, völlig unauffälligen Lokal im Stadtteil Roppongi, das für sein Kunstdreieck bekannt ist. Das erste Gericht besteht aus Reis, Forellenkaviar und… Gingko. Es folgen sieben vorzügliche Gänge, der freundliche Koch Ichikawa Tatsuya zaubert und wir wickeln den Fisch, mit einer Paste bestrichen, in Seetangpapier ein. Wir sitzen mit vier Einheimischen an der Bar, die Frau daneben erzählt von einem tollen Restaurant in Kyoto und von den Okinawa-Inseln als Badeziel (zwei Flugstunden von Osaka entfernt). Nach drei Stunden ein bewegter Abschied. Die eingeplante „Listening Bar“ fällt aus. Next time.

 

 

 

 

 

Daibutsu.

Vierter Tag.

 

Kamakura ist ein belebter Ferienort an der Küste mit vielen Restaurants, Cafés und Geschäften. Schriftsteller, die es geschafft haben, leben hier. Ein Blick auf die Landkarte aber zeigt, dass dieses Städtchen einmal etwas ganz Besonderes gewesen sein muss: Tempel an Tempel, Schrein an Schrein ist da vermerkt, eine Aneinanderkettung von Sehenswürdigkeiten. Tatsächlich ist dieses Kamakura vor etlichen Jahrhunderten die Metropole Japans gewesen, die mächtigste Stadt des Inselreichs. Der Shogun hatte seinen Lebensmittelpunkt dorthin verlegt. Wir beginnen mit dem „Bamboo Temple“ in einem Vorort, ein Kloster an einen Felsvorsprung gebaut. Ein dichter Bambuswald umgibt die Gebäude, Wege schlängeln sich durchs Gehölz und am Ende sitzt man bei einem Matcha-Getränk auf einer Bank und schaut in den Wald wie auf eine Fototapete.

Nach unserer Bambus-Inspiration beschauen wir einen elf Meter hohen Buddha aus dem 13. Jahrhundert, freistehend vor einer Baumreihe. Der Tempel, der ihn einst umgab, ist ein Opfer der Zeit geworden, die hier aus Erdbeben, Taifunen oder Tsunamis besteht. Weil sich gleich drei tektonische Platten unter dem Inselreich Japan reiben, ist Verlust und Katastrophe eine nationalstaatliche Konstante. Man kann gegen eine kleine Gebühr in den Riesenbuddha („Daibutsu“) hineingehen und begutachten, wie über die Jahrhunderte hinweg diese Gestalt an verschiedenen Stellen mit drei unterschiedlichen Techniken immer wieder repariert wurde. Risse ziehen sich durch diese fotogene Existenz. Was für viele Buddhisten das Größte sein soll, ist heutzutage eine Gesundheitsfrage: Ein Schild warnt vor Hitzschlag (es ist innen über 40 Grad heiß),nachmittags ist der Zutritt deswegen überhaupt generell untersagt. Die Jodo-Sekte unterhält die Anlage und tritt für die Befreiung aller Wesen ein. An diesem Tag kann man darunter – profanerweise – Befreiung von Durst verstehen.

Nächste Station ist der Kannon-Tempel (Hase-dera), eine einzige Lobpreisung der Göttin der Barmherzigkeit (Kannon), die als 9,18 Meter hohe vergoldete Holzstatue in Erscheinung tritt. In der rechten Hand: ein Metallstab. In der linken: eine Vase mit Lotusblume. Es gibt im ganzen Land keine größere Kannon-Statue aus Holz. Angeblich wurde sie 721 von einem Mönch geschnitzt. Der Baumstamm sei so groß gewesen, dass er zwei Statuen fertigen konnte, erzählt ein Cartoon im Tempel. Die eine blieb in Nara, die andere warf man in die See. Angespült wurde sie just bei Kamakura und zu Ehren der Göttin entstand hier der Tempel. Noch eine dieser schönen Geschichten. Auf der Tempelanlage (zwei Ebenen) sind auch lauter kleine Jizō-Statuen zu sehen, die von Eltern stammen, die Fehlgeburt, Abtreibung oder Totgeburt hinter sich haben. Über die Seelen der verlorenen Kinder wacht Jizō, die Schutzgöttin der Kinder. Nach unserer Tour essen wir fernab der Stadt an einer Straße in einem alten japanischen Haus Sobo, also Suppe mit Buchweizennudeln.

Nachmittags sind wir in Hakone in der Mitte Japans, ein Naherholungsort am Rande eines großen Nationalparks und berühmt für seine Onsen-Bäder, die sich aus heißen Quellen speisen. In unserem Hotel haben wir auf der Terrasse vor unserem Zimmer (ist eher eine Wohnung) einen Privat-Onsen, den wir sofort ausprobieren. 42 Grad! Das ist für Anfänger nicht länger als 10 bis 15 Minuten auszuhalten, Fortgeschrittene schaffen wohl 45 Minuten. Belohnt wird das Ganze mit sofortiger Entspannung. Später lesen wir über das Ritual, das einem Onsen-Bad vorausgehen soll: Man sitzt auf einem Schemel und seift sich gründlich ein. Die Haare bleiben trocken und werden beim Baden mit einem Handtuch bedeckt. Das nächste Mal richten wir uns danach, genießen auf jeden Fall den Blick auf die vielen schlanken Bäume vor unserem Haus und die Dauergeräusche der Zikaden, manchmal überlagert von Vogelgesang. Der Abend endet mit einem vorzüglichen japanischen Menü, es gibt unter anderem zartestes Rindfleisch, zubereitet im Shabushabu-Stil (Brühfondue). Den Kimono, mit dem wir auch zum Essen hätten gehen können, lassen wir allerdings in der Schublade (wie immer während der Reise).

 

 

Open Air.

Fünfter Tag.

 

Jeder Plan ist nur so lange gut, bis es eine bessere Idee gibt. Und so starten wir an diesem Tag mit dem fulminanten Hakone Open-Air Museum anstatt mit ihm – wie vorgesehen – am heißen Nachmittag zu enden, wenn erfahrungsgemäß der Zuspruch des Publikums größer ist. Man kennt solche Kunst-Freiluft-Darbietungen seit einigen Jahren aus Europa, namentlich aus Frankreich. Aber der japanische Medienkonzern Fuji Media Holding (früher Fuji-Sankei) war 1969 mit seiner Museumsidee weit voraus. Man wollte mit der Förderung zeitgenössischer Skulpturen eine neue Kraft in Japans Kultur bringen, formulierte der damalige Firmenchef.

Rund 120 Werke sind zu sehen, fast alles feinste Qualität, vor allem Henry Moore, Max Bill, Niki de Saint Phalle, Jean Arp, Matschinsky-Denninghoff. Die Wege schlängeln sich durch einen Park in den Höhen von Hakone (eine halbe Stunde Serpentinenfahrt), Kinderspielplätze und große Aufenthaltspavillons lockern das Ganze auf. Es gibt eine lange Reihe warmer Fußbäder. Und für Pablo Picasso wurde ein eigenes Gebäude errichtet, das Werke des Altmeisters zeigt, die Tochter Maya einst in Tokio gezeigt hatte. Die Fuji-Gruppe griff zu und sicherte sich das Erbe. Es handelt sich nicht um Spitzenwerke des Spaniers, die sind schon draufgegangen, um dem französischen Staat die Erbschaftssteuer zu zahlen. Meist sind es  mediokre Spätwerke, in irrsinniger Frequenz produziert, sodass die Händler einst von einem Handel damit absahen, um die Picasso-Preise nicht zu verderben. Aber, immerhin, das Genie ist zu erahnen.

Das gute Image, das sich das Fuji-Konglomerat mit solchen Museen erarbeitet hat, ist jedoch ramponiert, weil man vor kurzem einen sehr heftigen Me-too-Fall vertuschen wollte. Demnach hat der Starmoderator von Fuji TV schon 2023 eine junge Moderatorin brutal vergewaltigt und nachher eine halbe Million Euro gezahlt, um alles diskret zu halten. Erst als eine Boulevardzeitung Ende 2024 den Fall aufdeckte, musste der Mann, Mitglied einer bekannten Musik-Boygroup, zurücktreten und das Unternehmen eine Erklärung abgeben. Zwei Topmanager gaben auf. 75 Werbepartner haben sich zurückgezogen, ein US-Großaktionär hat Aufklärung verlangt. Operativ wird der Konzern 2025 sogar nach dem Skandal Verlust machen, was Fragen aufwirft, ob man sich eine Kulturförderung wie bisher leisten kann. Das Opfer selbst, das sich operieren lassen musste, hat inzwischen ein Buch veröffentlicht. Es problematisiert die eingeengte Rolle der Frau in der japanischen Gesellschaft und die noch immer dominierende Machokultur.

In Hakone besticht die Schönheit der Natur und wir fahren nach zweieinhalb Stunden Museum mit der Seilbahn hoch zum Vulkankrater Owakudani (1040 Meter), vor rund 3000 Jahren nach der letzten heftigen Eruption dieses Vulkangebiets entstanden. Die Kräfte in der Erde arbeiten ungebrochen, erst 2015 gab es wieder Erschütterungen, ein kleiner neuer Krater bildete sich. Wenige Tage nach unserem Besch veröffentlicht die japanische Regierung ein Video, das zeigt, wie bei einem Ausbruch des nahen Fudjschijama die Stadt Tokio erheblich betroffen wäre. Der Film sollte für Vorsorge appellieren, bewirkt aber Panik.

