Verena Bahlsen hatte in sehr jungen Jahren vieles erreicht und bewirkt: eine Chefposition im Kekskonzern ihrer Familie, Innovationen im Marketing, den Beginn eines Kulturwandels – schließlich aber einen gigantischen Shitstorm. Grund waren Aussagen über die NS-Zeit von Bahlsen: „Wir haben die Zwangsarbeiter genauso bezahlt wie die Deutschen und sie gut behandelt.“ Ihre Firma habe sich nichts zuschulden kommen lassen, so die Vertreterin der vierten Generation.
Aber wie war das wirklich, damals vor mehr als 80 Jahren in Hannover? Das fragte sich auch die Familie. Sie bestellte eine wissenschaftliche Studie.
An diese Aufgabe machten sich die Historiker Hartmut Berghoff und Manfred Grieger. Ihre jetzt in einer Pressekonferenz vorgestellte Arbeit „Die Geschichte des Hauses Bahlsen“, ein Mammutwerk über „Keks-Krieg-Konsum“, gibt einen umfassenden Firmen-Überblick: über Genie und Wahnsinn, Aufstieg und Fall, Kabale und Liebe – und, derart ummantelt, über Bahlsen und den Nationalsozialismus. Die Arbeit fügt sich ein in eine Phalanx ähnlich gelagerter Geschichts-Aufarbeitungen, sei es über die Quandts, Reimann (Benckiser), Flick, Oetker, Sartorius, Boss oder zuletzt Joseph Mayer (Trigema).
Das wahre Bild bei Bahlsen ist viel weniger schmeichelhaft, als es Verena Bahlsen, 31, gemalt hatte. Viele Details aus der Unternehmensgeschichte seien nicht bekannt gewesen, erklärt sie selbst nunmehr zusammen mit ihren drei Geschwistern und den Eltern: „Wir haben als Familie die offensichtliche Frage, wie unser Unternehmen durch den Zweiten Weltkrieg hindurch bestehen konnte, nicht gestellt.“
Die Autoren finden dazu klare Worte: „Die allermeisten Familienunternehmen stellen sich unkritisch in ihre fortgeschriebenen Traditionen, was Beschönigungen und Blindflecken Vorschub leistet – Bahlsen steht stellvertretend für diese Entwicklung“. Die Geschichte während der NS-Zeit sei hier „entweder weitgehend ausgespart oder aber in selbstentlastender Weise verkehrt“ worden. In Wahrheit habe man nach Kräften mitgenommen, „was das NS-Regime anbot“.
So übernahm man zum Beispiel zwei von der Deutschen Bank „arisierte“ Grundstücke früherer jüdischer Eigentümer. Und entwickelte mit der Wehrmacht zusammen spezifische Soldaten-Kekse, durch Versuche mit Eiweiß, Soja und Hagebutten. Die Bahlsen-Forscher grenzten sich nicht von Überlegungen der SS ab, Keksen leistungssteigernde Substanzen beizumengen, erwähnt die Studie.
Zwangsarbeiter einzusetzen, habe der allgemeinen Praxis in der Wirtschaft entsprochen, so die Autoren. Und Bahlsen zog tatsächlich großen Nutzen aus den Hundertschaften von Polinnen und später Ukrainerinnen, die nach der Besetzung der osteuropäischen Länder im Stammwerk in Hannover schufteten. Sie waren mehr oder weniger auf Druck nach Deutschland gekommen, trugen Erkennungszeichen an der Kleidung und konnten ihre Arbeit nicht einfach aufkündigen: „Insofern war Bahlsen eindeutig Profiteur des nationalsozialistischen Zwangsarbeitssystems“, folgern Berghoff und Grieger über die „Ausplünderungspolitik“.
