Frau Achleitner, als Wirtschaftsprofessorin, Multi-Aufsichtsrätin und Investorin haben Sie sich einen Namen gemacht. Gibt es ein Buch, das für Ihre Karriere entscheidend war? Das sie inspiriert hat?
Ann-Kristin Achleitner: Es gibt da nicht den einen Leitstern. Sicherlich aber hatte das Lesen und das Nachdenken über Bücher einen großen Einfluss auf mein berufliches Leben. So hat mich „Skin in the Game“ von Nassim Nicholas Taleb meine eigene Rolle als Professorin hinterfragen lassen. In der Folge habe ich begonnen, selbst in Start-ups zu investieren – statt nur an der Universität darüber zu forschen und zu lehren.
Sollte man von einem guten Buch erwarten, dass es so etwas wie ein Stolperstein fürs eigene Leben ist?
„Stolperstein“ klingt so negativ. Ich würde eher sagen, ein gutes Buch irritiert – im positiven Sinne. Es regt zur Reflexion an und inspiriert. Vielleicht ändert man daraufhin sogar sein Verhalten.
Bücher können einem so sehr ans Herz wachsen, dass sie große Bedeutung für die eigenen Entscheidungen haben?
Absolut. Bücher sprechen einen ja idealerweise nicht nur intellektuell an, sondern auch emotional. So entsteht Nähe zwischen dem Leser und seiner Lektüre. Je stärkeren Eindruck ein Buch auf mich macht, desto eher stelle ich mir auch neue Fragen. So war zum Beispiel ein Buch über das Manhattan-Projekt für mich so ein Schlüsselerlebnis, noch einmal anders über die Motivation und Verantwortung von Wissenschaftlern nachzudenken. Das ist auch für die heutige Diskussion über Künstliche Intelligenz wichtig.
Sie sind bekennende Vielleserin. Welche Genres interessieren Sie besonders?
Ich interessiere mich für Sachbücher genauso wie für Prosa – derzeit zum Beispiel „De Vriendt kehrt heim“ von Arnold Zweig aus den 1930er-Jahren. Das war der erste Roman über den Nahost-Konflikt. Natürlich lese ich aber viel, was für meinen Bereich in der Wirtschaft wichtig ist. Und da spielen jetzt auch gesellschaftliche Fragen, Politik und Wissenschaft immer mehr mit rein.
Kindle oder lieber das haptische Papiergefühl?
Am liebsten gedruckte Bücher. Ich nutze aber auch E-Books und Hörbücher. Wobei ich ein Buch wie „Factfulness“ zum Beispiel aufgrund der vielen Daten, die dort eine Rolle spielen, als Hörbuch nicht gut verarbeiten könnte.
Zum Kontext, den Sie ansprechen, gehört die Urlaubszeit. Sie ist gemeinhin Lesezeit. Wie ist das bei Ihnen?
In den Ferien habe ich mehr Ruhe und bin offener für neue Themen jenseits meiner beruflichen Schwerpunkte. Gerne lese ich dann Bücher sein, die von ihrem Anliegen her breiter sind oder aus einer ganz anderen Zeit oder Welt stammen. Diesen Sommer habe ich zum Beispiel eine Biografie über Kim Il-Sung dabei.
Tauschen Sie sich mit anderen über die Inhalte von Büchern aus?
Unbedingt. Jeder hat schließlich seine toten Winkel. Auf manche Bücher muss man überhaupt erst einmal gestoßen werden. Und auch danach tausche ich mich liebend gerne über Eindrücke und neue Erkenntnisse aus. Ich finde es jedenfalls schade, wenn der Prozess des Lesens mit dem Zuklappen des Buchs endet.
Aber sie haben keinen eigenen „Buchklub“ wie etwa die Startup-Unternehmerin Verena Pausder.
Nein, aber ich bin Teil mehrerer Zwei-Personen-Buchklubs, in denen wir Bücher parallel lesen. Da haben wir etwa über „Maniac“ von Benjamin Labatut viel geredet, das mich letzten Sommer sehr bewegt hat. Es dreht sich darum, wie der Mensch mit seinen technologischen Möglichkeiten umgeht und wo seine Verantwortung liegt. In meinem Umfeld gab es sehr unterschiedliche Reaktionen auf das Buch. Das war hochspannend.
Wenn es um solche Zukunftsfragen geht, könnte es helfen, sich mit Dystopien zu beschäftigen, etwa mit „Schöne neue Welt“ von Aldous Huxley aus dem Jahr 1932.
Das ist ein schönes Beispiel für ein Buch, das man in verschiedenen Lebensaltern und zu verschiedenen Zeitpunkten immer wieder neu entdecken kann. Bei Science-Fiction-Werken ist das teilweise ähnlich. Das Stichwort Dystopie bringt mich aber noch auf einen anderen Gedanken. Dort geht es ja um abschreckende Zukunftsvisionen. Und obwohl ich ein positiver und optimistischer Mensch bin, konfrontiere ich mich in der Tat bewusst auch mit diesen Schreckensszenarien. Ich lese deswegen aktuell auch viel über mögliche militärische Eskalationen oder einen nuklearen Krieg. Das ist eine Welt, die ich mir eigentlich nicht vorstellen möchte – vor der ich aber auch nicht die Augen verschließen kann.