Dort, wo einst die Lava abging, sieht es aus wie in einem Minenfeld (oder in einem Bild von Andreas Gursky). Überall dampft, zischt es. Es ist dieses schweflige Vulkanwasser, das in den Hotels von Hakone für Onsenbäder genutzt wird. Ein Geo-Museum hier oben auf dem Gipfel klärt über die Vulkan-Vergangenheit und die Vulkan-Gegenwart auf. Ein faszinierender, aber auch leicht unheimlicher Ort. Pflicht ist es hier, Kurotamago zu essen, schwarze Eier. Sie werden bei 80 Grad in einer der hier reichlich vorhandenen Thermalquellen gekocht, was die Eierschalen einschwärzt. Abschließend werden die Eier bei 100 Grad noch einmal 15 Minuten gegart. Der Verzehr eines solchen Eies verlängert das Leben angeblich um sieben Jahre, was bei all den Hypeberichten über Longevity bisher merkwürdigerweise noch nie zur Sprache kam. Kurotamago gibt es selbstverständlich nur in Owakudani.

Den Rückweg ins Hotel führt uns mit einer anderen Seilbahn hinunter zum Ashi-See, einem sieben Kilometer langen Kratersee. Überall Vulkanerhebungen, auf denen eng aneinanderstehend Bäume wachsen. Wir nehmen eine der Fähren, die wie Piratenschiffe gestaltet sind. Den Fudschijama mit seinen 3776 Metern sehen wir leider nicht, sondern nur Wolken. Ein Glück, dass wir beim Anflug auf Tokio diesen Solitär, einen stattlichen Kegel, ausgiebig bewundern konnten. Mari (ein letzter Kaffee, ein letzter Apfelkuchen) preist noch die wenig frequentierte Izu-Halbinsel mit ihren Bergen, Onsenbädern und Stränden.

 

 

 

 

 

 

 

Gran Class.

Sechster Tag.

 

Ein reiner Transfertag. Vom Bahnhof bei Hakone mit Shinkansen östlich nach Tokio, dann westlich nach Kanazawa. 75 Prozent der Fläche Japans sind Bergland, da sind direkte Verbindungen oft nicht möglich. Dass unsere Begleitung die Tickets unter den Auto-Sitz fallen lässt, wo sie in einer längeren Operation gerettet werden müssen, verschweigen wir einfach. Aber in Tokio war die Begleiterin sehr hilfreich. Zum Beispiel muss man beide Tickets in den Schlitz am Eingang stecken, nur eines kommt wieder hinaus.

Das Klischee, alle Züge sind in Japan pünktlich, stimmt. (Entschuldigung bei fünf Minuten Verspätung.) Auffällig, dass die Nummern der Wagen am Bahnsteig ausgewiesen sind, und die Tür des entsprechenden einfahrenden Waggons dort, genau an der richtigen Stelle, tatsächlich öffnet. Sofort denkt man an das ICE-Chaos auf den Bahnsteigen. Die japanischen Wagen selbst sind breiter als in Deutschland, alles sehr einheitlich und offen, nichts mit Tischchen und Abteilen, ein Komfort wie im Flugzeug erster Klasse. Die Sitze sind sehr einfach zu verstellen, bis hin zu Liegepositionen. Die Luxuskategorie Gran Class von Tokio nach Kanazawa im Hatakuta-Angebot ist ein besonderes Erlebnis, Atmosphäre wie im Sonderwagen für Staatsgäste. Gut, das Zugfahren ist insgesamt teuer, aber die Qualität überzeugend. Die Privatisierung der Japan Rail (JR) 1987 scheint sich gelohnt zu haben, ein halbes Dutzend JR-Linien kämpfen um Kunden. Ihr Vorteil ist: Das Land hat früh in ein Hochgeschwindigkeitsnetz investiert.

So klein ist das schöne, von Weltkriegsbomben verschonte Kanazawa nicht, wie wir am Abend feststellen. Der Plan, ausgedehnt spazieren zu gehen, zerschlägt sich. Mit dem Taxi brauchen wir von unserem Hotel am Bahnhof zum „Tamura“, einem Izakaya gegenüber dem alten Geisha-Viertel, doch eine halbe Stunde. Es legt am „Lady River“ (es gibt auch einen Gentleman River“.) Das Lokal selbst, eine große Überraschung. Die als einzigartig gepriesenen Crab Croquettes eine Sensation, danach liefert das kleine Wagyu-Menü mehr, als man erwarten durfte. Am Ende sind wir allein an der Bar, der Wirt des „Tamura“ (Markenzeichen weiße Brille) zeigt Zaubertricks und erzählt, er habe die Menükarte auch auf Deutsch (es gibt sie in 15 Sprachen). Wir kommen auch so zurecht und vertreiben uns die 20 Minuten Wartezeit auf das Taxi mit Sake. Der Blick fällt dabei auf Dutzende Bilder an der Wand, die Mister-weiße-Brille zusammen mit Celebrities zeigen. Was für ein Abend! Seine hübsche Frau und Mister Tamura winken uns, als wir im Taxi davonfahren. Als Gedächtnistraining rufen wir uns im Fond all unsere bisherigen Hotelzimmernummern in Japan in Erinnerung: 3517-409-307-815.

 

 

Wolken vermessen.

Siebter Tag.

 

Kanasawa ist Maeda-Stadt, nichts ist erklärbar ohne den mächtigen Clan der Maeda, die hier jahrhundertelang herrschten. Wir hören von Maki, die uns an diesem Tag begleitet, dass der Bezirksherrscher die Nummer zwei im Land war, knapp hinter dem Shogun von Edo angesiedelt, sodass man in der permanenten Paranoia lebte, angegriffen zu werden. Die Burg war deshalb besonders schwierig einzunehmen, wovon schwere, dicke Mauern zeugen, die auf zwei Ebenen terrassiert sind. Das ist noch original, so wie das Tor mit den Schießscharten. Der Rest der Burg ist rekonstruiert wie das Berliner Schloss, eine vermeidbare Geschichtsklitterung. Wir halten uns lieber länger im Garten Kenroku-en auf, den die Maedas neben ihrer Burg vom 17. Jahrhundert anlegten und sukzessive über 170 Jahre erweiterten. Schildkröte und Kranich spielen eine große Rolle, man sieht es an Pflanzen und Felsen, die so ähnlich aussehen, und an einer Schildkröteninsel. Der älteste Springbrunnen des Landes ist hier zu finden, gespeist aus dem Teichwasser, es gibt natürlich auch einen Wasserfall, dessen Sound dem herrschenden Maeda erst gefiel, als sein Obergärtner mehr Steine platzierte. Heute arbeiten hier in der Touristenattraktion sechs Gärtner, die der Staat ordentlich bezahlt. Ein wundervoller Platz zum Flanieren und Sinnieren.

Nicht weit entfernt liegt das 21st Century Museum of Contemporary Art, das an diesen Montag leider geschlossen ist. Dennoch ist der äußere Teil des architektonisch so reizvollen Gebäudes begehbar, etwa der James-Turrell-Raum, in dem man von einer Bank aus durch ein offenes großes Rechteck in der Decke in den Himmel schaut. Man sieht: ein Gemälde, das sich bewegt. Oder auch, wenn man so will, eine Wolkenvermesserei, so wie es eine Skulptur auf dem Dach („Der Mann, der die Wolken ausmisst“) nahelegt. Kinder haben unter künstlerischer Anleitung ein Mural hinterlassen, das an die Opfer eines Erdbebens in der Region Anfang 2024 erinnert. Das Museum wurde von einem lange Zeit regierenden Bürgermeister gegen den anfänglichen Willen der Mehrheit der Bevölkerung durchgesetzt – heute gilt der Kontrast zwischen den hellen Kubusformen und dem Rustikalen der Burgmauern als ideal. Auch das nahe Suzuki-Architekturmuseum ist an diesem Tag geschlossen, besticht gleichwohl schon von außen durch seine klaren, modernen Formen, denen zugleich traditionelle Eleganz zu Eigen ist.

Weil sie hier in Kanazawa paranoid waren, lebten viele Samurai-Krieger mit ihren Familien in der Stadt, die sie im Ernstfall verteidigen mussten (den es nie gab). Sie konnten sich aber in vielen anderen Schlachten bewähren. Das alte Viertel der mittelwichtigen Samurai – Nagamachi – eignet sich hervorragend zu einem Spaziergang. Ein künstlicher Bach fließt am Rande. Es gibt auch ein Museum in einem Haus mit einem bezaubernden Garten („Nomura“), das ein reicher Kaufmann einst aus der Hälfte einer anderen Samurai-Villa errichten ließ – nach dem Ende des Shogunats. Der Mann hatte den Maedas viel Geld geliehen, das er nie zurückbekam.

Nach dem Besuch des Fischmarkts Omichō und einem Ramen-Lunch verbringen wir den Nachmittag in Higasi-Chaya, dem größten Teehaus-Viertel, also Geishaviertel. Schlendern durch enge Gassen mit einstöckigen Holzhäusern, Shops überall, auch mit schönem Antiquarischen. Mehr zur alten Geisha-Kultur ist in einem Teehaus-Museum zu erfahren: Man sieht ihre Arbeitsflächen, die Bühnen für Musik- und Tanzdarbietungen und die Räume für anschließende Partys (maximal 90 Minuten). Für den Frohsinn zahlte die nur in geringer Anzahl zugelassene Klientel aus der Geschäfts- und Politikwelt zweimal im Jahr viel Geld. Sex war nicht vorgesehen. Die Geishas wurden aus ihren Familien herausgekauft und mussten erst einmal viele Jahre ihre Schuld abarbeiten. Ein Zaun trennte das Viertel vom Rest der Stadt, mit der Heirat war es jedoch vorbei mit dem Job. Heute noch können Geishas für Events gebucht werden, es sind kultivierte Gesellschafterinnen für geschlossene Machtzirkel, zu denen prinzipiell nun auch Frauen Zugang haben.

