So wie Grippekranke nervös aufs Fieberthermometer schauen oder Übergewichtige auf die Waage, so registrieren in diesen Monaten viele Zeitgenossen neugierig, was denn wohl die neuesten Umfragewerte wieder für jene Partei hergeben, die in der gesellschaftlichen Betrachtung irgendwo zwischen Schmuddelkinder-Gang und Wutbürger-Gemeinschaft rangiert. Kurz vor der Europawahl im Juni, vor allem aber vor den September-Landtagswahlen in Brandenburg, Thüringen und Sachsen, ist die Verfasstheit, auch die Verhasstheit der Alternative für Deutschland (AfD) Alltagsgespräch geworden.
„Kann man die wählen?“, fragten schon 2013 viele, damals, als die um den Euro-Hasser Bernd Lucke gescharte Wirtschaftsprofessoren-Partei erstmals in den Bundestag drängte (und knapp scheiterte). Diese Frage nach der Wählbarkeit beantworten mittlerweile rund 30 Prozent in den Ost-Ländern mit „Ja“, ungeachtet aller Erkenntnisse des Verfassungsschutzes, wonach die zum Völkischen tendierende AfD just dort als „gesichert rechtsextrem“ zu gelten habe.
Dieser „besonders gärige Haufen“ (Ehrenvorsitzender Alexander Gauland) motiviert in der derzeitigen aufgeheizten Lage zwangsläufig zum Erstellen von Publikationen, die sich dem Phänomen des politisch Unheimlichen, eines national und sozial gewandten Gespensts, näher widmen. Pünktlich vor den vielen Wahlen schreiben ein Journalist aus Thüringen, ein Schweizer Friedensforscher, ein promovierter Jurist und eine international erfahrene Literaturwissenschaftlerin in heller Sorge um das Land. Die dunkle Ahnung, aus dem Diktum „Nie Wieder!“ könne ein „Schon Wieder!“ werden, durchzieht ihre Bücher. Ist ein Ausverkauf der liberalen Demokratie noch zu verhindern?
Alle Augen richten sich nach Thüringen, wo der zur schönsten Camouflage fähige Björn Höcke den Puppenspieler aus der zweiten Reihe gibt, ein Machtpolitiker gewordener Oberstudienrat aus Bad Sooden-Allendorf, dessen Organisation „Flügel“ wegen zu viel Rechtsdrall aufgelöst werden musste. Der „neue Hitler“ („The Telegraph“) preist den Diktator Wladimir Putin und deklamiert, Deutsche und Russen hätten „eine ähnliche seelische Prägung“. Für solchen Schmonzes und weitere Denkarbeiten hat die graue AfD-Eminenz einen intellektuellen Sparringspartner, den Verleger Götz Kubitschek. Beide sind der Idée fixe erlegen, der Staat müsse befreit, die Nation gerettet werden, so wie das einst Friedrich dem Großen gelang. „Deutsch und frei wollen wir sein“, rief Höcke im September 2023.
Thüringen also, wo er bereits 2020, kurz vor dem Corona-Ausbruch, dem Kurzzeit-Ministerpräsidenten Thomas Kemmerich von der FDP schon mal ins Amt geholfen hatte. Das kleine Bundesland könnte nun so etwas wie das Exerzierfeld von Rechtsradikalen für noch höhere Ansprüche werden. Dort ließen sich „alle wichtigen Konfliktlinien der Bundesrepublik nachvollziehen“, schreibt der geübte Reporter Martin Debes.
Ein Testfall für die Demokratie war Thüringen schon einmal, in der Weimarer Republik. Das macht jetzt, ein volles Jahrhundert später, den Grusel in der Causa AfD aus. Debes betreibt ausführlich, zuweilen arg faktenhuberisch, seine Geschichtsstudien. Man staunt, wie 1924 die Macht von der linken Minderheitsregierung aus SPD und USPD auf den erzkonservativen Thüringer Ordnungsbund übergeht, der wiederum mit der Vereinigten Völkischen Liste paktiert, einer Tarnorganisation der damals verbotenen NSDAP des Ex-Kunstmalers Adolf Hitler.
Diese NS-Truppe diktiert prompt, die neue Landesregierung müsse aus „deutschblütigen, nichtmarxistischen Männern“ bestehen.