Was sind aus Ihrer Sicht die Hauptvorteile, die man als Vielleserin oder Vielleser hat?
Man bleibt offen, neugierig, vertieft sich – und spricht dann auch mehr über die Themen: Dieser Prozess hat für mich einen Wert an sich. Was das Thema Wirtschaft angeht: Wir leben ja in einer Zeit enormen Wandels, den wir versuchen sollten, positiv zu beeinflussen. Dafür muss man den Kontext kennen. Bücher helfen dabei, aktuelle Entwicklungen besser einzuordnen. Aber auch tieferliegende Strukturen und Muster zu erkennen. Deshalb interessiere ich mich zum Beispiel auch sehr für Geschichte.
Lesen hilft immer, egal was?
Mir persönlich, ja.
Zum Beispiel in Sachen Sprachkompetenz?
Die Wissenschaft suggeriert das zumindest. Ich sehe das aber nicht so instrumentell. Mir gefällt am Lesen, dass man geistig rege bleibt. Wenn man darüber hinaus auch noch andere Kompetenzen stärkt, umso schöner.
Eine andere Hypothese besagt: Wer viel liest, ist kreativer.
Jemand hat mal gesagt, Lesen sei „Denken mit fremdem Gehirn“. Vielleicht könnte man auch sagen ein Zwiegespräch mit der Gedankenwelt eines anderen Menschen. Wenn diese Beweglichkeit die Kreativität kitzelt, ist da sicherlich etwas dran.
Wie konfrontativ darf ein solches Gespräch sein? Lesen Sie Bücher, bei denen Sie von vornherein wissen, die dargebotene Meinung garantiert nicht zu teilen?
Die lese ich erst recht. Zum Beispiel, wenn es um die Kritik an der Marktwirtschaft geht. Ich kann am Ende vielleicht zumindest verstanden haben, wie der andere denkt, auch wenn ich seine Ansichten nicht teile. In der akademischen Welt ist eine solche Herangehensweise durchaus üblich. Erst durch Reibung reifen außerdem neue Ideen. Wenn ich nur Bücher lesen würde, die meine eigene Meinung widerspiegeln, hätte ich Sorge, mich noch tiefer in einer Blase zu vergraben.
Na ja, beim Lesen antikapitalistischer Bücher könnten sich auch leichter Argumente fürs vorhandene Wirtschaftssystem formulieren lassen.
Viele Debatten auf der Sachebene scheitern meines Erachtens daran, dass sie Emotionen ausblenden und Zusammenhänge nicht sehen, wie die Dinge sich entwickelt haben. Das betrifft auch persönliche Entwicklungen. Wenn Sie zum Beispiel „Hillbilly Elegy“ von US-Vizepräsident J. D. Vance gelesen haben, ist das durchaus ein Schlüssel zu seinem Denken und seiner Politik.
Schon einmal die Nacht um die Ohren geschlagen, weil es so spannend war?
Viele Nächte sogar. Wenn das passiert, ist es für mich ein Qualitätsausweis.
Unternehmerpersönlichkeiten wie Bill Gates, Jeff Bezos oder Sam Altman stellen Listen auf mit Büchern, die man gelesen haben sollte. Richten Sie sich nach so etwas?
Ich lese diese Listen mehr aus Neugier. Aber sie sind für mich nicht maßgebend. Ich orientiere mich lieber an differenzierteren, längeren Buchbesprechungen. Davon könnten wir in der deutschsprachigen Presse gerne auch noch mehr haben. Nach einer Rezension im Wall Street Journal habe ich gerade zum Beispiel „The Man who would be King“ über Mohammed bin Salman gekauft, den saudi-arabischen Kronprinzen. In der jetzigen geopolitischen Lage ist es meines Erachtens wichtig, die Golf-Region besser zu verstehen.
Elon Musk sagt, Bücher hätten ihn mehr erzogen als seine Eltern. 100 Bücher würde er im Jahr lesen. Zu seinen Favoriten gehören „Die Kunst des Krieges“ von Sun Tsu oder „Der Herr der Ringe“ von J.R.R. Tolkien. Was sagt das aus über seine Persönlichkeit?
Vermutlich, dass er die intellektuelle Auseinandersetzung sucht. Und dass er offenbar Klassiker schätzt. Für die tiefe Auseinandersetzung mit einem Thema sind Klassiker oft von unschätzbarem Wert. Seneca hat diese Sichtweise auch schon früh vertreten – in seinen Diskussionen mit Lucilius darüber, was man lesen sollte.
Welche Wirtschafts-Klassiker sollten Ökonomen und Nicht-Ökonomen in diesem Sinne unbedingt gelesen haben?
Es gibt nichts, was ich religiös überhöhen würde.
Auch nicht „Wohlstand der Nationen“ von Adam Smith?