Der Rundgang endet in einem Blattgold-Verkaufsladen mit Workshop-Charakter, wo wir Essstäbchen nach eigens von uns erstellten Mustern vergolden lassen. Sie sind stolz in der Region, immer dünnere Goldplättchen erstellen zu können – man schmückt damit auch das Eis oder den Champagner bei einer Einladung. Auch stammt das gesamte Gold des Goldenen Pavillons in Kyoto aus Kanasawa. Wir gehen mit goldenen Chopsticks, aber ohne Goldpulver, mit dem wir die Pizza oder das Steak à la Ribéry hätten verschönern können.

Und just jenes Goldpulver streute der Sternekoch abends über unser Dessert im „Kanazawa Setsuri“ – nach zwei Stunden Gaumenglück. Mit Curry (Fleisch), Krabben, frittiertem Frisch, angeflämmtem Rindfleischsushi undsoweiter. Der Koch kam vor einigen Jahren aus Tokio in seine Heimatstadt zurück, Frau und Tochter bedienen (erklärt die Speisen dank KI auf dem Handy auf Deutsch). Auf dem großen Bildschirm laufen in einer Slideshow Best-of-Bilder aus Kanasawa. Sie erinnern uns daran, wo wir in den vergangenen Stunden waren. Wir rücken mit unseren benutzten Essstäbchen und einem Geschenk – festen Sojastücken – ab. Mehrmals findet die neugelernte Vokabel „Arigato gozaimass“ (herzlichen Dank) Anwendung.

 

 

All that Jazz.

Achter Tag.

 

Reiner Transfertag. In allen Bahnhöfen fällt wieder absolute Sauberkeit auf. Auf dem Bahnsteig in Kanazawa wird gewischelt, obwohl es nichts zu wischeln gibt. Was auch auffällt: Japaner arbeiten für Japaner. Die Migration liegt bei drei Prozent. Es sind nicht Ausländer, die die „Dirty Jobs“ machen. Überhaupt die Dienstleistungsgesellschaft: Überall kümmern sich Menschen um die Abwicklung von Kaufhandlungen oder geben Hilfestellungen. Lächelnd. An diesem Tag fährt der Zug tatsächlich mit einer Minute Verspätung in Kanazawa ab und erreicht die Zwischenstation Tsuruga vier Minuten hinter der angegebenen Zeit. Wir erhöhen das Schritttempo, um den „Thunderbird“ nach Kyoto zu bekommen (acht Minuten bleiben uns).

In der alten Kaiserstadt Japans setzen wir erst einmal auf „Ankommen“. Entspannung vor dem Besuchsprogramm in einer Stadt mit 1200 Jahren Geschichte und 17 Stätten, die zum Weltkulturerbe erklärt worden sind. Das heißt Schwimmen, Sauna, Massage im Dusit Thani Hotel, das japanische und thailändische Kultur mischt. Wir essen à la carte und hängen noch in der atmosphärisch starken Hotelbar ab, sie ist über den wunderbaren Garten zu erreichen. Die an der Außenfassade des Hotels zu sehenden Holzpaneelen finden sich auch hier, stilvoll, gebogen, alles wie in einer mit indirektem Licht gut ausgeleuchteten Höhle. Im Regal stehen Jazzplatten, auf dem Plattenspieler liegt „What‘s Going On“ von Marvin Gaye. Natürlich ist Hardbop, Bebop und Cool Jazz zu hören, das kennen wir schon aus anderen Bars und Lokalen.

Jazz hat in Japan starke Wurzeln, schon in den 1920er-Jahren brachten Filipinos die Musik aus ihrer Heimat mit, die damals amerikanisch war. Und erst recht verankerte sich der Jazz nach 1945 während der Besatzungsjahre der US-Armee. Der endgültige Durchbruch kam 1961 mit der Tournee von Art Blakey und seinen Messengers (1964 wiederholt). Legendär auch die Tour von Dave Brubeck zu jener Zeit, der seiner Seelenlage die Platte „Jazz Impressions from Japan“ abtrotzte, die außer dem „Koto Song“ jedoch nicht die Wertschätzung fand, die sie verdient hat. Es swingt auch hier in der alten Hauptstadt mit ihren vielen „Jazz Kissa“, ihren Jazz Cafés.

 

 

 

Tempel.

Neunter Tag.

 

Neun Uhr Treffpunkt mit Mayumi. Allgemeine Erleichterung, dass es für den Affenpark ohnehin zu heiß ist. Motto in der Affenhitze: lieber einen Tempel mehr. Es werden am Ende des Tages fünf.

Wie beginnen mit Tenryū-ji im Westen der Stadt, schön außerhalb im Grünen von Arashiyama gelegen. Der alte Tempel ist abgebrannt, der wunderbare Garten – ein Zenmeister legte ihn an – hat sich erhalten, mit den Steinen im großen Teich, die Brücken oder einen Wasserfall symbolisieren. Irgendwann sind wir bei unseren Schlendereien im berühmten Bambuswald angekommen. Da so früh am Morgen die Zahl der Besucher übersichtlich ist, können wir ein paar akzeptable Fotos machen. Auf dem Weg zurück zum Fluss ein Gedenkstein für Zhou Enlai mit einem Gedicht des chinesischen Kommunistenführers. Er hatte Japanisch in Kyoto studiert. Nächste Station: Ryōan-ji mit seinem Trockengarten: 15 Steine, in fünf Einheiten aufgeteilt, die Inseln im Meer (gefurchter Boden mit kleinen Kieselsteinen) darstellen. Drumherum schöne Baumpflanzungen, die wie große Altarkerzenhalter aussehen. Mittag in einem netten Café (zu hören Musik à la „One Note Samba“), dann folgt die touristische Großattraktion, Kinkaku-ji, der Goldene Pavillon, 1397 vom damaligen Shogun als Alterssitz erbaut. Nachdem ein verwirrter Mönch den Prachtbau 1950 abgefackelt hatte, musste er fünf Jahre später rekonstruiert werden, weshalb das Ganze als Weltkulturerbe, aber nicht als Nationalheiligtum firmiert. Eindrucksvoll der See mit seinen Felsinseln vor dem Goldpavillon, und wie es der Zufall so will, schlängelt sich eine Schlange vor uns über den Weg ins Gebüsch, wo ganz in der Nähe das Steindenkmal „Weiße Schlange“ steht.

Die Rundtour um den Pavillon lockt Busgesellschaft auf Busgesellschaft. Wie schön ist es danach auf dem Myōshin-ji-Gelände mit 47 Einzeltempeln. Geöffnet hat der Zen-Buddhismus-Tempel Taizo-in mit einem Steingarten aus dem 16. Jahrhundert (Motonobu Kano), dem man mit Kopfhörermusik betrachten kann. Es gibt noch einen Yin- und Yang-Garten sowie einen Großteil der Anlage, der einer Bergflusslandschaft nachempfunden ist. Taizo-in hat die Ruhe, die auch die anderen Gärten verdient hätten.

Abschluss des Tages: Wir wechseln vom Westen und Norden der Stadt in den Osten zum Jubusan Kodaiji-Tempel am Fuß eines heiligen Berges. Er wurde von der Witwe eines verstorbenen Shoguns prunkvoll angelegt (Anfang 17. Jahrhundert). Beide werden in einem Mausoleum geehrt, herrliche chinesische Zeichnungen in der Kaisando-Halle und allerlei Informationen zu Gespenstern und Dämonen, die in der Zwischenwelt zwischen Diesseits und Jenseits ihr Unwesen treiben. Es geht so steil bergauf, dass wir am Ende froh sind, auf dem Parkplatz ins gekühlte Auto des Chauffeurs steigen zu können. Er dreht mit uns Extrarunden durchs Geishaviertel Gion.

Abends ins Yukari, ein Restaurant im Norden in der Nähe der Tempel, die wir tagsüber gesehen haben. Der Tipp kam von Yuki, die mit unseren Freunden einen Monat später bei der nächsten Japan-Reise dorthin gehen wird. Zu spät stellt sich heraus, dass es Omakase gibt, aber wir arbeiten uns in Gemeinschaftsarbeit durch einzelne Gänge: Sashimi, Fischeier, Salat, überbackene Krabben, marinierte Entenbrust, gegrilltes Hähnchen, gegrillter Tofu mit Sesam, Reis. Sind auch fast zehn Gänge, dazu Sake aus der Sakestadt Kyoto mit ihren 40 Brauereien. Es ist viel los im Yukari, wir sind die einzigen Ausländer, der Wirt entschuldigt sich später auf Englisch per Handy, dass es manchmal so lange gedauert hat. Who cares an einem solchen Ort!

Dass soziale Regeln in Japan nicht nur aufgestellt, sondern auch überwacht werden, bemerken wir ziemlich am Ende unseres Besuchs im Yukari. Es passiert etwas. Eine junge Frau holt ihr geordertes Take-away-Gericht ab und entsorgt dabei lässig eine leere Plastikflasche auf dem großen Tisch, an dem noch kurz vorher eine große Familie gespeist hatte. Da steht an der Bar ein älterer, kräftiger Mann auf und fährt die Japanerin in großer Lautstärke an, woraufhin sich die Gescholtene flugs kleinlaut mit ihrem Plastikmüll verzieht. Vielleicht ein Alltagskonflikt, vielleicht auch ein Generationenkonflikt. Das Japan der Alten ist ein anderes Land als das Japan der Jungen.