Der Einsatz von Ukrainerinnen hatte sich noch verstärkt, da Bahlsen zwischen Februar 1942 und August 1943 vom NS-Staat die Treuhandverwaltung über die einst einem jüdischen Unternehmer gehörende Keksfabrik „Karl Marx“ in Kiew übernommen hatte – ganz in der Hoffnung auf einen deutschen Sieg im Zweiten Weltkrieg und die eigene großeuropäische Expansion. Als im Kiewer Werk im Juni 1943 das jüdische Arbeiterehepaar Blankewitsch vom „Sicherheitsdienst des Reichsführers SS“ verhaftet wurde, vermerkte ein interner Bahlsen-Bericht lakonisch, „dass B. nicht zurückkommen werde“.
Was wusste man vom Holocaust? Und was ist mit der angeblich guten Behandlung der Frauen aus der Ukraine, wie von Verena Bahlsen einst annonciert? Nichts. Sie verdienten anfangs mit einem Netto-Stundenlohn von 0,12 Reichsmark sogar weniger als die Polinnen (0,18) und erst recht als die Deutschen (0,56). Steuern, Abgaben und Unterkunftskosten für die schnell errichteten Baracken drückten den Bruttolohn der Osteuropäerinnen gehörig nach unten. Patriarch Werner Bahlsen (1904 bis 1985) kümmerte sich – in Sorge um „passiven Widerstand“ der von ihm so genannten „primitiven Völker“ – immerhin darum, dass die Ukrainerinnen letztlich das Lohnniveau der Polinnen erreichten. Auch Straßenbahnfahrten und gute Sanitäranlagen machte er möglich.
Aber die Autoren der Bahlsen-Studie halten auch fest: Er habe, „entgegen seinen späteren Einlassungen, Wert auf eine unterschiedliche Bezahlung von Deutschen und Osteuropäerinnen gelegt“. Die Realität war bitter: Alles ließ man sich von den Zwangsarbeiterinnen bezahlen, etwa eine Großcharge von Holzschuhen, die man 1944 beim örtlichen Karstadt für 1492 Reichsmark erworben hatte. Im Juli 1945 verrechnete man den Betrag für die Arbeitsschuhe kurzerhand mit dem einbehaltenen Arbeitslohn. Kommentar der Historiker: „Das Unternehmen stellte über das Kriegsende hinaus in beschämender Kleinlichkeit seine eigenen finanziellen Interessen über die Lohnansprüche der zwangsweise zur Arbeit herangezogenen Männer und Frauen aus den besetzten Gebieten Polens und der Sowjetunion.“ Die Kritiker erwähnen aber auch, dass man bei Bahlsen keinen Hunger litt (Nahrung lag auf dem Fließband) und die Zwangsarbeiter besser lebten als etwa bei Continental und Hanomag in Hannover oder bei Rüstungsprojekten. Es ging im Keksimperium um maximale Leistung, um „ausbeutenden Pragmatismus“.
Vergeblich klagten 60 Polinnen und Ukrainerinnen im Jahr 2000 vor dem Landgericht Hannover vorenthaltenen Lohn ein – der Fall war verjährt. Bahlsen beteiligte sich anschließend an der Finanzierung der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“, die Entschädigungen auszahlte. Dieses Geld hätte das Unternehmen „vor allem als Schutz vor Regressforderungen ehemaliger Zwangsarbeiter“ betrachtet, heißt es in der Studie.
Unzweifelhaft ist, dass die Geschäfte der Bahlsens im Nationalsozialismus gewaltig anzogen – der Umsatz stieg zwischen 1933 und 1939 ums Neunfache. Später steuerten Aufträge der Wehrmacht für Kekse, Knäckebrot und Fruchtschnitten rund 35 Prozent zum Gesamtumsatz bei. Der eigene Betrieb war schnell Teil des NS-Systems geworden. Bahlsens Hauptberater Otto Bredt verkündete etwa, das SS-Prinzip „Treue um Treue“ verbinde die „Kameraden der Arbeit“ miteinander und schweiße Betriebsführer und Belegschaft zu einer „höheren Einheit“ zusammen. Hier verband sich die Idee der „Werksgemeinschaft“, die den dynamischen Gründer Hermann Bahlsen umtrieben hatte, mit der Ideologie der „Volksgemeinschaft“ der Nazis. Betriebliche Sozialleistungen wurden – nach einer gewissen Zurückhaltung in der Weimarer Republik – wieder hochgefahren. Zwischenzeitlich versuchte Bahlsen sogar, ein Foto mit Adolf Hitler, der auf seinem Berghof bei Berchtesgaden eine Kekspackung neben sich hatte, in der Werbung groß zu vermarkten. Gegen diese Form des NS-Kitsches schritt dann aber doch der Propagandaapparat von Joseph Goebbels ein.