Weimar wurde zum Startpunkt des Nazi-Aufstiegs. Hier hält die NSDAP 1926 nach Ende des Verbots ihren ersten Reichsparteitag ab, hier entsteht die Hitlerjugend. Hier siegt die Partei bei der Wahl im Sommer 1932 mit fünf Prozentpunkten höher als im Reich, hier, in „Hitlers Mustergau“, werden Oppositionsparteien schneller verboten und jüdische Geschäfte früher enteignet als anderswo, hier entsteht im März 1933 das erste Konzentrationslager (am Flugplatz Nohra). Zwei klare historische Fazit-Sätze von Debes: „Weimar ist der Vorbote dessen, was bald darauf in Berlin geschieht.“ Und: „Thüringen steht an der Spitze der Bewegung.“
Kann Erfurt auch heute ein Vorbote sein? Wiederholt sich, was vor 100 Jahren die Grundfesten der Demokratie erschütterte? Bisher hat Höcke, und mit ihm die zunehmend radikalisierte AfD, von allen Krisen und der allgemeinen Verunsicherung, ja Überforderung in der Republik profitiert. Die Aggro-Rhetorik der Partei findet Gefolgsleute, es applaudiert ein beachtliches intellektuelles Umfeld („Neue Rechte“), und nicht wenige in der Ost-CDU dürften insgeheim eine Zusammenarbeit mit der AfD befürworten. Höcke selbst hat zwar keinen AfD-Posten auf Bundesebene, wohl aber das Selbstbild eines „Führers“.
Die Verhältnisse sind eben in Deutschland mittlerweile nicht mehr anders als in anderen europäischen Staaten, wo Rechte reüssierten. Das hat Daniel Mullis vom Peace Research Institute persönlich erfahren. Damals, zu Beginn der 2010er-Jahre, als er von Bern nach Frankfurt am Main zum Studieren gezogen war, hatte er noch eine ganz andere Stimmung wahrgenommen als in seinem Heimatland, wo rechtsaußen die Schweizerische Volkspartei einheizte. Dann aber wuchsen vom Winter 2015 an, so Mullis, in Deutschland die Ressentiments gegen Zuwanderung. Und auch in der Mitte begannen sich die Narrative zu verschieben, „etwas Rohes kam zum Vorschein“. Die AfD wurde zum politischen Faktor, zum „Change Agent“ für eine „Regression der Mitte“, vulgo für den Rechtsruck.
Es schließen eben derzeit in der Gesellschaft nicht mehr viele an jene Fragen an, die für die Kinder der NS-Tätergeneration in den 1960er-Jahren typisch waren: „Warum habt ihr es nicht verhindert?“ Seit 2014 sei wieder eine Partei in die Parlamente eingezogen, die die freiheitliche rechtsstaatliche Demokratie beseitigen wolle, erzürnt sich der Rechtswissenschaftler Hendrik Cremer. Ein Ende dieser Radikalisierung sei nicht abzusehen, das werde in der Öffentlichkeit nicht richtig abgebildet: „Die Partei wird verharmlost, indem sie etwa als ,rechtspopulistisch‘ bezeichnet wird.“ Ihr Streben nach Gewalt aber werde ausgespart. Bewusst wurde das vielen Deutschen erst, als Kontakte von Politikern der AfD und der Werteunion zum österreichischen Rechtsradikalen Martin Sellner bekannt wurden. Der Mann gab Fantasien über „Remigration“ der Zugewanderten bei einem Geheimtreffen in Potsdam konkrete Gestalt.
Man spricht heute in solchen Zirkeln nicht mehr über „Rasse“, sondern über „Kultur“, die es zu verteidigen gelte. Und die AfD erscheint dabei als Selbstverharmloser, als „Opfer“ eines angeblichen links-grünen Meinungskartells (dabei hat man längst die Lufthoheit über die virtuellen Stammtische von Tiktok). Von einer „gravierenden Enthemmung“, schreibt Cremer: „Käme die AfD an die Macht, wäre niemand mehr in diesem Land sicher.“ Es sind solche Ängste, die viele Stadtbürger in den vergangenen Wochen demonstrieren ließ.