 

 

Fuchs und Reh.

Zehnter Tag.

 

Am Anfang war nicht das Wort, am Anfang war das Bild. Wer immer sich mit Japan beschäftigt und ein Buch über das so inspirierende Land liest, wird die vielen roten Torpfosten (über 1000) von Fushimi kennen, zwischen denen Menschen einen Berg hochgehen. Viele von den Toren sind gespendet, von reichen Gläubigen oder Firmen. Über diesen 711 gegründeten Fushimi-Inari-Schrein wacht eine Fuchsgottheit, einst zuständig für Landwirtschaft, nun auch generell für gute Geschäfte. Überall sieht deshalb man lustige Fuchs-Statuen, mit Bändern oder beschrifteten Tüchern dekoriert. Wir stoppen auf der Hälfte der Bergtour. Am Hauptschrein zelebriert ein Priester die Messe für eine Japanerin und wir lernen, dass man sich vor Shinto-Göttern zweimal verbeugt, unterbrochen durch zweimaliges Klatschen. Weil es so schön kitschig ist, kaufen wir eine Fuchsmütze mit beweglichen Ohren fürs Weihnachtswichteln.

Rund eine Stunde fahren wir nach Nara, zwischen 710 und 784 die erste dauerhafte Hauptstadt Japans. Sie wird von zwei Dingen dominiert: 1200 frei umherlaufenden Rehen, die nicht mehr wie früher heilig sind (sondern vielleicht nur selig) sowie dem früheren Kaiserpalast. Die Rehe und Hirsche erfreuen sich bei den Handy-Fotografen aus allen Ländern größter Beliebtheit, mancher füttert sie mit Crackern, woraufhin das große Rudelschnappen beginnt, das die Po-Backen nicht auslässt. Am Palast ist alles eindrucksvoll: das große Tor mit den riesigen, acht Meter großen Torwächtern, die langen Zugänge, die gebogenen Seitenanlagen und natürlich in der Mitte die große Buddhahalle des Tôdai-ji, des großen östlichen Tempels. Er wurde vom Kaiser Shômu im achten Jahrhundert erbaut, brannte zweimal ab und wurde zuletzt in der Edo-Zeit wiederhergestellt. Mit 50 Metern Höhe und 57 Metern Länge ist es eines der größten Holzgebäude der Welt. Es sollte die Macht und den Glanz von Shômu ausdrücken, so ist auch die Funktion des 15 Meter hohen Buddhas, von dem jedoch nur der Lotussockel und die Beine aus dem Original-Bronze sind. Drumherum sind wie in einem Museum Götter und Torwächter aus Holz zu sehen sowie antike Sakefässer – der Reiswein war eine beliebte Gabe an die Götter und Priester. Begeistert steigen wir hinauf zur Halle Sangatsudô, 746 erbaut, alles Original. Von der Terrasse schauen wir mit unseren verschwitzten Textilien Ruhe suchend hinunter auf Nara. Anschließend Nudelsuppe im Café.

Den Nachmittag verbringen wir zunächst im alten Kaufmannsviertel von Nara. Zwei alte Holzhäuser können wir uns anschauen, eines davon sehr schmal gehalten (nach der Breite eines Hauses wurde die Grundsteuer erhoben), dafür aber sehr tief mit einem kleinen schönen Garten. Tatami-Matten überall und Alkoven, Einlassungen in den Wänden für Bilder, Pflanzen, kleine Statuen. Zum Abschluss der Tour zeigt uns Mayumi noch einen ihrer zwei Lieblingstempel, das Nationalheiligtum Sanjūsangen, eine riesige 120 Meter lange Holzhalle der 33 Lücken (zwischen den Säulen), vor allem aber der 1000 Kannon-Statuen, nebeneinander von oben nach unten in Reihen platziert wie eine göttliche Armee der buddhistischen Gottheit, die unten wiederum am Boden von 28 Torwächtern (sehr unterschiedlich gestaltet, je nach Funktion) beschützt werden. Am Rande ein eindrucksvoller Wind God (rechts) und ein Thunder God ((links). In der Mitte eine gigantische Kannon-Gestalt, wie all die anderen aus Zypressenholz gemacht. Weil auch diese Halle einmal abgebrannt ist, sind nur 124 der Figuren im Original (12. Jahrhundert) erhalten. Aber was heißt das schon, der Renovierung war im 13. Jahrhundert. Traditionell wetteiferten die Samurai neben der Halle im Bogenschießen, eine Tradition, die heute von Japanerinnen im Kimono gepflegt wird, wie Bilder nahelegen.

Den Abend lassen wir in Pontochō ausklingen, der Drosselgasse von Kyoto, wenn man es bösartig ausdrücken will. Aber es ist beileibe nicht so nervend-rummelig, auch wenn sich in dem Sträßchen parallel zum Fluss Bar an Bar, Restaurant an Restaurant findet. Unseres ist ein alter Familienbetrieb, schwer zu finden, und in der ersten Etage bekommen wir unseren Raum mit zwei Niedrigschemeln und einem runden roten Lacktisch, auf dem das Gerät für Shabushabu steht, für japanisches Fleischfondue. Die nächsten zwei Stunden schwenken wir edles Rindfleisch (eine Minute lang, nicht länger) durch heißes Dashi, ebenso garen Nudeln und Spitzkohl, den wir in Soyasauce mit viel Rettich legen. Zum Genuss trägt die Flasche Chablis bei. Zum Absacker ein paar Schritte weiter ins „Hello Dolly“, in ein Jazz Café. Wir hören eine Platte von Kenny Burrell und trinken japanischen Whisky. Wir schlafen am nächsten Morgen bis 8.15 Uhr.

 

 

Familiengeschäft.

Elfter Tag.

 

Einen Tag zur freien Verfügung in Kyoto zu haben, das bedeutet, zwischendurch in keinen kühlen Wagen steigen zu können, sondern bei 36 Grad durch eine dunstige Stadt zu laufen, mit einem T-Shirt, das nach einer halben Stunde durchgeschwitzt ist. Wir konzentrieren uns auf den Kiyomizu-Tempel, was übersetzt „reines Wasser“ heißt. Der wunderschöne rote Tempel (798) liegt südöstlich weit oben im Hügel, hier entspringt eine Quelle, und von dem Wasser kann man an vielen Stellen – im Dienst eines langen Lebens – trinken. Mit dem Pulk gehen wir die steile Fußgängergasse hoch zum Haupttor und dann zur Haupthalle (der verehrte Kannon ist erst 2033 wieder zu sehen). Mit den anderen Besuchern zieht es uns zur berühmten Terrasse, von wo man über ganz Kyōto schaut. Amerikaner in Kimonos posieren vor der Landschaft, aber am unangenehmsten sind hier die vielen Touristengruppen aus China: laut, ichbezogen, rücksichtslos.

Anschließend gehen wir einen sanft herabführenden Weg hinunter ins Gion-Viertel, dem Geisha-Viertel. Viele Teestuben mit Teezeremonie, Souvenirläden, Keramikläden, Kinomo-Verkaufsstellen. Auch sieht man oft das Schild „Kinomo Rentals“, man kann die Landestracht auch für ein paar Stunden leihen, damit das Foto besser wird oder sagen wir: vielleicht japanisches Lebensgefühl entsteht, weg von „Lost in Translation“ (der Film aus 2004 spielt zumeist in Tokio, aber auch in Kyoto). Beim Münchner Oktoberfest kann man sich schließlich auch für ein paar Stunden Dirndl und Lederhose leihen. Zu Mittag essen wir auf der privaten Hauptstraße im Geisha-Viertel in einer chic designten Bar, die auf Oyakodon spezialisiert ist, ein klassisches Reisschüsselgericht mit Hähnchen und Ei, das in einer Dashi-Brühe vorher zubereitet wird. Wir essen aus dicken heißen Keramikschüsseln, die die Hitze halten, und schlagen im zweiten Teil der Mahlzeit ein rohes Ei auf, das wir untermischen. Auf das Geisha-Museum verzichten wir genauso wie auf den Silbernen Pavillon und den Philosophenweg und nutzen lieber noch einmal die Infrastruktur unseres so schönen Hotels.

Abends noch einmal Omakase, diesmal im „Tozentei“, ganz in der Nähe des Myôshinjii-Tempels. Es handelt sich um einen Familienbetrieb: die Frau ist eine Art Chief Communications Officer, spricht am besten Englisch und erklärt die Speisen mit einem fotoreichen Buch. Von daher wissen wir, dass das Sashimi aus Forelle (See bei Kyoto), Seeigel, Seezunge und Tintenfisch besteht. Der Vater ist Chairman und President und für die besonderen Speisen sowie Sake und Wein zuständig, der Sohn wiederum, mit einem Stern dekoriert, kümmert sich als CEO und Chief Operations Office sogar um alle Schnipselarbeiten.