Es sei dem „Führerkult und der eigenen Kekskultur gleichermaßen Referenz erweisen“ worden, bilanzieren die Studienverfasser Berghoff und Grieger. Die Familie Bahlsen habe das Produktivvermögen gesteigert und sei „Nutznießer der NS-Diktatur und der Kriegswirtschaft“ gewesen. Man habe geholfen, die „Regimeloyalität“ aufrechtzuerhalten: „Das machte sie nicht zu Komplizen der verbrecherischen NS-Diktatur, aber zu dessen tatkräftigen Gehilfen.“ Und man hatte ja, geschäftlich, Erfahrung als Heereslieferant im Ersten Weltkrieg.
Nach 1945 hat das Unternehmen Bahlsen rasch den Anschluss an veränderte Verhältnisse geschafft. Dass die Gesellschafter Hans, Werner und Klaus Bahlsen zeitweilig in der NSDAP waren und die SS kräftig gefördert hatten, spielte keine Rolle. Man entledigte sich einer anrüchigen Vergangenheit im Handumdrehen. Der hochbelastete einstige SS-Wissenschaftler Kurt Hess wurde auf die Payroll genommen. Skrupel? Fehlanzeige.
Da die Bahlsens schon immer oft ins Vereinigte Königreich und in die Vereinigten Staaten gereist waren, um sich Anregungen zu holen (aus „cakes“ wurde „Keks“), fiel die Verständigung mit den britischen Alliierten ausgesprochen leicht. Nahrungsmittel wurden dringend benötigt, Rohmaterialen hatte man gehortet, Pläne für einen Wiederaufbau gemacht – und vom NS-Staat in letzter Minute noch 1,5 Millionen Reichsmark Entschädigung für Fliegerschäden überwiesen bekommen. „Wir dürfen zufrieden sein, aber wir wollen uns nicht zufriedengeben“, lautete die interne Parole.
Dieses Credo wirkte: Nach 1953 partizipierte Bahlsen überproportional am Wachstum des Wirtschaftswunderlandes und wurde zum Exportgiganten, trotz immer wieder auftretender Machtkämpfe der drei Familienstämme. Wenn es wegen der immerfort großen Investitionslust finanziell mal wieder eng wurde, verzichtete man auf Ausschüttungen. So wurde Bahlsen ein wichtiger Teil des gesellschaftlichen Lebens. Unter intensiver Mitwirkung des einflussreichen Vorstandsmitglieds Kurt Pentzlin entstand zum Beispiel die „Wirtschaftspolitische Gesellschaft von 1947“ (Wipog), die 1949 die „Frankfurter Allgemeine“ anschob, auch dank Krediten von 21 interessierten Firmen. Berghoff/Krieger: „Es steht zu vermuten, dass Bahlsen das Darlehen mittrug.“
Der autoritäre Patriarchalismus der Familie hatte noch einige Zeit Erfolg – bis sich in den 1970er-Jahren der Zeitgeist drehte, Politik nach links wanderte, Markentreue weniger galt, internationale Multis vorpreschten und große Handelskonzerne aufkamen. Da half es auch wenig, dass Christdemokrat Werner Bahlsen das aufstrebende CDU-Talent Ernst Albrecht als Konzern-Finanzchef einige Jahre parkte – mit der Erlaubnis, ein Drittel der Arbeitszeit für die Landespolitik aufzuwenden. „Nur so ist es möglich, dass wir in Zukunft Gesetze bekommen, die auch der praktischen Wirtschaft, dem praktischen Leben entsprechen“, erklärte der Patriarch, der auf diese Weise 1976 den Aufstieg Albrechts zum niedersächsischen Ministerpräsidenten förderte.