Was aber ist aus dem Freiheitsschwung der ostdeutschen Revolution von 1989 geworden, aus der Einheits-Hoffnung auf eine friedliche, prosperierende Gesellschaft? Vor allem eine Zone, in der die im Westen der Republik ersonnene, auch finanzierte AfD so richtig floriert? Viele wollten, dass es ihnen nach der Wende besser gehe, und hätten sich dann verirrt im Glauben daran, es würde helfen, anderen weniger zu gönnen, analysiert Susan Arndt: „Am leichtesten ist es immer noch, denen alles wegzunehmen, die ohnehin schon wenig haben – so macht es die AfD.“ Ohne die Wählerstimmen derer, die diese Partei betrüge, sei sie ein Nichts. Deswegen schüre sie, Vampiren gleich, den Schmerz.
Höcke als Dracula, das ist vielleicht doch überzeichnet. Andererseits aber sind solche Horrorvisionen Folge eines Virus namens Angst. Die Visionen der AfD würden sie ängstigen, bekennt Arndt: Frauen an den Herd, Schwarze/Muslime/Juden raus aus dem Land, Ende des Asylrechts, Behinderte ausgegrenzt, Armut eskaliert, das alles listet sie als ZieleZielprojektionen der Höcke-Partei auf. Noch beängstigender aber sei, schreibt die Literaturprofessorin, „dass sich die AfD darauf versteht, populistische Nebelkerzen so zu werfen, dass viel zu viele dennoch keine Angst vor ihr haben.“ Deshalb macht sie sich Mut: „Ich bin ostdeutsch und gegen die AfD.“ Die Nach-Wende-Wut in der einstigen DDR habe der Rechtsaußenpartei zwar einen besonderen Resonanzraum verschafft, sie sei aber kein ostdeutscher Sonderweg. Das stimmt: Acht Millionen Deutsche sind bereit, die AfD zu wählen, und sie alle eint die Furcht vor dem ökonomischen Absturz – die größer ist als die vor der Klimakatastrophe, gegen die Grünen mit Heizungsgesetz und anderem angehen.
Es ist der allgemeine Rechtsruck in Ost und West, der die Verfasser dieser vier AfD-Bücher schreckt, der „radikalisierte Konservativismus“ (Natascha Strobl). Die Grenzüberschreitungen und Provokationen der AfD hätten den Raum des Sag- und Denkbaren nach rechts geöffnet, so die Autoren. Diese Verschiebungen haben auch sie selbst radikalisiert und hart werden lassen in ihren Urteilen. Der Gedanke, es könne eine womöglich berechtigte Kritik an der praktizierten Integrationspolitik geben, taucht erst gar nicht auf. Der Feind steht hier rechts, und er ist gegen alles, was „woke“ ist. Überraschende Enthüllungen aber werden dabei nicht geboten.
Was bleibt, ist weniger die Frage, ob die AfD oder einzelne AfD-Politiker verfassungsrechtlich zu stoppen seien. Es geht um Erklärungen des Unerklärbaren, um Analysen der sozialen Dynamik, um Aufklärung über eine Partei, die sich mit gewieften Anwälten gegen die Einstufung als „extremistischen Verdachtsanfall“ zu wehren weiß und die in immer neuen Kungelrunden für ihren Wahn vom Vaterland arbeiten. Dagegen formiert sich Widerstand. „Wir sind viele“, schreibt Susan Arndt. „Noch ist es nicht zu spät, doch die Zeit drängt“, assistiert Hendrik Cremer.
Das detaillierte Wissen in den vier Büchern wird jenen helfen, die beschlossen haben, nicht mehr zu schweigen. Eine ganz andere Sache ist die Einsamkeit des Wählers in seiner Kabine mit der Urne vor sich und den Parolen-Gebern aus Telegram oder „X“ hinter sich. Die AfD selbst, um die so leidenschaftlich gestritten wird, führt weiter das Kabinettstückchen auf, einerseits den Euro-Austritt zu predigen sowie Abgeordnete, die dem Nationalsozialismus huldigen, nicht ausschließen zu wollen, andererseits aber sich unentwegt als Regierungspartner der CDU in Erfurt und anderswo zu empfehlen, so als sei der Zugang zur Macht nur noch eine Frage von Monaten.
Nach Lektüre der vier Bücher kommt einem der leicht ketzerische Gedanke, dass im Vergleich zur AfD die Partei von Marine Le Pen in Frankreich doch mittlerweile wie ein besserer Heimatverein wirkt. Deutsche machen eben alles gründlich, auch den Rechtsradikalismus.