Unser Acht-Gänge-Menü ist originell, hochwertig und überraschend, etwa Tempura aus gekochten Erdnüssen und Maiskörner. Hervorragend ein voluminöses Sushi, Soba mit geriebenen Fischroggen und das Rindfleisch. Das Sakegefäss macht Musik beim Ausschütten, jedenfalls solange es einigermaßen voll ist. Nach knapp einer Stunde tritt der dritte Gast an diesem Abend ein, ein 52-jähriger Mann aus Guatemala, der sehr gut Deutsch spricht, weil er als Austauschschüler mit 20 für ein Jahr in St. Georgen (Schwarzwald) war. 2024 weilte er mit der Familie am Bodensee, um die Gastfamilie von damals noch einmal zu treffen. Ins „Tozentei“ ist der Mittelamerikaner mit Schwarzwald-Erfahrung über den Guide Michelin gestoßen (wir auf Empfehlung von Sabine/Matthias). Unsere Kochfamilie berichtet stolz, schon 16 Jahre den Michelin-Stern verteidigt zu haben. Die weibliche CCO wünscht uns eine gute Reise und gute Erinnerungen – die wir an diesen Abend sicherlich haben. Zum Abschied von Kyoto zwei Whisky Sour (pro Person) in der fashionablen Hotelbar, wir bekommen getrüffelte Nüsse spendiert. Herrlicher Platz!

 

 

Kôbô Daishi.

Zwölfter Tag.

 

Es geht in die Höhe, auf rund 800 Meter, nach Koyasan, einem alten Pilgerort. Wir werden an diesem Tag viele junge Männer und Frauen in weißen Gewändern mit japanischen Schriftzeichen sehen, die beten und dabei mantraartig vor sich hinmurmeln. In den zweieinhalb Stunden Fahrt von Kyoto rauf in die Hochebene fällt spontan wieder auf, dass im Rückspiegel des Autos nicht das Originalbild zu sehen ist, sondern das gestochen scharfe Bild, das eine Kamera aufnimmt. 80 Prozent der Autos sind damit ausgestattet. Bei Auffahrunfällen oder dergleichen ist die Beweislage klar, alles wird aufgezeichnet – weshalb die 20 Prozent, die auf diesen Kamerarückspiegel verzichten, von der Versicherung eine wesentlich höhere Prämie aufgebrummt bekommen. So kann ein „Nudge“ auch aussehen. Übrigens müssen sich Senioren über 75 und Fahranfänger, die 18 sind, bestimmte Signets hinten ans Auto kleben, als Information und Warnung für alle.  Auf dem Weg nach Koyasan sehen wir Schilder, die die Autos vor Tanuki warnen – Waschbärhunde japanischer Art, die die Straße kreuzen könnten.

Den Start der örtlichen Pilgerwege markiert ein großes rote Tor, wie immer mit zwei Torwächtern versehen, der eine mit offenem, der andere mit geschlossenem Mund, was Anfang und Ende symbolisiert. Ein paar hundert Meter weiter der heiligste Ort auf dem heiligen Berg, dort, wo sich Kobo Daishi alias Kūkai vor 1200 Jahren nach einer längeren China-Reise niederließ, um seinen Auftrag zu erfüllen, den Buddhismus im Land zu verbreiten. Es entstand zwischen Kiefernbäumen das erste Kloster, woraus bis zum Mittelalter eine Riesenstadt mit 1500 Tempeln und Zehntausenden Einwohnern erwuchs. Heute leben im Ort 2500 Menschen, darunter 700 bis 800 Priester. „Garan“ heißt der Bezirk, wo Kūkai einst wirkte, wir sehen zwei Haupthallen, davon eine mit Sonnenbuddha, sowie etliche Nebengebäude. Alles Wiederaufbauten, es brannte mehrmals, wie üblich. Um 13 Uhr sehen und hören wir, wie ein Priester durch das Vorwärtsbewegen eines Stammes die freistehende Riesenglocke zum Ertönen bringt. Ein magischer Ort, der zudem den (profanen) Vorteil bietet, dass ein leichter Wind geht und das Thermometer angenehme 25 Grad anzeigt. Im Winter liegt hier hoher Schnee, was die Gläubigen nicht am Beten hindert. Man nennt Kūkai auch den „Vater Japans“.

Nach dem schnellen Mittagessen sind wir im Tempel Kongõbu-ji, Zentrum der Shingon-Schule seit langer Zeit. Für zehn Millionen Anhänger dieser esoterischen Richtung des Buddhismus, die der legendäre Kobo angestoßen hat, ist diese Anlage hier das Hauptquartier. Hinter Schiebetüren sind wundervoll gestaltete Räume zu sehen (gemalte Kraniche an der Wand, Szenen von der Arbeit im Feld, in der Stadt und im Hafen, die Reise von Kūkai nach China und von China zurück), die einstige Kaiser-Sektion ist golden und draußen ist Japans größter Steingarten zu bewundern. Hiroshi Senju hat auch hier seine bekannten großflächigen Wasserfallbilder gemalt.

Wir übernachten im Eko-In, einem von 50 Tempeln in Koyasan, die Übernachtung und Mahlzeiten anbieten. Ein Schüler von Kobo-Daishi hat ihn vor mehr als 1100 Jahren gegründet. Wörtlich heißt Eko-In: gesegnet sei das Licht. Ein Mönch weist uns in unsere kleine Wohnung ein, eine Stunde später sitzen wir in der Haupthalle bei der Meditation, die er selbst anleitet (war jüngst eine Woche an der Côte d‘Azur, um in Monaco Schüler anzulernen). 15 Minuten im Schneidersitz zu verbringen und intensiv, nach einem bestimmten Schema zu atmen, beweist, wie lange 15 Minuten sein können. Störende Gedanken dabei seien wie ein Kieselstein, den mal schnell in den Steingarten zurückwerfen soll, erklärt unser Mönch. Er führt auch aus, wie Meditation ihm aus einer persönlichen Krise herausgeholt hat. Sein Rat: fünf Minuten täglich, mindestens. Hängengeblieben an diesem heiligen Ort, in dem nach 21 Uhr absolute Ruhe herrscht, ist vor einem Jahr auch ein junger Deutscher, nun kahlgeschorenes Mitglied der Glaubensgemeinschaft. Er führt uns zu unserem Essraum. Das vegane Mahl (mit der cremigen Tofu-Spezialität von Koyasan) ist am Boden einzunehmen. Die Beine schmerzen.

 

 

Wartende Geister.

Dreizehnter Tag.

 

Formulierungen wie „Er lebt in unseren Gedanken weiter“ oder „Sie ist nicht gestorben, sie hat nur eine andere Form angenommen“ gehören in Deutschland zum Wortarsenal rund um Beerdigungen. Danach vergisst man die schönen Sätze meist wieder sehr schnell. In Japan sind die Grenzen zwischen Leben und Tod verwischt, es gibt keinen Abriss, sondern nur einen Übergang, der Geist beginnt mit einem neuen Leben. So ähnlich ist es mit dem Christentum und der Seele, aber wer denkt schon im Alltag daran. Alles anders in Japan. Kobo-Daishi ist sogar, so glauben es seine Freundinnen und Freunde, gar nicht tot – er verharrt demnach im Zustand permanenter Meditation. So sind wir Zeuge, wie auf seinem Friedhof sich drei Priester aufmachen mit einem großen hölzernen Tragebehälter, mit dem das Essen zu dem angeblich dauer-meditierenden Mönch in seinem Mausoleum transportiert wird. Die tägliche Nahrungsroutine wird von einem Pulk mit Handys bewaffneter Chinesen verfolgt, die sich sofort nach dem Passieren der Mönche kollektiv auf die Verfolgungsjagd machen.

Wer in den unmittelbaren heiligen Teil des Friedhofs von Koyasan will, dorthin, wo das Mausoleum des so ehrenwerten Kobo-Daishi (Meister der Lehrverbreitung) liegt, muss über eine steinerne Bachbrücke. Man verbeugt sich, von da an ist Fotografieren nicht erlaubt. Ein paar Schritte weiter wartet an einem Denkmal eine Geschicklichkeitsübung: Es gilt, mit der Hand einen schweren Stein zu bewegen. Das gelingt nur guten Menschen. Das Mausoleum selbst ist am Ende hinter der Laternenhalle nur aus der Distanz zu erahnen.

Jedenfalls ist der letzte Ruheplatz des so einflussreichen Mönchs Kūkai im Friedhof Okuno-in attraktiv, dass sich rundherum in einem dichten Wald voller herrlich gewachsener Zedern (200 bis 600 Jahre alt) inzwischen rund 200.000 Gräber befinden. Hier liegen Shogune, Adlige, Gartenmeister, Manager. Die Preise für einen Grabplatz sind so hoch wie die Immobilienpreise in Tokio oder Osaka.  Status zeigt sich eben auch in de Wahl der Ruhestätte, auf dieser Fläche der „wartenden Geister“. Deshalb haben sich bekannte kapitalstarke Firmen wie Toyota, Panasonic oder Kirin Bier mit viel Fläche eingekauft; an einem Grabdenkmal einer japanischen Firma sind lauter Fotos der Mitarbeiter zu sehen. Nissan bietet zwei aufrechtstehende Werktätige wie im Realsozialismus auf, ein Pestizidhersteller hat ein Grabmal eingedenk aller getöteten Insekten gestiftet. In die Stratosphäre des Erinnerns aber gleitet mit Leichtigkeit der Flugzeugbauer ShinMaywa: Er hat auf den ersten Quadratmetern des Friedhofs, nach dem von Laternen gesäumten Zugangsweg, tatsächlich auf dem Grab eine riesige Rakete installiert, die man von schon von weitem sieht. Im Übrigen fallen auf Okuno-Ni wieder die vielen Jizō-Statuen auf, Symbole des Totenkults für verlorenen Kinder. Sie tragen zum Beispiel rote Kinderlätzchen.