Die Firmen-Dynastie konnten seine Söhne nicht mehr zusammenhalten: 1999 übernahm Werner Michael das Keks-Business („Bahlsen süß“), der ältere Bruder Lorenz hingegen das Snack-Geschäft („Bahlsen salzig“). Dieses Schisma beleuchtet die detailreche Firmenbiographie nicht mehr, sie beschränkt sich auf die Zeit der ersten und zweiten Generation. Bahlsen habe sich durch eine hohe politische Flexibilität ausgezeichnet, fassen Berghoff und Grieger hierüber zusammen: „Mit einer bemerkenswerten Anpassungsfähigkeit“ habe das 1889 gegründete Unternehmen im Kaiserreich, in der Weimarer und Bonner Republik ebenso wie im Nationalsozialismus agiert, „ohne sich in besonderer Weise exponieren oder grundsätzlich verändern zu müssen.“
Anders gesagt: Ein allgegenwärtiger Opportunismus sicherte das Unternehmen ab. Ethisch war man jedoch nicht so rein, wie es nach außen wirkte oder wirken sollte.
Für ihre NS-Äußerungen hat sich Verena Bahlsen schon vor Jahren entschuldigt: Nichts liege ihr ferner, „als den Nationalsozialismus und seine Folgen zu verharmlosen“. Mit Blick auf die „akribische Arbeit“ der Forscher erklärt die emotional sichtlich angefasste Familie aktuell: „Unsere Vorfahren und die damals handelnden Akteure haben sich in der NS-Zeit das System zu Nutze gemacht. Ihr Hauptantrieb schien darin zu bestehen, die Firma auch im NS-Regime weiterzuführen, was schlimme Konsequenzen hatte. Menschen wurde Leid angetan, vor allem den über 800 Zwangsarbeitenden in den Jahren 1940 bis 1945. Das ist unentschuldbar.“
Die Wahrheit sei „unbequem und schmerzhaft“, stellt die Familie weiter fest: „Wie bedauern das Unrecht.“ Geschichte könne man nicht ändern, „aber wir haben Einfluss auf unsere Zukunft“. Die wichtigste Erkenntnis sei, „dass wir eine Verpflichtung haben, dazu beizutragen, dass sich Ähnliches jetzt und in der Zukunft nicht wiederholt“. Die Bahlsens positionieren sich „klar gegen Hass, Fremdenfeindlichkeit und anti-demokratische Tendenzen“. Im Unternehmen und im Umfeld wolle man „Erinnerungskultur“ fördern. Zum Thema Zwangsarbeit gibt es jetzt im Unternehmen eine weiterführende Ausstellung.
Verena Bahlsen habe sich 2019 „in voller Übereinstimmung mit der von der Familie gepflegten historischen Wahrheit geglaubt“, resümieren Berghoff und Grieger. Im Klartext: Die Groß-Gesellschafterin (Anteil: 25 Prozent) war einfach der eigenen Geschichtsschreibung aufgesessen, den konstruierten Narrativen, den PR-Märchen. So hatte Hans Bahlsen – Bruder ihres Großvaters Werner – 1949 erzählt, während der ganzen Kriegszeit hätten sich mit den ausländischen Arbeitern „keinerlei Schwierigkeiten und Reibungen ergeben, da die Leute auf freiwilliger Basis arbeiteten und vollen Lohn und Verpflegung wie die Zivilarbeiter bekamen“. Eine Schrift zum 75. Firmengeburtstag verbreitete 1964 solch plumpes Eigenlob und präsentierte lächelnde ukrainische Arbeiterinnen.
Jetzt weiß es die Welt besser: Ende Legende.