Ich habe mich in meiner Arbeit viel mit dem Konzept der Arbeitsteilung und auch der Funktionsweise von Märkten beschäftigt, den Urtext von Smith aber offen gestanden nie in Gänze gelesen. Insofern wäre eine Empfehlung wohl etwas anmaßend.
Warren Buffett preist „Intelligent investieren“ von Benjamin Graham aus dem Jahr 1949, das sei für sein Unternehmertum wichtig gewesen sei. Was braucht ein Buch, um in langer Linie relevant zu sein?
Der Autor muss das Wesen der Dinge verstanden haben. Mir ist es wichtig, dass mich einzelne Gedanken eines Buchs lange begleiten.
Ist „Lean In“ der Ex-Facebook-Managerin Sheryl Sandberg dafür ein Beispiel? Sie fordert Frauen auf, für bessere Jobs zu kämpfen. Auch Sie setzen sich sehr für Diversität in der Wirtschaft ein.
Für mich war die Auseinandersetzung der Politikwissenschaftlerin Anne-Marie Slaughter mit dem Thema prägender. Sie verweist vor allem auf die strukturellen Fragen, die wir mit Blick auf echte Gleichstellung anschauen müssen. Das hat eine sehr produktive Debatte angestoßen.
Muss man als Gründerin oder Gründer “From Zero to One“ von Peter Thiel gelesen haben?
Es hilft sicherlich, das unternehmerische Denken zu schärfen. Was nicht heißt, dass man sich auch alles zu eigen machen muss.
In Gesprächen mit Vorständen und Aufsichtsräten ist sehr oft zu hören, man sei froh, wenigstens die internen Papers zu lesen, die einem hingelegt werden. Und dann Bücher?
Es gibt eine Reihe von Managern, die hochinteressiert an Büchern sind. Deren Feedback schätze ich auch immer sehr. Im französischen Energiekonzern Engie hat mir ein Aufsichtsratskollege regelmäßig Bücher empfohlen, die zeigen sollten, wie Franzosen auf Deutschland blicken. Wirtschaft ist nach meiner Erfahrung jedenfalls keine kulturfreie Zone.
Werden auf dem C-Level-Niveau in der deutschen Wirtschaft wirklich so viel Bücher gelesen, wie es wünschenswert wäre?
Das Arbeitspensum ist dort schon enorm. Das ist das eigentliche Thema. Wenn Sie Tag und Nacht eingebunden sind, bleibt einfach wenig Zeit und Sie müssen selektiver und gezielter lesen.
Der Rat an die wirtschaftliche Elite wäre, sich mehr Freiraum fürs Bücherlesen zu suchen?
Oder auch den Freiraum, über gute Presseartikel zu reflektieren. Es müssen nicht immer nur Bücher sein. Bücher sind ja auch nicht selten die Verlängerung oder Vertiefung eines bereits publizierten Themas. „Bad Blood“ ist so ein Beispiel – über die betrügerischen Machenschaften des Medizin-Startups Theranos und seine Gründerin Elizabeth Holmes. Ich habe es sehr oft verschenkt – vor allem an Investoren.
Es entstand nach einer Artikelserie im „Wall Street Journal“ und beschreibt Gier im Silicon Valley.
Mich hat vor allem auch die Perspektive derjenigen interessiert, die als Opfer dort hineingeraten sind. Und wie die Dinge soweit kommen konnten.
Kann in Stressmomenten die App Blinkist helfen, die Bücher zusammenfasst für alle, die keine Zeit haben?
Wenn man den Anspruch hat, bloß eine Information mitzunehmen, kann das sehr gut sein. Für mich kann die App die Lektüre aber nicht ersetzen. Jeder hat nun mal andere Vorstellungen, was an einem Buch wichtig ist. Das kann niemand anderes für einen herausfinden.
Wie nehmen Sie insgesamt das Buchgeschäft in Deutschland wahr? Ein Zukunftsmarkt?
Das Buch hat die digitale Disruption überlebt. Vor 10,15 Jahren hätte das kaum jemand gedacht. Gleichzeitig sind die Kanäle vielfältiger geworden, über die wir Content beziehen können. Allen voran in den sozialen Medien. Und je nachdem welchen Zugang wir präferieren, landen wir in unterschiedlichen Blasen. Aus gesellschaftlicher Sicht stellt sich mir die Frage, wie wir die Diskursräume wieder stärker zusammenbringen können. Je attraktiver Bücher auch für junge Menschen sind – oder je durchlässiger der Buchmarkt, der Journalismus und die sozialen Medien sind –, desto eher finden wir vielleicht auch generationenübergreifend wieder eine gemeinsame Sprache.
Warum stellen Sie nicht einfach eine regelmäßige Leseliste für die heranwachsende Generation auf, mit der Sie es als Professorin täglich zu tun haben?
Ich will mich und meine Interessen da nicht zu wichtig nehmen. Das Leben ist vielschichtig – und jeder hat andere Interessen. Ich fände es aber gut, wenn in Hörsälen wieder mehr über Bücher diskutiert würde. In meinem Studium redeten wir zum Beispiel viel über „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ von Karl Popper. Das hat mich als junge Frau damals sehr beeindruckt – und prägt mich bis heute.