Der Tag vor dem ausgiebigen Friedhofsspaziergang beginnt bereits mit Erinnerungen und Lobpreisungen unserer verstorbenen Vorfahren und Freunde. Um sieben Uhr versammeln sich 35 Gäste des Eko-In in der Gebetshalle zur üblichen Morgenandacht in diesem Tempel. Sie wird von drei Mönchen getragen, die rhythmisch eine Art Gebetsgesang vortragen, angereichert durch das Schlagen eines Gongs und zweier Schellen. Jede und jeder der Gäste betet gesondert 15 Meter vor dem Buddha vor der gesamten Gruppe im Fersensitz (Kniestand für die Älteren). Anschließend darf man ins Innere des Tempels, vorbei an vielen Totentafeln für die verstorbenen Mönche und ehrt noch einmal direkt Buddha. Der Tempel hat schriftlich darauf hingewiesen, es handele sich nicht um eine „Tourist Show“, aber die Touristen sind am Ende sehr wohl Teil der vom Gemeinschaftsgeist getragenen Veranstaltung.

So ist es auch beim anschließenden Gomakito, dem Goma Feuerritual, in einem nahegelegenen Häuschen auf dem Hof. Wir haben hierzu am Vorabend zwei Hölzchen an der Rezeption abgegeben, auf die wir unsere Wünsche mit einem Pinsel schrieben (Inhalt bleibt geheim). Diese Hölzchen werden nun mit denen anderer Wünschender in einer Halbstunden-Zeremonie stilvoll verbrannt. Man kommt, sozusagen, vom Hölzchen aufs Stöckchen. Und das ganze unter dem fast ekstatischen Trommelschlagen des Mönchs. Am Schluss leiten wir den Rauch auf jene Körperstellen, bei denen wir uns besonders Gesundheit wünschen.

Nach diesem sakralen Morgen erreichen wir – sehr rasante Fahrt – die Molochmillionenstadt Osaka. Unser nette Helldriver am Steuer dreht noch ein paar Extrarunden über kühn geschwungene Hafenbrücken zum Expo-Gelände auf einer künstlich aufgeschütteten Insel, wo wir Massen vor den Eingangstoren sehen. Vom Bahnhof geht es dann pünktlich mit dem Shinkansen nach Hiroshima.  Dort angekommen, dauert es keine zehn Minuten, bis das Gespräch mit dem Begleiter auf „World War Two“ fällt, auf den Abwurf der Atombombe vor 80 Jahren im August 1945. Jetzt schaut man auf die Hochhäuser und Alleen, auf den amerikanischen Zuschnitt der Stadt, und sieht doch auch das Trümmerfeld von einst und weiß um 140.000 Tote allein bis zum Ende des Jahres 1945 (viele Spätschäden danach). Der Machtverrücktheitsgrad in manchen politischen Zentren dieser Welt, der psychotische Faktor, lässt derzeit leider anders als früher nichts mehr ausschließen.

Auf viel schönere Gedanken bringen uns am Abend Hitoshi Takasue und sein Sushi-Restaurant, nur wenige Minuten Spaziergang vom Hotel entfernt. Der Mann ist Ästhet. Seine Bar mit dem prächtigen Tresen aus altem Zypressenholz wirkt schon durch einen großen Zweig Kastanien in einer dickbauchigen braunen Vase. Wo andere den Wein oder den Champagner in einen silbernen Eiskühler stecken, rückt er mit einem Holzgefäss an, in dem ein paar Blumen und Gräser stecken. Die Sushis sind schon optisch von einer anderen Welt: ein bisschen Wasabi, ein Tupfer Öl oder Ponzu, die Sojasauce wird mit einem Pinsel darübergestrichen. Der Seeigel harmoniert mit dem Fischroggen, dem Reis und Seetang in einem stylishen Eierbecher. Das Tintenfisch-Sushi ist gewellt wie ein Meer. So geht das den ganzen Abend. Folglich muss irgendwann das eigene Tabu fallen, auf keinen Fall Essen zu fotografieren. Von wegen „Food Porn“, Food Art! Und dann erst die Qualität der Speisen, die der Sternekoch auf einen schwarzen Block setzt, von dem sie sofort in den Mund wandern. Der Reis ist leicht klebrig und süß, der Fisch in dieser Küstenstadt von bester Qualität, das Ergebnis: Geschmacksexplosionen. Hitoshi Takasue erklärt seine Kunst mit etwas Englisch, und wo die Sprache nicht reicht, erklären die Augen weiter. Er ist Überzeugungstäter. Wir staunen, loben die Kompositionen und verschwinden glücklich in die Nacht.

 

 

 

 

 

Hiroshima, mon amour.

Vierzehnter Tag.

 

Es gibt viele Schreintore in Japan und viele sind auf Fotos zu sehen. Aber eines dieser Gebilde sticht aus allen Motiven heraus: „O-Torii“, das rote Schreintor der Insel Miyajima, der legendäre Zugang zum Itsukushima-Schrein. Das Binnenmeer rund um das Eiland hat jenseits der großen Inseln Shikoku und Kyūshū mittelbar Zugang zum offenen Meer, sodass Ebbe und Flut eine Rolle spielen. Morgens können wir dem Tor sehr nahekommen, bei der Abfahrt mit der Fähre von Miyajima drei Stunden später um 13.30 Uhr umspült dann Wasser die beiden mächtigen Stelzen – die innen mit Steinen gefüllt sind, sodass seit vielen Jahrhunderten weder Taifune noch Erdbeben dem Bauwerk etwas anhaben konnten.

Ein General ließ einst den Weltkulturerbe-Schrein für seine Familie errichten; drei Göttinnen der See werden hier verehrt. Der eindrucksvolle Shinto-Ort erstrahlt in hellem Zinnoberrot, einer Farbe, die aus China kam. Die kleine Theaterbühne dagegen, viel später entstanden, ist in dunklem Braun gehalten mit Naturbemalung – ganz im Wabi-Sabi-Stil, der japanischen Lobpreisung des Einfachen, Unperfekten, Asymmetrischen, der Dinge an sich. Zu jener Zeit hatte sich Japan isoliert und wollte von fremdländischen Einflüssen nichts wissen.

Das war bei Kūkei noch ganz anders gewesen, dem Kobo Daishi, den wir von Koyasan kennen. Bevor der Mönch seine legendäre China-Reise hinter sich brachte, hatte er in seiner Heimat 88 Tempel gegründet – auch in Miyajima und dorthin das „ewige Feuer“ in ein Gebäude namens Reika-Dõ gebracht. Die 500 Meter hoch dorthin auf den Berg der heiligen Insel sparen wir uns, stattdessen sind wir in der höher gelegenen Anlage des Dashoin-Tempels, wo 88 Fußkacheln Kūkeis Tempel symbolisieren und man mit einem kleinen Spaziergang darüber eine Pilgerreise imitieren kann.

Die Insel ist im Übrigen so heilig, dass man auf der Küstenseite des Schreins nicht baden darf. Auch ein paar Rehe und Hirsche lungern in der Hafengegend herum, aber anders als in Koyasan sind sie eher zurückhaltend. In der Einkaufspassage Omotesando lässt sich manch Nützliches kaufen (Kekse, Saucen), die regionale Pfannkuchen-Spezialität Okonomiyaki essen sowie gegrillte Riesenaustern mit süßer Soya-Sauce schlürfen. Zwei von drei Austern kommen in Japan aus dem Raum Hiroshima.

Etwas irritierend, dass auf manchen japanischen Karten der Standort von Tempeln mit einem Hakenkreuz gekennzeichnet ist, wie wir heute wieder feststellen. Es handelt sich um ein altes Glückssymbol des Buddhismus (wie auch des Hinduismus und Jainismus). Aber die japanische Regierung hatte 2016 angekündigt, dass aufgrund des Tourismus-Booms künftig statt des Hakenkreuzes lieber eine Pagode auf den Karten verwendet werden sollte. 2025, im Fremdenverkehrsrekordjahr, wenn 40 Millionen kommen, ist zuweilen noch immer das alte Symbol zu sehen. Es kommt eben auf den Kontext an.

Die Naka Müllverbrennungsanlage in Hiroshima kommt dank unserer famosen Führerin Nabu (Nabuyo) überraschend nachmittags auf die Liste, aber leider wird dort gerade repariert. Der Zugang ist begrenzt. Wir können also nur wenig von dem Prachtbau (Budget 340 Millionen Euro) sehen, den der Stararchitekt Taniguchi Yoshio sich hat einfallen lassen. Der Mann hat immerhin den 2004 eröffneten Anbau des Museums of Modern Art in New York entworfen und nennt sein Hiroshima-Werk „Museum des Mülls“.

Kobo Daishi ist auch bei unserem Besuch des Peace Memorial Parks dabei. Die Flamme, die dort brennt, ist dem Feuer von Miyajiwa entnommen. Das Feuer soll erst erlöschen, wenn die letzte Nuklearbombe vernichtet ist. Wann das sein wird? In einer Welt der Bellizisten und Aufrüster? Die Bombenpläne des von Hiroshima nicht weit entfernten Nordkorea sind eher eine Mahnung, nicht zu sehr an Frieden zu glauben. Wie an jedem Tag sitzt auch heute, rund 50 Meter entfernt, ein Mann, der andauernd politische Parolen schreit. Er wird ignoriert.

Das Feuer im Peace Park ist Teil des Kenotaphs von Kenzô Tange. Das Denkmal wiederum ist dem Sattel eines Tonpferdes nachempfunden, die man einst den Toten für ihre Reise mitgab. Im Inneren liegt ein Buch mit den Namen aller Atombomben-Opfer. Das Kenotaph liegt auf einer Achse mit dem 1958 eröffneten Museum und jener Ruine eines von einem tschechischen Architekten ersonnenen Prachtbaus, in dessen Nähe die „A-Bomb“ an jenem 6. August 1945 hundert Meter über dem Erdboden explodierte. Weil die Wucht der Feuerwalze von oben kam, blieben Mauern stehen. Das Kupfer des Dachs schmolz, ein bisschen Stahlgerippe blieb. Die Stadt diskutierte lange, ob es diesen Gedächtnisbau überhaupt geben sollte – und entschied sich dann in einer Abstimmung dafür.

Wir sehen auch den Keller, in dem der Angestellte eines Bürohauses wundersamerweise überlebte, weil er Unterlagen suchen musste. Und wir erleben das Friedensdenkmal für Kinder, unter dem Unmengen gefalteter Papierkraniche zu sehen sind, geschickt aus aller Welt – in Erinnerung an Sasaki Sadako, die die Bombenexplosion von 1945 zunächst überlebt hatte, die in der Schule eine gute Sportlerin war, dann aber an Leukämie erkrankte und mit Zwölf starb. Vergeblich hatte sie – wie es das Sprichwort nahelegt – 1000 Papierkraniche gegen den Tod gefaltet.

Dieser so schön gestaltete und doch so belastete Ort Hiroshima ist voll solcher Geschichten. Im Museum werden vielen Einzelschicksale ausgebreitet, Sandalen, Kissen, Hosen, Hemden, Dreiräder der Verstorbenen sind zu sehen. Bedrückend. Und doch auch faszinierend, weil die Katastrophe (das Unaussprechliche) ein Gesicht bekommt.

Diese Art Friedensmahnung bringt einen, wie gesagt, ins tiefe Nachdenken und Mitempfinden. Es erweist sich, dass unser Guide Nobu zur zweiten Generation der Hiroshima-Opfer gehört. Ihr Vater war vier, als die Bombe fiel, und befand sich durch Zufall außerhalb der Stadt. Ein paar Stunden später ging er dann nach Hiroshima, dem Höllenort, und litt später in seinem Leben an Tumoren. Er lebt noch, genauso wie seine Mutter, die 104 Jahre alt ist. Belastet hat Nobu die Diskriminierung, die die Menschen von Hiroshima nach 1945 erfahren haben. Vielen Japaner war der Ort unheimlich geworden, sie fürchteten radioaktive Strahlungen und eine damit verbundene Krebserkrankung. Zur Hochzeit mit ihrem Mann kamen die Schwiegereltern vom Land bei Tokio zwar, aber sie blieben nicht zum Feiern, sondern setzten lieber nach Miyajima über. Das Thema Atombombe habe sie früher sehr belastet, sagt Nobu, inzwischen habe sie aber eine stärkere Haltung dazu gefunden und sieht, was in ihrem Heimatort alles neu entstanden ist und welche Friedensbotschaft von hier ausgeht. Aber sie sagt auch, wie schwierig alles sei. Warum haben die Japaner Pearl Harbour angegriffen? Warum musste es zum Zweiten Weltkrieg kommen? Warum das Ziel Hiroshima?

Wo der Tod allgegenwärtig ist, ist auch das Leben allgegenwärtig.

Wir haben viel mitbekommen an diesem heißen Nachmittag. Und doch fällt einem die Szene aus Alain Resnais‘ Film „Hiroshima, mon amour“ ein, in der der japanische Architekt seiner Geliebten, der zu Filmaufnahmen angereisten französischen Schauspielerin, die einen Museumstag hinter sich hat, offen ins Gesicht sagt: „Du hast nichts gesehen in Hiroshima.“ Abends sehr müde und noch aufgerafft zu einer „Special Collection“ mit Wagyu-Fleisch in einem nahen Restaurant.

 

 

Biereimer.

Fünfzehnter Tag.

 

Der Tag beginnt mit Beschwerden. Er: der linke Fuß. Sie: die rechte Schulter. Alle Plätze im Frühstückssaal belegt. Transfer nach Osaka wie immer friktionslos. Das Hotel Conrad ermöglicht vom 40. Stock (Lobby, Bars, Restaurant) den totalen Rundblick über Japans drittgrößte Stadt (2,8 Millionen Einwohner), die alles in allem so aussieht, wie sich deutsche Verkehrsplaner in den 1950er- und 1960er-Jahren die autogerechte Stadt vorgestellt haben. In Deutschland haben sie Hochbrücken („Tausendfüssler“) abgerissen, hier sind Hochbrücken und Stadtautobahnen auf mehreren Ebenen Standard.

Lustiges Detail: Wir haben Zimmer 3517 – wie in Tokio zu Beginn unserer Reise.

Zwischen den Pkw-Schneisen locken Viertel mit Karaoke-Bars, Whisky-Läden und Restaurants. Das ist unverkennbar beim Gang zurück von der Einkaufspassage nahe dem Hauptbahnhof, in der Tower Records (einst eine 1960 entstandene kalifornische Legende, dann eingegangen) wie auch in Tokio weiterlebt, und zwar mit einer fulminanten eigenen Vinyl-Abteilung (Kauf von acht Jazzplatten von Miles Davis bis Pat Metheny, auch die im „Hello Dolly“ in Kyoto gehörte Kenny-Burrell-Scheibe ist dabei). Unterwegs noch ein Geheimrezept-Medikament gegen die Schulterschmerzen der besten Reisegefährtin aller Zeiten geshoppt.

Abends fahren wir zum Gyoza-Bier-Laden mit Underground-Touch, so wie die Dinger einst in Lower East (NY) oder Lower East (Berlin) standen. Ein Mann betreibt ein Selbstfahrerkochstudio, er nimmt die Bestellung auf, fertigt die gekochten oder gebratenen Dumplings, nimmt die Eimer mit den ausgetrunkenen Bierflaschen entgegen und legt die Rechnung hin. Famos. Da es an Bargeld mangelt, können wir die erstmals gesehene Box mit der Aufschrift“ „Tip accepted“ leider nicht füllen.

 

 

Foie gras.

Sechzehnter Tag.

 

Die japanische Teezeremonie ist kurz, aber eindrucksvoll. 30 Minuten fahren wir vom Hotel nach Sakai, einem früheren Handels- und Hafenort, von dem im 16. Jahrhundert Korea, Kambodscha oder die Philippinen angesteuert wurden. Die Zeremonie folgt den Regeln von Sen no Rikyū (lebte im 16. Jahrhundert in Sakai), der verfeinert hat, was die chinesische Song-Dynastie vor 800 Jahren eingebracht hatte. Das Beste aus drei Teeschulen wird uns an diesem Morgen geboten. Es beginnt mit einer Süßigkeit, die wir mit Stäbchen vierteilen und genießen. Zwei Frauen in traditionellen Kostümen bereiten den Matcha-Tee vor und rühren das warme Wasser ins Matcha-Pulver, bis es schäumt. Dann bedanken wir uns, nehmen die Teeschale erst mit der flachen Hand, dann mit beiden Händen und drehen die Schale im Uhrzeigersinn, bis die schöne Seite vorne zu uns zeigt. Jetzt andachtsvoll trinken. Wichtig auch, den Alkoven anzuschauen mit der Schriftrolle und der Vase, in der bunte Blumen aus des Teemeisters Garten stecken. Unser Gastgeber erklärt uns noch, die Aufgabe mit der Zeremonie in dritter Generation auszuüben. Eine Art Fachschule gebe es nicht. Abschließend Foto mit allen Beteiligten.

Im Museum wird im ersten Stock die Dichterin Akiko Yosano gefeiert, die 1929 mit ihrem vermögenden Mann Hiroshi nach Paris ging, auf dem Montmartre lebte und viele Künstlerfreunde (Auguste Rodin) hatte. „Explorations of Europe“ heißt die Ausstellung. In einem Gedicht schildert Akiko, wie sie ihre Scheu am Place d‘Etoile überwand und schließlich die Straßen dort zwischen all den Autos überquerte wie eine „living woman made of steel“. Die Japanerin bekam Kontakt zur Suffragetten-Bewegung. Anschließend fahren wir zur Burg von Osaka, einst bedeutendes Machtzentrum, dessen Dimensionen (Mauern, Gräben, Tore) noch immer gewaltig sind. Alles ist wiederholt abgebrannt (same old story), der viel fotografierte Turm (eine Ikone) stammt aus dem Jahr 1931. Den Bummel durch die lärmende Dotonbori-Straße (vergleichbar mit der Düsseldorfer Altstadt, nur mit mehr Reklame) kürzen wir ab und essen sehr gut Okonomi-yaki, Pfannkuchen mit Ei und Nudeln. Der Blick vom Umeda Sky Building entspricht dem vom 40. Stock unseres Hotels. Zum Abschied überreicht uns Mayumi zwei Visitkarten mit unseren Namen auf Deutsch und Japanisch. Sehr rührend.

Abends etwas Französisch-Japanisches: das Restaurant „Liaison“. Im schicken weißen Restaurant sitzen – mit uns – sechs Personen. Es ist ein Zehn-Gänge-Spaß mit Weißwein aus Burgund zu klassischer Musik (diesmal kein Jazz). Verblüffend die Vielfalt und Schönheit des Geschirrs. Zum Beginn ein knuspriges Sesam-Eclair mit leichter Foie-Gras-Mousse und in diesem Stil geht es weiter. Die Begeisterung der beiden Foreigner entzückt sichtbar die Vierer-Brigade in der offenen Küche, es wird viel gelächelt, kleine Verbeugungen inklusive. Sonderpreiswürdig. Nach drei Stunden verabschieden wir uns mit Calvados.

 

 

Kusamas Kürbis.

Siebzehnter Tag.

 

Um 6.50 Uhr treffen wir am Bahnhof Shin-Okasa den verrenteten Bankmanager Hal, der schon in den USA und Australien gearbeitet hat und vom Deutschen in Erinnerung behalten hat: „Schnell, bitte.“ Er ist der Mann, der uns sicher nach Naoshima und zurückbringen soll – der gute Helfer auf dem Trip mit Zug, Schnellzug und Fähre hin zu der bekannten Kunstinsel, auf der ein Verleger schon 1991 in enger Kooperation mit dem Über-Architekten Tadao Ando ein erstes Museum gesetzt hat. Hier, im „Benesse“, verbringen wir mittags zwei Stunden. Es ist über einen langen Zick-Zack-Weg erreichbar, so wie wir das von den alten japanischen Burgen kennen.  Künstler wie Jannis Kounellis, Robert Long, Frank Stella und die auf der Insel mit ihren bunten Mega-Kürbissen gut präsente Yayoi Kusama haben als Artists-in-Residence große Kunstwerke geschaffen, auch ein Bruce Nauman, David Hockney oder Alberto Giacometti findet sich in der Sammlung des Museums, die zunächst der inzwischen verstorbene Verleger, dann seine Stiftung eingebracht hat.

Den Naoshima-Kunsttag haben wir im Chichu-Museum begonnen, das ist ein raffinierter „Bergbau“ von Ando mit seinen üblichen angelochten Betonplatten, die steile Wege nach unten (oder oben) in den Berg hinein auskleiden. Ein Hof zeigt Gräser (Reisfeld), ein anderer Hof Steine (Berge). Überraschend im ersten Saal einige Seerosenteich-Bilder von Claude Monet, die so gar nichts mit seinem üblichen Impressionismus und dem Water-Lily-Kitsch zu tun haben, sondern sie zeigen (in seiner Spätphase) stark expressionistische Züge, ja, sogar Van-Gogh-Haftes. Besonders eindrucksvoll zwei Großraumarbeiten weiterer Künstler: Einmal gewinnt und verliert man bei James Turrell den Sinn für die dritte Dimension (man steigt über eine Treppe in einen rot ausgeleuchteten Raum), einmal fühlt man sich bei Walter de Maria wie auf einer Treppe vor einem antiken Tempel, mit einer großen Kugel und ihren Spiegelungen als zentrales Element. „Time/Timeless/No Time“, ein ewiges Theater.

Über Relationen erfahren wir alles auf jenem Gelände, das dem Koreaner Lee-Ufan gewidmet ist: ein großer Stein wirft alle möglichen Schatten (Umfeldbilder), ein Fels grenzt sich zu einer Metallplatte ab. Hinreißend. Dazu im Außenbereich eine riesige Säule und ein noch größerer Torbogen vor dem Hintergrund des Meeres. Anschließend sind wir in der Valley Gallery, Frau Kusama hat hier silberne Kugeln an allen möglichen Stellen, in allen möglichen Positionen platziert. Auf dem Teich sorgt der Wind und die so erzeugte Wellenbewegung für einen magischen Sound ihrer Silberbälle. Leider bleibt unsere wichtige Tüte mit dem erworbenen Kunstbuch auf der Wartebank der Bushaltestelle liegen, sodass wir zurückmüssen und viel Zeit verlieren. Hal holt die Tüte vom Benesse-Museum, eine Mitarbeiterin hat sie gesichert. Wir nehmen am Ende das Taxi, um rechtzeitig bei der Fähre zu sein. Das neue Ando-Museum („New Art“) muss genauso ausfallen wie das oft gepriesene Kunstdorf. Ein Taifun ist angekündigt.

Naoishma ist eine großartige Erfahrung, die Schönheit der Kunst geht in die Archipel-Landschaft über, und umgekehrt. Froh sind wir, für die Wege zwischen den einzelnen Stationen den Bus genommen zu haben und nicht – wie zunächst geplant – das Fahrrad. Es wäre zwar elektrisch gewesen, doch die Wege sind schon sehr hügelig. Learning: Man braucht definitiv ein wenig mehr Zeit und ein Hotelbett auf der Insel. Sehr lustig auch, dass Hal uns später gesteht, ebenfalls froh über die Entscheidung gegen das Rad gewesen zu sein: Ihn störte weniger das windige Wetter, vielmehr irritierte ihn seine mangelnde Praxis im Fahrradfahren. Lachend gesteht Hal (so heißt auch das irrende Computersystem in Stanley Kubricks „2001: Odysee im Weltraum“), sicherheitshalber ein paar Mal im Vorfeld unserer Tour auf dem Velo geübt zu haben.

Zur nächsten Triennale (2028) wollen wir zurück. Abends Italienisch essen im 40. Stock unseres Hotels. Da wir am nächsten Morgen um 6.30 Uhr zum Flughafen müssen, sagt der Maitre de Plaisir, es sei zwar schade, dass wir das Frühstück verpassen, aber es sei sicherlich besser, früher zu fahren: „The typhoon is coming.“

 

 

Epilog

 

Auf die übliche Frage nach den Höhepunkten einer solchen Reise lautet die ehrliche Antwort: Es waren zu viele, es kann nicht einen geben. Es müsste ein ähnlicher Antwortsatz sein, wie wir ihn in Kanazawa in der famosen Sushi-Bar produziert haben, als die Frau des Kochs am Ende wissen wollte, welches Gericht uns denn wohl am besten geschmeckt habe: „Das erste und das letzte, und alle dazwischen“, sagten wir.

„Time is a good teacher, but unfortunately it kills all of its pupils“, steht auf dem T-Shirt eines Japaners, der auf dem Heimflug eine stark behinderte Frau durchs Flugzeug begleitet. Womöglich ist es die Vielgötterei des mit der Shinto-Religion vereinten Buddhismus, die Verehrung des Alters und die Unerschrockenheit vor dem Tod, die Japanerinnen und Japaner glücklicher und länger leben lässt als die Bevölkerung anderer Industrieländer. Die Zeit ist hier ein besonders guter Lehrer. Besonders nahegekommen sind wir dem Land an seinen heiligsten Stellen, Koyasan und Miyajiwa.

Ein paar Dinge auf der Reise waren überraschend, obwohl sie vielleicht gängigen Klischeebildern entsprechen. Das gilt vor allem für die absolute Zuverlässigkeit. Keine Verabredung, die nicht pünktlich (überpünktlich) eingehalten wurde. Keine versprochene Leistung, die nicht auch geliefert wurde. Egal, ob der Reisepass versehentlich im Hotelzimmer blieb oder die Einkaufstüte auf der Bank, alles konnte rasch korrigiert werden. Der zweite Punkt ist die stets gezeigte Freundlichkeit, wie immer genuin sie auch sei: Lächelnd werden auch blödeste Fragen beantwortet oder Lösungen für auftretende Probleme gesucht. Der Taxifahrer schaut, ob man wirklich ins richtige Restaurant tritt, der Gastgeber verabschiedet sich persönlich mit Verbeugungen. Als drittes ist die perfekte Oberflächengestaltung zu nennen, die Blumen, Vasen, Alkoven, Bilder, Schriftrollen im Inneren der Häuser, die kühne, geschwungene Architektur im Äußeren. Jedes Bild erzählt eine Geschichte. Und schließlich ist die Kulinarik ein wesentlicher Punkt, das so überragende gastronomische Angebot, dieser Drang nach dem Besten, nach „Umami“. Je weiter westlich, desto besser wurde es eigentlich (nichts gegen die Vielfalt von Tokio). Garantieleistungen, Gastfreundschaft, Gestaltungskunst, Gastronomie – für eine schnelle Antwort auf die Why-Japan?-Frage genügt diese 4G-Formel.

Die am häufigsten gestellten Fragen unserer japanischen Gastgeber wiederum thematisierten den anhaltenden Touristenboom. „Warum sind Sie nach Japan gekommen?“ Ganz so, als könnten sie das selbst nicht so recht glauben. Die Frage hörten wir immer wieder. Wenn man dann über Tochter Anna redet, die schon dreimal im Land der aufgehenden Sonne war, zeigen sich alle erfreut. Dann verstanden sie, dass wir auch nach Japan wollen. Die Jugend liebt Manga, Matcha und Karaoke (haben wir nicht mehr geschafft).

Tourismus ist derzeit die Boombranche einer seit 35 Jahren stagnierenden Volkswirtschaft, die hohe Schulden hat (die die Japaner weitgehend selbst über den Kauf ihrer Staatsanleihen finanzieren) und die einen niedrigen Yen-Wechselkurs sowie eine recht hohe Inflationsrate von fünf Prozent aufweist. Japan ist ökonomisch so etwas wie ein Menetekel für die Deutschen, denn genau da könnten sie auch landen, wenn auch stilloser.

Nichtsdestoweniger machen Kultur, ein gastfreundliches Verhalten, das gute Essen, Rechtssicherheit und ein liberales System die Attraktivität des Standorts aus. Chinesische Jung-Unternehmer siedeln sich vermehrt mit ihren Ideen hier an, um dem Gängelband der Kommunistischen Partei in ihrer Heimat zu entfliehen. Und gegen die Dauer-Aggressivität des unter dem jetzigen US-Präsidenten eingeführten amerikanischen Pitbullsystem ist das lächelnde Japan ohnehin eine Wohltat. Wer will sich schon Revanchismus und Kontrollwut aussetzen, wenn man auch freundlich empfangen werden kann, ganz ohne Welteroberungsgedröhne.

Ja, es werden noch viele nach Japan fahren.